Interview

„Der zentrale Ausgleichsfaktor sind die Löhne“

| 29. April 2025
@midjourney

Betriebliche Mitbestimmung, universeller Zugang zu einem ausgebauten Gesundheitssystem oder ein durchlässiges Bildungssystem – die skandinavischen Sozialstaaten gelten als Weltspitze. Aber erklären sie auch sie die geringe Lohnungleichheit? Kjell Salvanes weiß mehr.

---

Kjell G. Salvanes ist Professor für Arbeitsökonomie an der Norwegian School of Economics und Forschungsdirektor an den dort ansässigen Centre for Empirical Labor Economics (seit 2012) und Centre for Experimental Research on Fairness, Inequality and Rationality (seit 2017). Salvanes forscht zu einer Vielzahl von Themen aus den Bereichen Bildungs-, Arbeits- und Gesundheitspolitik, darunter Bildungsrendite, Einkommensungleichheit sowie intergenerationale Mobilität. Die für dieses Interview federführende Studie Income Equality in The Nordic Countries: Myths, Facts, and Lessons hat er gemeinsam mit den Ökonomen Magne Mogstad und Gaute Torsvik für das nationale Bureau für Wirtschaftsforschung verfasst, die größte wirtschaftswissenschaftliche Forschungseinrichtung in den USA.

---

Herr Salvanes, in Ihrer Studie stellen Sie fest, dass die größere Einkommensgleichheit in den nordischen Ländern (Dänemark, Norwegen, Schweden und Finnland) im Vergleich zu den USA oder Großbritannien auf die „Komprimierung der Stundenlöhne“ zurückzuführen ist. Was meinen Sie damit?

Das heißt, dass sich die Löhne verschiedener Arbeitnehmer innerhalb eines Unternehmens und zwischen verschiedenen Unternehmen angleichen. Man könnte auch sagen: Die Lohnspreizung in den nordischen Ländern ist geringer als in den USA und in Großbritannien.  

Worauf ist das zurückzuführen?

In den nordischen Ländern werden die Lohnvereinbarungen stärker durch Tarifverträge geregelt und die Gewerkschaften spielen eine wichtigere Rolle in den Lohnverhandlungen. Es scheinen weder Unterschiede in den Qualifikationen vor dem Eintritt in den Arbeitsmarkt noch Steuern und Transferleistungen die geringe Einkommensungleichheit auf dem nordischen Arbeitsmarkt erklären zu können. Das heißt: Schwerpunktmäßig scheinen sich die Löhne und Einkommen in den Arbeitsbeziehungen anzugleichen und nicht vorher oder nachher durch staatliche Interventionen.

Sie schreiben, dass die Primärverteilung (Lohneinkommen) der „Hauptgrund“ für die vergleichsweise starke Einkommensgleichheit in den nordischen Ländern ist und nicht die Sekundärverteilung (Einkommen nach staatlichen Umverteilungsmaßnahmen). Warum ist die Gewichtung so?

Das zeigt der Gini-Koeffizient als Maßstab für Einkommensungleichheit. Die Veränderung des Gini-Koeffizienten ist vor Steuerabzug größer als danach. Dies wird in der Arbeit bis zu einem gewissen Grad diskutiert.

Andere Hypothesen besagen, dass diese stärkere Einkommensgleichheit als zum Beispiel in den USA auch auf eine starke Subvention von Kinderbetreuungs-, Bildungs-, und Gesundheitsprogrammen bzw. die direkte Bereitstellung solcher Dienstleistungen zurückzuführen ist, oder dass weniger geschlechtsspezifische Unterschiede bei den Stundenlöhnen dafür verantwortlich sind.

Ja solche Hypothesen sind verbreitet. Und es stimmt, dass Steuern und Transferleistungen bis zu einem gewissen Grad eine Rolle bei der Angleichung der Einkommen spielen, wenn man die Einkommensungleichheit vor und nach Steuern und Transferleistungen betrachtet. Aber der zentrale Ausgleichsfaktor sind die Löhne vor Steuern und nicht die Einkommen nach Steuern und Transferleistungen.

Laut Ihrer Studie würde die Lohnkompression die Rendite von Qualifikationen und Bildung auf dem Arbeitsmarkt verringern. Dem liegt die Annahme zugrunde: Ist die Lohnspreizung größer, zahlen sich Investitionen der Eltern oder des Staates in Bildung für die Kinder in Form bessere Arbeitsplätze eher aus.

Ja, das stimmt. Bei stärkerer Lohnkompression sind die Bildungsrenditen geringer, während sie bei geringerer Kompression größer sind.

Weitergedacht müssten Arbeitgeber im Rahmen einer unkoordinierten Lohnfindung höhere Qualifikationen ihrer Mitarbeiter mit höheren Löhnen belohnen, als sie es bei einer koordinierten Lohnfindung tun würden. Was stützt diese Annahme?

Ich denke, dafür gibt es einige Belege. Vergleichen Sie einmal die Gehälter von Rechtsanwälten in den USA und den nordischen Ländern oder auch andere hochqualifizierte Berufe. Der Inhalt eines Jurastudiums ist in allen Ländern mehr oder weniger ähnlich, ebenso wie in der Medizin, der Wirtschaftswissenschaft und so weiter. Und dennoch werden Juristen im privaten Sektor in den USA im Durchschnitt um ein Vielfaches besser bezahlt als beispielsweise in Schweden.

Wie wirkt sich eine koordinierte Lohnbildung auf Produktivität und Wachstum aus? Können die Skandinavier für uns Mitteleuropäer ein Vorbild sein, wenn wir versuchen, Lohn- und Produktivitätswachstum in Einklang zu bringen?

Eine wichtige Erkenntnis ist, dass die Arbeitsproduktivität in den nordischen Ländern fast auf dem Niveau der USA liegt und höher als in vielen europäischen Ländern ist. Und dennoch ist die Einkommensungleichheit im Norden geringer, die Lebenszufriedenheit höher.

Unser Schwerpunkt in der Studie liegt auf der Funktionsweise des Arbeitsmarktes, der Lohnfestsetzung, der Rolle der Gewerkschaften dabei und vielleicht sogar der Rolle der Demokratie am Arbeitsplatz. Länder unterscheiden sich in vielen Dimensionen, beispielsweise im Schulsystem, sodass es immer schwierig ist, ein institutionelles System von einem Land auf ein anderes zu übertragen.

Dennoch denke ich, dass unsere Studie eine allgemeine Erkenntnis liefert, nämlich dass die Organisation oder die Funktionsweise des Arbeitsmarktes sowohl für die Produktivität als auch für die Einkommensgleichheit eine große Rolle spielt.