Editorial

Die Transformation und ihre Feinde

| 09. Mai 2024
Vordergrund: IMAGO / Jürgen Heinrich

Liebe Leserinnen und Leser,

willkommen in einer neuen Woche. Klimawandel, Krieg, De-Globalisierung, Rezession: Die liberale Weltordnung steht einmal mehr vor dem Kollaps. Für Karl Polanyi, einen der ganz großen Ökonomen des 20. Jahrhunderts, wäre das ein Grund für Optimismus gewesen. Schließlich hatten die gewaltsamen Umwälzungen, die die Welt schon einmal erschütterten, die Bühne für die ultimative „große Transformation“ bereitet – die Unterordnung der nationalen Volkswirtschaften sowie der Weltwirtschaft unter demokratische Politik.

Doch ist dieser Optimismus heute noch angebracht? Seit Jahrzenten wird in der Bundesrepublik strikt nach neoklassischen Maßgaben gehandelt. Eine Studie der Otto-Brenner-Stiftung zeigt, wie die Beiräte der Bundesministerien dieses Denken verstetigen und in die Politik einsickern lassen. Das reicht vom (Nicht)Verständnis der finanziellen Möglichkeiten des Staates bis zum Glauben, dass es in der Wirtschaftswissenschaft nur um Märkte geht.

So nimmt es kaum Wunder, dass das neue Wirtschaftswende-Papier der FDP kaum Antworten darauf gibt, wie eine Wirtschaft aussehen könnte, die wettbewerbsfähig ist, möglichst klimaneutral, und zugleich eine gute Bildung im Land oder eine starke öffentliche Infrastruktur sichert. Statt um Investitionspolitik geht es um die Befreiung der Wirtschaft von Auflagen und ein „Moratorium für Sozialleistungen“.

Dabei käme dem Staat die Rolle zu, die richtigen Weichen zu stellen und Anreize zu setzen. Industriepolitische Maßnahmen etwa können helfen, mit zunehmender wirtschaftlicher und politischer Unsicherheit umzugehen. Zentralbanken könnten grüne Zinsen zur Finanzierung von Windkraftanlagen einsetzen. Und warum soll eine steigende Staatsverschuldung ein Problem sein, wenn die dadurch ermöglichten Investitionen dem Fiskus mehr einbringen, als sie kosten?

Diese und weitere Themen finden Sie in unserer neuen Ausgabe:

  • Lob der Industriepolitik Industriepolitische Maßnahmen können Staaten helfen, mit zunehmender wirtschaftlicher und politischer Unsicherheit umzugehen. Jede industriepolitische Leitlinie des IWF muss ein Gleichgewicht zwischen Protektionismus und Marktdisziplin finden. Keun Lee
  • Schlecht beraten Wes Geistes Kind ist die deutsche Wirtschaftspolitik? Seit Jahrzenten wird in der Bundesrepublik strikt nach konservativ-neoklassischen und neoliberalen Maßgaben gehandelt. Eine Studie der Otto-Brenner-Stiftung zeigt, wie die Beiräte der Bundesministerien dieses Denken verstetigen. Lukas Poths und Hans-Peter Roll
  • Zinssatz und Offshore-Windkraft Kann man eine Änderung der Wirtschaftsordnung der Marktlogik überlassen? Dirk Bezemer
  • Wirtschaftswende? Sozialpolitische Wende? Wende rückwärts? Das Wirtschaftswende-Papier der FDP ist ein Sozialwende-Papier. Die sozialpolitischen Auseinandersetzungen drohen künftig wieder mehr im ideologischen Überbau geführt zu werden. Joseph Kuhn
  • Wie der Staat das Geld aus der Reserve lockt Wem gehören die Reserven der Zentralbank als Objekt des Zahlungsversprechens, das wir Geld nennen – dem Staat oder der Zentralbank? Die Frage zu entscheiden, ist müßig. Schon sie zu stellen, ist das Problem. Erik Jochem
  • Karl Polanyis fehlgeschlagene Revolution Die liberale Weltordnung steht einmal mehr vor dem Kollaps. Für Karl Polanyi wäre das ein Grund für Optimismus gewesen – heute jedoch fällt das zunehmend schwer. Thomas Fazi
  • Wider eine Staatspflicht zum Morden, Verstümmeln und Verletzen Plötzlich wird wieder die Wehrpflicht diskutiert. Aber hat der Staat überhaupt ein Recht, seine Bürger zur Kriegsteilnahme zu zwingen? Und falls nicht, muss dann nicht das Grundgesetz in Richtung einer echten Wahlfreiheit zwischen Kriegs- und Zivildienst geändert werden? Gerd Grözinger
  • Konjunktur Stehen die deutsche und europäische Wirtschaft vor der Trendwende? Kritische Stimmen wollen nicht verstummen. Die Redaktion