End Game Ukraine?
Darf man in einem gerechten Krieg einen ungerechten Frieden akzeptieren?
80 Jahre nach dem Endes des Zweiten Weltkrieges erinnert der BR mit dem Anti-Kriegs-Film „Die Brücke“ aus dem Jahre 1959 an das letzte Verbrechen Hitlers aus einer langen Reihe: In der Endphase des Zweiten Weltkrieges war er nicht bereit, die Realität der Niederlage zu akzeptieren. Indem er „bis zum letzten Mann“ weiterkämpfen und dazu sogar noch Jugendliche und Alte für den Volkssturm rekrutieren ließ, führte er viele in den unnötigen Tod und Deutschland in die bedingungslose Kapitulation. Darüber herrscht hierzulande Konsens. Es war das Anliegen der Verschwörer des 20. Juli, diese unnötigen Tode und diese katastrophale Niederlage Deutschlands zu verhindern.
Heute befindet sich die Ukraine in einer ähnlichen Situation wie Deutschland am Ende des Zweiten Weltkrieges. Es ist klar, dass der Krieg gegen Russland nicht gewonnen werden kann: Es fehlt an Material; die Arsenale der Verbündeten sind aufgebraucht, und es wird Jahre dauern, diese wieder aufzufüllen. Aber vor allem fehlt es der Ukraine an Soldaten. Die Verbündeten sind nicht bereit, eigene Truppen zur Unterstützung des Landes zu mobilisieren. Weiterkämpfen in einer solchen Lage bringt nur einen Aufschub für eine drohende vollständige Niederlage. In der Zwischenzeit droht weiterer Gebietsverlust, die Zerstörung von noch mehr Infrastruktur und vor allem: Es sterben Menschen. Am Ende könnte die bedingungslose Kapitulation stehen – damit stünde die künftige staatliche Existenz der Ukraine auf dem Spiel.
Vor diesem Hintergrund ist der europäische Waffenstillstandsvorschlag zu betrachten, der nun bekannt wurde. Dieser sieht unter anderem Folgendes vor: Russland soll alle besetzten Gebiete, inklusive der Krim, an die Ukraine zurückgeben, Reparationen zahlen und die Ukraine soll auch künftig keinerlei Beschränkungen hinsichtlich ihrer Wiederbewaffnung unterliegen. Das alles könnte eine Siegermacht einem unterlegenen Gegner diktieren. Die Ukraine befindet sich aber in der umgekehrten Lage.
Warum ist es so schwierig, diese Realität anzuerkennen, die wir für das Deutschland des Zweiten Weltkrieges im Nachhinein so klar sehen? Die Antwort liegt auf der Hand: Hitlers Krieg war ein Unrechtskrieg. Die Ukraine hingegen verteidigt sich gegen einen Angreifer. Die Niederlage Deutschlands im Zweiten Weltkrieg war also gerecht, die Niederlage der Ukraine wäre ungerecht. Aus dieser Sicht ist der europäische Vorschlag völlig folgerichtig: Er ist das, was Europäer und die Ukraine unter einem gerechten Frieden verstehen.
Die bittere Realität ist jedoch, dass es nicht die Moral ist, die hier entscheidet, sondern die Macht der Waffen. Vor diesem Dilemma standen auch die Verschwörer des 20. Juli. Die Mehrheit von ihnen war keineswegs von Anfang an der Meinung gewesen, dass Hitlers Krieg ein unrechtmäßiger Krieg sei. Viele hatten zunächst hinter ihm gestanden und durchliefen einen schwierigen Erkenntnisprozess, bis sie sich zu dem Attentatsversuch entschieden.
„Es kann keinen gerechten Frieden geben“, sagte Michael von der Schulenburg, der im Auftrag der UNO in unzähligen Konflikten vermittelte. „Es gibt immer Sieger und Verlierer.“ Kriege hören dann auf, wenn es für beide Seiten kostspieliger ist, den Krieg fortzuführen, als Frieden zu schließen. Und hier liegt der Vorteil auf der russischen Seite: Sie können weiterhin genügend Waffen herstellen und Truppen mobilisieren. Auch die wirtschaftlichen Druckmöglichkeiten durch Sanktionen sind weitgehend ausgeschöpft. Daraus folgt: Um das Schlimmste zu verhindern, müssen die Ukraine und ihre Verbündeten einen aus ihrer Sicht höchst ungerechten Frieden akzeptieren.
Das ist im Grunde genommen die Essenz des amerikanischen Gegenvorschlages: „Der Ukraine Krieg war von Anfang an „a losing proposition“, sagte Trump. Ein vollkommen absehbares Verlustgeschäft also. Aus seiner Sicht gilt es, den Verlust so schnell wie möglich abzuschreiben und weiterzuziehen. Und so beinhaltet der amerikanische Vorschlag unter anderem große Gebietszugeständnisse der Ukraine an Russland, den Verzicht auf die NATO-Mitgliedschaft und die Aufhebung von Sanktionen.
Der Vorschlag wurde von Vertretern so gut wie aller Parteien, inklusive des Chefs der Linken, Jan von Aken, vehement kritisiert: Trump betreibe das Geschäft Moskaus, heißt es. Aber wäre es nicht auch aus Sicht der Ukraine richtig, heute zu retten, was zu retten ist? Ist es nicht, im Gegenteil, „ein Verbrechen“ an der eigenen Bevölkerung (wie von der Schulenburg sagt) in so einer Situation weiterzukämpfen auf Teufel komm `raus? Oder Waffen zu liefern, die das möglich machen?
Nein, könnte man mit Claus Leggewie argumentieren. Dieser schreibt:
„Nur sehr langsam dämmert es uns Europäern, dass wir Feinde haben. […] und zwar tendenziell absoluter Feindschaft, die keine Verhandlung kennt […] Mit Donald Trumps versprochenem Separatfrieden wird sich Wladimir Putin nicht zufriedengeben, er möchte – und das war von Beginn seiner Herrschaft an sein kaum verklausuliertes Ziel – die Europäische Union zerstören und die Sowjetunion in zaristischem Gewand restaurieren.“
Wer einem solchen Gegner den kleinen Finger gibt, riskiert, dass er die ganze Hand und mehr nimmt. Mit anderen Worten: Genauso wie Hitler sich nicht mit dem Sudetenland zufriedengab, wird auch Putin schon bald das Baltikum erobern und nicht Halt machen, bis er in Paris angelangt ist. Die am 12. März 2025 vom Europäischen Parlament verabschiedete Entschließung geht in die gleiche Richtung: Darin wird Russland als „die größte direkte und indirekte Bedrohung für die EU und ihre Sicherheit“ bezeichnet.
Angenommen das wäre so: Dann ist die Ukraine aber trotzdem gerade im Begriff, den Krieg zu verlieren. Wenn überhaupt möglich, wird es Jahre dauern, bis Europa, wie geplant, so weit aufgerüstet hat, dass es gegen Russland in den Krieg ziehen könnte. Weder die Ukraine noch Europa kommen an dieser Realität vorbei. Das bedeutet: Sie müssen – zumindest temporär – die Niederlage hinnehmen und dann gegebenenfalls alle Kräfte für die Vorbereitung des kommenden großen Krieges mobilisieren.
Doch entspricht Claus Leggewies Einschätzung der Faktenlage? Es gibt gute Gründe, das zu bezweifeln. Oberst a.D. Wolfgang Richter zum Beispiel sagte dazu im MAKROSKOP-Interview, Moskau habe weder die Absicht noch die Fähigkeiten, größere Teile Europas zu erobern. Die Absicht Putins würde aus der unvollständigen Rezeption einer seiner Reden geschlossen. Die militärischen Fähigkeiten Moskaus würden weit überschätzt.
Zudem kann das Land auf eine lange Reihe von Verhandlungsvorschlägen und -ergebnissen verweisen, die allesamt von westlicher Seite zurückgewiesen, wenn nicht gar torpediert wurden. Das beginnt mit dem Abkommen zwischen der EU und dem ukrainischen Präsidenten Janukowitsch am Vorabend seiner Vertreibung aus dem Amt im Zuge der Proteste auf dem Maidan im Jahre 2014. Später hätten die beiden Minsk-Abkommen die Ukraine (mit Ausnahme der Krim) in ihrer Gesamtheit erhalten. Sie wurden aber nach Aussage verschiedener Beteiligten von der Ukraine und Europa nur als Möglichkeit gesehen, Zeit zu gewinnen, und nicht ernsthaft umgesetzt. Am Vorabend des Krieges, im Dezember 2021, legte Russland umfassende Vorschläge für eine europäische Friedensarchitektur vor. Sie wurden ignoriert. Einige Tage nach Kriegsbeginn begannen die Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine. Man hatte schon in vielen Punkten Einigung erzielt, als die ukrainische Seite die Verhandlungen abbrach.
Das alles rechtfertigt keinen Völkerrechtsbruch. Aber es zeigt doch, dass es zumindest Zweifel an Leggewies Einschätzung geben könnte, denjenigen „zivilisierte[n] Europäer[n]“, die „Friedensstiftung als das Ziel der Politik ansehen, […] leicht die Bedrohlichkeit eines totalitären Herrschaftsanspruchs [entgeht], für den die Markierung eines äußeren und inneren Feindes essentiell ist.“
Es könnte auch sein, dass Putin nicht lügt, wenn er immer wieder betont, dass es zwei Wurzeln für den Konflikt gäbe, die es als Voraussetzung für einen dauerhaften Frieden zu beseitigen gälte: erstens die Bedrohung Russlands durch die NATO-Osterweiterung; zweitens, das Recht der russischsprachigen Bevölkerungsteile in der Ukraine, ihre Kultur und Sprache zu leben.
Indem die Europäer die Ukraine dabei unterstützen, Verhandlungen mit Russland zu diesen Punkten aufzunehmen, würden sie nicht nur weiteres Blutvergießen verhindern, sondern auch die Chance für eine Zukunft Europas eröffnen, die nicht von Militarisierung, Angst, Sozialabbau und Feindbildern geprägt ist, sondern einer positiven Vision für das friedliche Zusammenleben der Menschen auf unserem Kontinent und weltweit folgt.
Vielleicht behält Leggewie ja am Ende recht. Aber wäre eine solche positive Perspektive nicht zumindest den Versuch wert, sich erstens genauer mit der Faktenlage in diesem Konflikt zu befassen, und zweitens mit den Russen darüber zu sprechen, ob und wie es möglich wäre, den Menschen in der Ukraine aus einer schweren Niederlage den Weg in eine lebenswerte Zukunft zu bahnen?