Teil 3

Gibt es eine Wirtschaftskrise in China?

| 18. März 2025
@midjourney

China führt seine Wirtschaft auf den Pfad einer innovationsbasierten Entwicklung. Doch Probleme wie die demographische Entwicklung, eine hohe Jugendarbeitslosigkeit und deflationäre Tendenzen muss Peking lösen.

Das Tempo des chinesischen Wirtschaftswachstums verlangsamt sich und für die Zukunft wird ein weiterer Rückgang der Wachstumsraten prognostiziert. Als „Werkstatt der Welt“ erreichte China bei noch schnell wachsender Bevölkerung bis in die 2000er Jahre hinein Wachstumsraten um die 10 Prozent. Jetzt werden etwa 5 Prozent erwartet. Ist das ein Krisensymptom, wie manche Analysten meinen?

Quelle: Statista

Der Rückgang ist auf zwei Ursachen zurückzuführen. Erstens gibt es kein Bevölkerungswachstum mehr – das ist beabsichtigt und wurde mit der Ein-Kind-Politik angestrebt. In den 1980er und 1990er Jahren wuchs die Zahl der Berufseinsteiger. Daher mussten Jahr für Jahr zusätzliche Arbeitsplätze und Erwerbsmöglichkeiten geschaffen werden und die Zahl der Erwerbstätigen musste steigen. Die offizielle Statistik der chinesischen Regierung zeigt, dass die Zahl der Personen im erwerbsfähigen Alter (16–59 Jahre) um das Jahr 2012 herum ihren Höhepunkt erreichte und seither tendenziell abnimmt – zunächst langsam, dann schneller.

Daraus folgt logisch eine Abnahme der geleisteten Arbeitsstunden, die allerdings statistisch nicht als Gesamtgröße erfasst werden (es gibt nur Daten für einzelne Bereiche). Diese extensive Wachstumskomponente entfällt seit 2012 und wird auch in den kommenden Jahren einen negativen Impuls auf das BIP-Wachstum haben.

Diesen Rückgang muss die intensive Wachstumskomponente kompensieren – heißt: steigende Produktivität durch Innovationen, neue Produkte und neue Verfahren. Das derzeit angestrebte und auch erreichte Wachstum zwischen 4 und 5 Prozent bei sinkender Arbeitsmenge ist allein auf eine steigende Arbeitsproduktivität zurückzuführen. Beim Verbrauch von Rohstoffen und Energie sind aber weiterhin extensive Prozesse festzustellen. Zwar sinkt der Verbrauch an Energie und stofflichen Ressourcen pro Wertschöpfungseinheit. Aber erst, wenn die Ressourceneffizienz schneller steigt als der Produktionsausstoß wäre ein absoluter Rückgang des Verbrauchs solcher Ressourcen möglich.

Dies kann durch die Umstellung auf offene oder geschlossene Stoffkreisläufe, höhere Recyclingraten und den Übergang zu erneuerbaren Energiesystemen erreicht werden. China ist hier auf guten Wegen, aber es wird noch mehr als zwei Jahrzehnte dauern, bis eine weitgehende, in einigen Bereichen sogar vollständig auf erneuerbare Ressourcen aufbauende Entwicklung erreicht ist.

Der Rückgang der Wachstumsraten hat also zwei gewollte Ursachen. Erstens das gewollt rückläufige Bevölkerungswachstum und zweitens die Umstellung von einem extensiven auf ein intensives Regime wirtschaftlicher Entwicklung. Derzeit wächst der Ressourcenverbrauch in einigen Bereichen schon langsamer als das BIP, aber er wächst noch.

Bei einem künftig angestrebten absolut sinkenden Ressourcenverbrauch (Rohstoffe, Energie, Abprodukte) und sinkenden Arbeitsmengen wird es weiterhin wirtschaftliche Entwicklung geben: neue, bessere Produkte und Verfahren, neue Konsumbereiche, zum Beispiel bei Bildung und Kultur. Aber diese Entwicklung wird nicht in höheren physischen Mengen erscheinen. Mit anderen Worten: Der Wert (die Preissumme) des qualitativ veränderten Outputs (des BIP) könnte auch dann weiter steigen, wenn die neuen, besseren Produkte höhere Preise haben – relativ zu den Waren, die sie ersetzen und verdrängen.

Wirtschaftliche Entwicklung ohne physisches Wachstum und auch ohne ein Wachstum des BIP – sprich, mit sinkendem Aufwand an Arbeit und auch einem sinkenden Aufwand an Naturressourcen, Rohstoffen, Energie und Abprodukten – könnte eine künftige Tendenz in allen entwickelten Industrienationen werden. Sinkende Wachstumszahlen sind kein Ausdruck von Krisen, wenn sie auf Bevölkerungsrückgang oder den Übergang zu einem intensiven Regime wirtschaftlicher Entwicklung zurückzuführen sind. Vielleicht wird China hier Vorreiter.

Daneben gibt es eine davon unabhängige konjunkturelle Komponente. Sie ist beispielsweise an dem Einbruch zu erkennen, der durch die Corona-Pandemie 2020 bis 2022 ausgelöst wurde. Die in Teil 1 beschriebenen Maßnahmen Pekings gegen die Blasen im Immobiliensektor haben zu einem Einbruch der Bautätigkeit geführt. Zwar wird diese in den kommenden Jahren wieder zunehmen, sollte aber nicht die Größenordnung vor der Immobilienkrise erreichen. Auch die im Folgenden darzustellende Jugendarbeitslosigkeit und die schwache Konsumnachfrage haben einen negativen Einfluss auf die Wachstumsrate.

Demographische Herausforderungen

Die rückläufigen Geburtenraten und die veränderte Alterspyramide (die jüngeren Jahrgänge sind schwächer als die älteren) findet man in allen modernen Gesellschaften. Sie sind in China durch die Ein-Kind-Politik komprimiert, das heißt, der Übergang von starkem Wachstum (noch in den 1970er Jahren gab es etwa 5,5 Kinder pro Familie bzw. Frau, in den 1980er Jahren noch etwas über 2) zu einer schrumpfenden Bevölkerung (Geburtenraten nur 1,2 Kinder je Frau in den Jahren 2022/2023) erfolgte in vergleichsweise kurzer Zeit. Dieser politische Eingriff in die Demographie ist inzwischen beendet, die rückläufige Geburtenrate ist heute wie in anderen Ländern Ausdruck wachsenden Wohlstands und veränderter Lebenswelten.

Chinesische Experten hoffen, dass mit Fördermaßnahmen ein begrenzter Anstieg der Geburten möglich wird. Eine chinesische Studie (YuWa Population Research) prognostiziert etwa, dass bei umfangreichen Anreizen die Fertilitätsrate auf etwa 1,4 angehoben werden könnte, wodurch bis 2030 wieder über 10 Millionen Geburten jährlich möglich würden. Um dies zu erreichen, werden Maßnahmen diskutiert wie finanzielle Prämien, längerer Elternurlaub, bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie oder Unterstützung bei Wohneigentum für Familien.

Der Rückgang der Geburtenraten hat positive ökologische Wirkungen, freilich erst in der Zukunft; eine stark wachsende Bevölkerung wäre in der Welt von heute keine vernünftige Strategie. Eine problematische Folge des Rückgangs ist aber, dass für eine hohe Zahl von alten Frauen und Männern eine sinkende Zahl von jungen Erwerbstätigen aufkommen muss. Mit einem wachsenden Anteil älterer Menschen (65 Jahre und älter) steigt der Finanzierungsbedarf für Renten. Da die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter schrumpft, zahlen immer weniger Beitragszahler für immer mehr Rentner, ein auch aus Deutschland bekanntes Problem. Ältere Menschen benötigen tendenziell mehr medizinische und pflegerische Leistungen. In vielen Regionen (besonders auf dem Land) fehlen ausreichend Pflegeeinrichtungen und qualifiziertes Personal. Die Kosten für die Gesundheits- und Altersversorgung dürften kräftig steigen, was den Staatshaushalt zusätzlich unter Druck setzt.

Diese demographischen Veränderungen erfordern Umstellungen im Rentensystem, im Staatshaushalt und den Kommunalfinanzen. Das wäre kein gravierendes Problem, solange die Produktivität und die Durchschnittseinkommen schneller steigen als die Zahl der Rentenempfänger. Die folgenden Grafiken zeigen eine deutlich positive Reallohnentwicklung.

Quelle: Statista
Quelle: Statista

Das Wachstum der Reallöhne war im Mittel etwas geringer als das Wachstum der Arbeitsproduktivität, bei einer Inflationsrate unter 3 Prozent. Die Nominallohnentwicklung entspricht mittelfristig der goldenen Lohnregel. Unter diesen Voraussetzungen wäre eine leichte Verschiebung der Einkommen von den Erwerbstätigen zu den Rentnern zu verkraften. Die Nettolöhne würden weiter steigen, aber etwas weniger als die Produktivität: Die Sozialabgaben müssten etwas mehr steigen, um die wachsende Zahl von Rentnern bei leicht steigenden Renten zu finanzieren.

Dieser Umverteilungsbedarf kann aber nur bei steigender Produktivität und steigenden Brutto- und Netto-Erwerbseinkommen aufgebracht werden, wenn Krisen und Widerstand der Bevölkerung vermieden werden sollen. Ein solcher Übergang ist machbar, aber es kann einiges schief gehen, da gleichzeitig auch die Finanzierung der Kommunen neugestaltet werden muss (siehe Teil I). Die chinesische KP und die Regierung müssen sehr bedacht vorgehen und dafür sorgen, dass es keine größeren Verlierergruppen gibt und ein breiter Konsens in der Bevölkerung erhalten bleibt.

Jugendarbeitslosigkeit

Eigentlich sollte man meinen, dass sinkende Geburtenraten zu einem Arbeitskräftemangel führen, denn inzwischen erreichen die schwächeren 1990er und 2000er Jahrgänge das Erwerbsalter. Das kann in der Zukunft auch noch eintreten, aber derzeit ist die Jugendarbeitslosigkeit sehr hoch und seit 2018 auf fast 17 Prozent (Männer) bzw. 14 Prozent (Frauen) in der Spitze gestiegen.

Quelle: Statista

Was ist die Ursache? Von strukturellen Problemen, COVID-19 und der schleppenden Erholung nach der Pandemie ist ebenso die Rede wie von den Handelskonflikten mit dem Westen. Aber ebenso lähmend für das Wirtschaftswachstum und die Beschäftigungsaussichten vieler junger Menschen waren die beschriebenen politischen Maßnahmen gegen die Blasen im Immobiliensektor, die einen deutlichen Rückgang der Beschäftigung im Bausektor zur Folge hatten.

Zudem verloren Hochschulabsolventen Beschäftigungsperspektiven durch Eingriffe der Regierung in den privaten Bildungssektor. In China gab es eine Vielzahl von Online-Nachhilfeplattformen und kommerziellen Bildungsunternehmen. Im Jahr 2019 waren schätzungsweise zehn Millionen Menschen in Chinas privatem Nachhilfesektor beschäftigt, viele von ihnen mit Hochschulabschluss. Doch nun will die chinesische Regierung profitorientierte Nachhilfe überhaupt nicht mehr zulassen, was die Industrie dazu zwingt, sich zukünftig komplett neu zu erfinden.

Rund zwölf Millionen Studentinnen und Studenten haben in diesem Sommer in China ihren Abschluss gemacht – ein Rekord. Ihr Zeugnis ist aber eben kein Ticket für einen guten Job. Sie alle fluten den Arbeitsmarkt, viele finden aber keine Arbeit, obwohl sie gut ausgebildet sind. Nur knapp die Hälfte von ihnen hatte im Frühjahr ein Jobangebot.

Auch Mismatch spielt eine gewisse Rolle. „Handwerkliche oder technische Fähigkeiten sind oft sehr gefragt, aber diese Berufsfelder und Jobs werden als weniger erstrebenswert angesehen“, sagte Nicole Goldin von der Denkfabrik Atlantic Council in Washington. Zum Beispiel gibt es immer mehr Geisteswissenschaftler – eigentlich bräuchte es aber Spezialisten in anderen Bereichen.

Die Jugendarbeitslosigkeit ist ein so dringendes Problem, dass Präsident Xi Jinping sie zur „höchsten Priorität“ erklärt hat. In einer Rede vor dem Politbüro der Kommunistischen Partei Chinas im Mai hatte Xi speziell die Hochschulabsolventen erwähnt: für sie müssten „mehr Arbeitsplätze geschaffen werden, damit sie das anwenden können, was sie gelernt haben und worin sie sich auskennen“.

Wer Arbeit findet, für den reicht das Gehalt trotz der steigenden Löhne kaum zum Leben. In Großstädten wie Schanghai und Peking verdienen Berufseinsteiger mit Hochschulabschluss im Monat gerade mal umgerechnet rund 670 Euro. Der Großteil davon geht für Miete drauf. Etwa 360 Euro muss eine Person in Schanghai im Durchschnitt pro Monat dafür aufwenden, wie aus den Zahlen der chinesischen Investmentbank Guotai Junan Securities von 2019 hervorgeht. Wer sich das nicht leisten kann, lebt noch bei den Eltern.

Viele Absolventen müssen sich mit weniger qualifizierten Jobs und damit auch weniger Gehalt zufriedengeben. Ein junger Mann, der dieses Jahr seinen College-Abschluss gemacht hat, erzählte dem China Observer, er habe seitdem Hunderte von Bewerbungen verschickt und unzählige Vorstellungsgespräche absolviert – alle erfolglos. Heute liefere er Lebensmittel aus.

„Ich dachte, der Abschluss bedeutet ein Diplom, stattdessen fühlte es sich an wie ein Arbeitslosenzertifikat. Jetzt bin ich verzweifelt auf der Suche nach einem Job. Und meine Eltern drängen mich ständig, Arbeit zu finden. Ich habe mich für die Lebensmittellieferung entschieden, um meinen Stress vorübergehend abzubauen.“

Schwache Konsumnachfrage, hohe Sparquoten, Tendenz zur Deflation

Die Chinesen sparen insgesamt immer mehr. Die privaten Haushalte haben laut Zahlen der Chinesischen Volksbank auf ihren Konten bis Juni 18,6 Billionen Euro angehäuft – ein Rekordwert. Lange Zeit dominierten Immobilien die Geldanlage privater Haushalte. Seit Kauf und Pacht von Immobilien strenger reguliert und eingeschränkt wurden, ist Gold als Anlage im Trend. „Wir haben festgestellt, dass die Haushalte, vor allem die jüngeren, versuchen, mehr Liquidität zu halten. Das bedeutet, dass sie mehr Bargeld halten wollen, anstatt zu konsumieren“, sagt die Chefvolkswirtin der Hang Seng Bank, Wang Dan, bei CNA.

Das ist ein Novum, denn in den vergangenen 45 Jahren seit den Öffnungsreformen neigten die Menschen dazu, mehr zu konsumieren. Gleichwohl hat die hohe Sparquote und die dadurch verringerte Konsumnachfrage deflationäre Tendenzen zur Folge. Im Januar 2024 sind die Verbraucherpreise stark gesunken, der Rückgang war der höchste, den China seit der Weltwirtschaftskrise 2009 verzeichnet hat.

Krisen sind möglich – aber werden Chinas Entwicklung nicht stoppen

Die geringeren Wachstumsraten, die Jugendarbeitslosigkeit und die Deflation beeinträchtigen Chinas wirtschaftliche Entwicklung, sie sind aber keine ausgewachsenen Wirtschaftskrisen. Vielmehr bedarf es einer zielgenauen und vor allem schnelleren Regelung. Der zentrale Trend zu einer innovationsbasierten wirtschaftlichen Entwicklung ist dadurch nicht gefährdet. Dies zeigt die Entwicklung von Huawei, DJI, Deep Seek und anderen High-Tech Unternehmen. China ist bei der KI inzwischen auf ähnlichem Niveau wie die USA. Es hat bekanntlich bemerkenswerte Ergebnisse im Bereich der Elektromobilität erzielt.

Bei Hochgeschwindigkeitszügen ist China neben Japan technologisch an der Spitze. Der Umfang des entsprechenden Schienennetzes ist gewaltig und eines der längsten und am stärksten genutzten der Welt. Ende 2022 umfasste es über 42.000 Kilometer, bis 2035 sollen es etwa 70.000 Kilometer werden.

Auch in den erneuerbaren Energien ist China technologisch und hinsichtlich der Produktionskapazität führend und wird vermutlich 2025 den Übergang zu sinkenden CO2-Emmissionen schaffen. Es hat bei dieser äußert wichtigen Zukunftstechnologie (Solar- und Windenergie) inzwischen eine stabile Exportbeziehung zum globalen Süden. Im Hinblick auf den ökologischen Umbau und die Ökozivilisation auf dem Lande konnte China deutliche Fortschritte erzielen. Die Umstellung auf eine binnenmarktbasierte Entwicklung ist hingegen noch nicht hinreichend.

China senkt seine Exporte in die USA und verringert den Bestand an US-Staatsanleihen, während gleichzeitig der Export in Schwellenländer ausgebaut wird (siehe die folgende Abbildung). Das entspricht den Intentionen der Belt&Road-Initiative. Was auch bedeutet, dass die bestehenden und vielleicht noch zu erwartenden Sanktionen und Zölle aus den USA und der EU eine abnehmende Wirkung haben.

Der eingeleitete Pfadwechsel ist mit Herausforderungen und Problemen verbunden. Diese können bei schlechtem Management der Kommunen, der Regionen und der Zentrale durchaus zu Krisen führen. Aber es gibt keinen Grund anzunehmen, dass die wirtschaftliche Entwicklung insgesamt ins Stocken kommt.

Wirtschaftliche Entwicklung ist kein Nullsummenspiel. Chinas Aufstieg gefährdet nicht zwangsläufig die wirtschaftliche Entwicklung anderer Länder, weder der westlichen Industrieländer noch die anderer Schwellen- oder Entwicklungsländer, wie manche Experten glauben. Bei einer innovationsbasierten Entwicklung können alle Partner ihre Produktivität und ihre Einkommen steigern. Anders formuliert: Während der Kampf um Wettbewerbsfähigkeit ein Kampf mit Gewinner und Verlierern ist, kann wirtschaftliche Entwicklung – wie Jeffrey Sachs auf dem All-in Summt 2024 betonte (ab Minute 23:00) – kooperativ und zum Nutzen aller Beteiligten gestaltet werden.