Mietmisere zeigt – wir haben das falsche Wirtschaftsmodell
Eine exportorientierte Wirtschaftspolitik gilt als Erfolgsmodell. Doch ist das wirklich so? Machen wir die Probe vor Ort.
Wirtschaft beginnt vor der Haustür. In unserem Fall vor der Kronenstrasse 12 in Adliswil bei Zürich. Im Umkreis von 300 Metern finden wir: Drei Supermärkte, Migros, Coop und Denner, ein Türken - und ein Thai-Laden, sieben Ärzte und Zahnärzte, die Gemeindeverwaltung, vier Coiffeur-Salons, einen Polizeiposten, ein Fitnesszentrum, ein Altersheim, drei Bankfilialen, acht Restaurants und Cafés, drei Betriebe des Baugewerbes, einen Schuhmacher, einen Veloladen – und eben hat noch der Briefträger geklingelt. Alle diese Leute und Betriebe leben von der Kaufkraft der Anwohner. Und deren Lebensqualität wiederum hängt von diesen Betrieben ab. Ein Geben und Nehmen. Der Franken rollt. Noch.
Noch etwas fällt auf: Adliswil wird rentabilisiert. Überall sieht man Baukrane, Bauprofile, es wird umgebaut, abgerissen, aufgestockt. Zwei ältere Einfamilienhäuser und vier größere Wohnblöcke (drei davon noch nicht einmal 50 Jahre alt) sind schon leergeräumt, die Fenster blank, die Mieter raus. Die Liegenschaften warten auf die Baukolonnen, die zurzeit noch anderswo beschäftigt sind oder erst noch im Ausland angeworben werden müssen. Alles im Umkreis von nur 300 Metern, Stand heute. Viel Platz zum Bauen ist nicht mehr, aber punkto Höhe und Dichte werden immer neue Reserve erschlossen. Wir wohnen Block an Block und wir verbringen immer mehr Zeit auf den Straßen und im Stau.
Adliswil grenzt direkt an Zürich und gehört damit zur „Greater Zurich Area“, die schon Firmen wie Google, Meta, oder KI-Pioniere wie Anthropic angezogen hat und von den Standort-Förderern als „kompaktes Tech-Powerhouse“ angepriesen wird. Das wirkt sich auch auf die Kaufkraft aus. Das Reineinkommen (Nettoeinkommen minus zusätzliche Abzüge wie Krankheitskosten oder gemeinnützige Zuwendungen) eines durchschnittlichen gemeinsamen veranlagten Mehrpersonenhaushalts liegt bei rund 10.000 Franken monatlich. Das reichste Zehntel kassiert sogar 19.000 Franken oder mehr. Und das kommt in erster Linie davon, dass das „kompakte Powerhouse“ und deren Finanz- und Steuerberater und Immobilienvermittler sehr viel Geld verdienen.
Rentabilisierung im großen Stil
Entsprechend teuer sind die Wohnungen. Eine Suchabfrage auf homegate.ch für Adliswil und Zürich zeigt: Die ersten zehn Angebote für familientaugliche Wohnungen ab 100 Quadratmeter kosten im Schnitt 4550 Franken. In Adliswil werden aktuell nur zwei familientaugliche Wohnungen angeboten. Sie kosten 3300 und 4000 Franken. Die Vermieter können damit rechnen, dass unter oft über 100 Interessenten immer auch einige zum reichsten Fünftel gehören. Doch für die Adliswiler Durchschnittverdiener wird es eng.
Rechnen wir: Für eine Familie mit zwei Kindern mit einem steuerlichen Reineinkommen von 10.000 Franken bleiben noch 6500 Franken nach 2500 Franken Steuern und Sozialabzügen plus rund 1000 Franken für die Krankenkasse. Bis zum Kindergartenalter dann noch die Kinderkrippe dazu. Ein Tag pro Woche und Kind kostet monatlich 500 Franken oder mehr. Kinder sind zum für Normalverdiener kaum noch erschwinglichen Luxus geworden. Nur in 17 Prozent aller Adliswiler Haushalte leben vier Personen oder mehr.
Das müsste nicht sein: Die Stadt Zürich vermietet neue 4,5-Zimmer-Familienwohnungen – kostendeckend für netto 1770 Franken, wovon 124 Franken auf die Verzinsung des Bodens entfallen. Es geht aber noch tiefer. Laut dieser Studie des Immobilienberaters IAZI belaufen sich die Kosten, bzw. die „Sollmiete“, einer von einer Anlagestiftung vermieten neuen Wohnung von 100 Quadratmetern auf 2070 Franken monatlich. Davon entfallen – immer laut IAZI – gut zwei Drittel auf die Kosten des Eigenkapitals (das zu 3,75 Prozent verzinst werden darf) und etwa 10 Prozent auf sogenannte „Vergütungskosten“ für die an der Finanzierung beteiligten Banken und Fonds. Bei einer Wohnbaugenossenschaft, die diese Kosten tief hält, beläuft sich die kostendeckende Sollmiete auf nur rund 1500 Franken monatlich.
Die meisten Bestandsmieten liegen auch heute mit rund 2000 Franken nur wenige 100 Franken über den effektiven Kosten. Wenn nun aber eine Durchschnittsfamilie eine neue Wohnung braucht, dann muss sie 3500 Franken oder mehr für die Miete bezahlen, was sie die Hälfte oder mehr des verfügbaren Einkommens kostet. Diese Differenz von rund 1500 Franken pro Monat ist einerseits für die Mieter ein Verlust, der sie zum Wegzug und/oder zu erheblichen Einschränkungen zwingt. Für die Vermieter und Bodenbesitzer hingegen ist es ein starker Anreiz, ihre Liegenschaften zu rentabilisieren und pro Wohnung statt netto rund 300 Franken das Sechsfache zu kassieren. Genau das ist in den vergangenen rund 15 Jahren im großen Stil geschehen.
1500 Franken weniger Kaufkraft bedeuten aber nicht nur noch mehr Ungleichheit, sie treffen auch das lokale Gewerbe. Das Symbol dieser Umverteilung ist das einstige freistehende Einfamilienhaus, auf dessen Baugrund nun ein Wohnblock steht. In einem konkreten Fall sieht das so aus: Im Parterre wohnt der pensionierte Erbe, im ersten Stock sind zwei Wohnungen für je 5500 Franken vermietet worden im zweiten Stock kostet die Attikawohnung 10.000 Franken.
Die fetten Enden der Wertschöpfungsketten
So weit die Lage vor Ort. Nun das Gesamtbild: Re-produktive Leistungen werden auf drei sozialen Ebenen erbracht. Erstens in der geldlosen Bedarfswirtschaft unter Verwandten und guten Bekannten. Zweitens im Binnenmarkt von Einheimischen für Einheimische. Die Preise dieser Leistungen decken grosso modo die Lebenshaltungskosten. Der Außenhandel spielt sich als Standortwettbewerb entlang globaler Wertschöpfungsketten ab. Es geht darum, dort zu produzieren, wo die Lebenshaltungskosten tief und dort zu verkaufen, wo die Kaufkraft hoch ist. Sneakers etwa werden für 1 Dollar pro Arbeitsstunde in Vietnam produziert, für das 100-Fache in Italien designt und wenn die Firma dann an die Börse geht, ist die Arbeitsstunde in der Finanzmetropole Zürich schon mal 1000 Franken oder mehr wert. Ziel des Standortwettbewerbs ist es, sich an den fetten Enden der Wertschöpfungsketten zu platzieren.
Der Schweiz und der „Greater Zurich Area“ ist das gut gelungen. Doch was wir im Standortwettbewerb gewinnen, verlieren wir nicht nur in der Binnenwirtschaft. Auch die Produktivität der Familien und Nachbarschaften leidet unten den langen Arbeitswegen und häufigen Wohnortswechseln. Das Hauptproblem ist, dass die Standortsieger mit ihren hohen Einkommen die nationalen Ressourcen überbeanspruchen und damit verteuern. Das betrifft vor allem, aber nicht nur, den Baugrund. Das BIP pro Kopf mag zwar dank dem Sieg im Standortwettbewerb weiter wachsen, aber seine Zusammensetzung verschlechtert sich – mehr Kaviar für die Reichen, weniger Brot für alle anderen.
Auch aus übergreifender Sicht ist es kontraproduktiv, wenn sich immer mehr produktive Tätigkeiten an wenigen Standorten konzentrieren, wenn nicht mehrt dort gearbeitet wird, wo die Menschen mit ihren lokalen Bedürfnissen sind, sondern wenn die die Menschen dorthin auswandern müssen, wo die Jobs im Rahmen des Standortwettbewerbs verlegt werden. Global gesehen ist es unsinnig, wenn die Leute die armen Gegenden verlassen, wo noch viel zu tun wäre, um dort Arbeit zu finden, wo diese eigentlich schon gemacht ist.
Im Bann der Exportwirtschaft und des Standortwettbewerbs
Das legt die Vermutung nahe, dass wir mit einer intelligenteren Aufteilung zwischen Bedarfswirtschaft, Binnenmarkt und Exportwirtschaft unser Wohlergehen deutlich steigern könnten. Dass darüber noch nicht einmal diskutiert wird, hängt auch damit zusammen, dass unser volkswirtschaftliches Denken – samt den einschlägigen Institutionen – ganz im Bann der Exportwirtschaft und des Standortwettbewerbs stehen.
Das gilt weitgehend auch für die Sozialdemokratie und die Gewerkschaften. Deren Sorge gilt vor allem den (gutbezahlten) Arbeitsplätzen, und da finden die spektakulären Verschiebungen und Verlagerungen praktisch nur in der Exportindustrie statt – auch wenn die neu gewonnen Jobs per Saldo immer nur von neu Zugezogenen besetzt werden. Unter dem Strich ist es aber immer noch so, dass gut 85 Prozent der bezahlten Arbeit von Einheimischen für Einheimische geleistet wird.
Vor allem aber zeigt die dramatische Entwicklung auf den Immobilienmärkten, dass die auf den Export und den Standortwettbewerb fixierte Wirtschaftspolitik in eine gefährliche Sackgasse geführt hat. Es ist höchster Zeit, die Wirtschaft wieder ganzheitlich zu denken.