Politik als Spiel: Alles ist erlaubt, aber nichts ist möglich
Der französische Philosoph Michel Clouscard ist heute nahezu unbekannt. Doch seine Abrechnung mit 1968 bietet eine Erklärung, warum unsere Gesellschaften und politischen Systeme heute in einer tiefen Krise stecken. Ein Essay.
Selbst in seinem Heimatland kennt den 2009 verstorbenen französischen Philosoph Michel Clouscard kaum jemand. Frédéric Worms' umfangreiches Werk über die französische Philosophie des 20. Jahrhunderts erwähnt ihn mit keinem Wort. Clouscard verbrachte seine Karriere an einer unmodernen Provinzuniversität und seine Bücher verkauften sich schlecht. Dass er außerhalb der sich bekämpfenden Mainstreams der französischen Philosophie stand und insbesondere außerhalb der medienwirksamen Strömungen seit Ende der 1960er Jahre, mag seinen Teil dazu beigetragen haben.
Clouscard war ein orthodoxer Marxist, Anhänger der Kommunistischen Partei, aber nie deren Mitglied. Er gehörte daher nicht zur aufregenden, glamourösen und öffentlichkeitswirksamen Welt der Maoisten und Trotzkisten, die das linke intellektuelle Leben Ende der 1960er Jahre dominierten. Er widerrief später nicht seine Überzeugungen und wurde kein Neokonservativer, auch gab er den Marxismus nicht zugunsten des Strukturalismus und des Dekonstruktivismus auf und schloss sich nicht den Versuchen an, den Marxismus mit Freud, Lacan, Deluze und anderen zu vereinen. Im Gegensatz zu anderen orthodoxen Marxisten zog er sich nicht in eine selbstbezogene scholastische Textanalyse wie Althusser zurück und nahm auch nicht jede modische ausländische Idee wie Sartre auf.
Clouscards Methode wurde treffend als „angewandter Marxismus“ beschrieben. Gemeint ist, dass er sich dafür interessierte, wie marxistische Ideen das Leben und die Erfahrungen gewöhnlicher Menschen beleuchten können. Nicht in Vietnam oder Nicaragua, sondern in den Städten Frankreichs. Er interessierte sich besonders für den Aufstieg der Konsumgesellschaft und wie sie als politischer Kontrollmechanismus genutzt wird. Es versteht sich von selbst, dass die Linke nach 1968 in Frankreich wie auch anderswo dieses Interesse am Leben und den Interessen der einfachen Menschen nicht teilte, denen sie bestenfalls Gleichgültigkeit, schlimmstenfalls Verachtung entgegenbrachte – und dass Denker wie Clouscard dadurch in eine gewisse Isolation gerieten.
Dennoch oder gerade deshalb lohnt es, einige seiner Ideen aufzugreifen, die ihrer Zeit weit voraus waren. Denn sie erklären recht gut, warum unsere Gesellschaften und ihre politischen Systeme heute in einer solchen Krise stecken.
Die „Ereignisse“ von 1968
Ein Großteil der Originalität Clouscards besteht darin, dass er ein scharfer Kritiker des Mai 1968 und der studentischen Radikalen jener Zeit im Allgemeinen war. Das wäre in jedem Land heikel, aber in Frankreich, wo die „Ereignisse“ von 1968 einen großen Teil des nationalen Mythos ausmachen, kommt das fast einer Blasphemie gleich. Die gesamte Medien-, Intellektuellen- und Akademikerklasse in Frankreich blickt auf 1968 wie die Kirche auf die Geburt Jesu. Wer sich gegen eines ihrer Dogmen ausspricht oder die Ereignisse selbst und ihre Folgen kritisiert, wird aus dem Fernsehen und Radio verbannt und seine Bücher werden nicht veröffentlicht oder aus dem Handel genommen.
Dabei handelt es sich nicht einfach um eine Frage von links oder rechts. Es gab immer Kritiker von 1968, und es gibt sie immer noch, insbesondere aus der traditionellen katholischen Rechten. Aber linke Kritiker von 1968 wie Clouscard haben wohl mehr gelitten als andere.
Was ist also los? Clouscard hat nach den „Ereignissen“ in einem 1972 veröffentlichten Buch mit dem Titel Néo-fascisme et ideologie de désire, das noch immer im Druck ist, sehr schnell den Finger auf die Wunde gelegt: Darin prägte Clouscard den Begriff Libéral-libertaire, um die Ideologie nach 1968 zu beschreiben. „Libéral“ wird hier im englischen Sinne von ‚freiem‘ Markt, Wettbewerb, Deregulierung usw. verwendet, was bereits in dieser Zeit ein Trend war, den Clouscard jedoch vor den meisten anderen Kommentatoren erkannte. “Libertaire" ist als Begriff vielleicht unglücklich gewählt, da er in vielen Ländern rechtsindividualistische Konnotationen hat, aber Clouscard meint hier ‚Freiheit des persönlichen Verhaltens‘ außerhalb des wirtschaftlichen Bereichs. Er suggeriert damit, dass Individuen zumindest theoretisch „frei“ sind, sich in ihrem Privatleben so zu verhalten, wie sie wollen, auch wenn sie wirtschaftlich zunehmend durch Konsumismus und Werbung, durch das Verschwinden von Handwerk und kleinen Gewerben, durch immer härteren Wettbewerb und den Aufstieg immer größerer Unternehmen kontrolliert werden.
In der Vergangenheit, wie Clouscard mehrfach betonte, neigte die obere Mittelschicht dazu, sich in ihrem persönlichen Verhalten ebenso nüchtern und verantwortungsbewusst zu verhalten wie in der Wirtschaft. Harte Arbeit und Sparsamkeit, ein Leben im Rahmen der eigenen Möglichkeiten, Ehe und Familie galten als grundlegend. Aus diesem Grund fühlte sie sich zum Protestantismus oder zu den asketischeren Formen des Katholizismus hingezogen und entwickelte ein soziales Gewissen, das sie zu guten Taten animierte.
Clouscard schrieb zu einer Zeit, als die Kommunistische Partei Frankreichs (PCF) streng der Moskauer Linie folgte (der ultraorthodoxe Georges Marchais hatte gerade seine lange Amtszeit als Generalsekretär begonnen), entsprechend seltsam mutet sein Vokabular heute an. Er sprach in marxistischer Tradition vom „Kapitalismus“ als einem lebendigen Wesen und nicht als umstrittenen Begriff für ein Wirtschaftssystem, und vom „Kapital“ als einer Art unabhängiger Instanz.
Aber es ist nicht schwer zu verstehen, worauf er wirklich hinauswollte. Auch wenn die „Ereignisse“ von 1968 heute eher romantisch und kurios anmuten, wurden sie damals von den Regierungen sehr ernst genommen. In Frankreich befürchtete De Gaulle, dass die fragile Einheit des Landes zerbrechen könnte, und wollte gar die Armee einschalten. Doch sein Premierminister Georges Pompidou lehnte ab, weil man die Armee nicht "gegen die herrschende Klasse von morgen" einsetzen könnte. Und genau das war der Punkt: In keinem Land versuchten die „jungen Rebellen“ wirklich, das politische System zu stürzen, geschweige denn das wirtschaftliche. Sie waren in der Tat die nächste herrschende Klasse, und ihre Beschwerden richteten sich größtenteils gegen die Behandlung durch ihre tatsächlichen und symbolischen Eltern.
In ganz Europa gingen die Studentenrebellionen mit politischer und gewerkschaftlicher Militanz einher. In Frankreich beteiligten sich etwa zehn Millionen Menschen an Arbeitskampfmaßnahmen – die mit Abstand größte Bewegung in der französischen Geschichte. Doch abgesehen von Parolen waren die Studenten an politischen oder wirtschaftlichen Reformen völlig uninteressiert und schlossen sich nie mit den Arbeitern zusammen: Hätten sie das getan, hätten sie die Republik stürzen können. Doch das war nicht in ihrem Sinne. Überall in Europa handelte es sich um Söhne und Töchter der herrschenden Klasse, die schlicht die interne Verwaltung dieser Klasse, zu der natürlich auch die Universitätsverwalter und Minister gehörten, verändern wollten.
Doch statt einer traditionellen Führungsschicht, die nüchtern und diszipliniert war, forderten die Studenten eine Elite, die zwar weiterhin die Kontrolle behalten sollte. Zugleich aber ein Leben, das mehr Spaß machen sollte, in dem jeder in seinem Privatleben tun und lassen konnte, was er wollte, und in dem alle Autoritätssysteme – von der Regierung über das Bildungswesen und die Kirche bis hin zu den Gewerkschaften, der Kommunistischen Partei und sogar den Universitäten, an denen sie studierten – abgeschafft werden sollten.
Triumph der Fantasie über die Realität
Die tatsächlichen Forderungen der Studenten, wie sie in den Medien, in Reden und in den berühmten Graffiti an den Wänden der Sorbonne zum Ausdruck kamen, spiegelten im Wesentlichen die nihilistische, fantasievolle, jugendliche Stimmung der Zeit wider. Diese Stimmung war größtenteils eine Folge der Situationistischen Internationale, eine 1957 gegründete linke Gruppe europäischer Künstler und Intellektueller, die mit ihrem Konzept der „theoretischen und praktischen Herstellung von Situationen“, das Leben selbst zum Kunstwerk werden lassen wollten. Nur wenige der konkreteren Forderungen wurden jemals umgesetzt: Die Sorbonne niederzubrennen, erschien dort als Dozent zehn Jahre später weit weniger attraktiv zu sein.
Zu den wichtigsten Themen gehörte jedoch, dass es keinen wirklichen Unterschied zwischen Fantasie und Realität gäbe und dass von beiden die Fantasie vorzuziehen sei („Nimm deine Wünsche für Wirklichkeit!“). Doch obwohl die Studenten schnell einen bedeutenden Teil der Konsumgesellschaft bildeten, die sie zu verachten vorgaben, und in die Politik, die Medien, das Bildungswesen und andere etablierte Berufe drängten, gelang es ihnen dennoch, die persönlichen Verhaltensnormen in die Richtung eines hedonistischen Modells der sofortigen Bedürfnisbefriedigung zu verändern, wobei sie sich oft auf Wilhelm Reich oder andere damals angesagte Intellektuelle beriefen. (Interessanterweise wird als Ursprung von 1968 meist die Besetzung der Universität Nanterre im Jahr zuvor angesehen, bei der die „freie Bewegung“ (libre circulation) männlicher Studenten in Frauenwohnheimen gefordert wurde. Manchmal werfen Ereignisse einen langen Schatten.)
Eines der Hauptmotive hinter solchen Forderungen war das altbekannte Bestreben, die Eltern und die Bourgeoisie zu schockieren, und das wurde zweifellos erreicht. Aber als die Generation von 1968 (grob gesagt alle zwischen 1945 und 1955 Geborenen) in einflussreiche Positionen aufstieg und ihr oberflächliches Interesse an radikalen politischen Veränderungen erlosch, behielt sie dennoch die Radikalität ihrer individualistischen sozialen Ziele bei. Einer der Slogans von 1968, „Lasst uns neue sexuelle Perversionen erfinden!“, führte direkt zur mächtigen Bewegung der 1970er Jahre, die Pädophilie zu entkriminalisieren – eine Bewegung, die von den meisten führenden jungen Intellektuellen der Zeit unterstützt wurde und bis heute Einfluss hat.
Sie war Teil einer breiteren Suche nach „transgressiven“ Verhaltensmustern in der gesamten westlichen Welt. Eine davon war seltsamerweise die Faszination der 1970er Jahre für den Kriminellen als ultimativen „Außenseiter“, als elitären Übertreter der gesellschaftlichen Regeln an vorderster Front im Kampf gegen das Eigentum. (Diese Ansicht ist nach wie vor einflussreich unter Soziologen, die selbst noch nie Opfer eines Raubüberfalls geworden sind.)
Schwerwiegender war vielleicht die Umdeutung der Internierung und Behandlung von psychisch hochgradig Kranken als eine Form der „Unterdrückung“ und Verweigerung ihrer „Entscheidungsfreiheit“. Der britische Psychiater R. D. Laing war bekannt für die Gelassenheit, mit der er den Selbstmord einiger seiner Patienten hinnahm. Diese Haltung führte direkt zur Schließung von psychiatrischen Kliniken im gesamten Westen und zu leidenden, obdachlosen und manchmal gewalttätigen Menschen in den Straßen westlicher Städte.
Die Kirche war ebenfalls Ziel dieser Generation, insbesondere in Ländern, in denen sie noch stark vertreten war, wie Frankreich und Italien. Die Kirchenbesuche gingen ab Ende der 1960er Jahre drastisch zurück. Aber etwas musste an ihre Stelle treten. Und die neue Generation, die die Konsumgesellschaft, die sie zu verachten vorgab, so gründlich verinnerlicht hatte, suchte, wie Konsumenten das tun, nach etwas Attraktiverem, weniger Ernstem und einfach mehr Spaß als die trostlose und schuldbewusste Religion ihrer Eltern mit ihren Geboten und Verboten. In seiner harmlosesten Form führte dies zur Übernahme des New-Age-Gedankenguts, zu Büchern von Kaliforniern, die Zen zu erklären versuchten, und natürlich zur Kommerzialisierung der 68er-Überzeugung, dass nicht die Realität, sondern die Fantasie zählt – nicht zuletzt in Form von profitablen Betrügereien wie „The Secret“ (das gleichnamige Buch von Rhonda Byrne rangierte 198 Wochen auf der Bestsellerliste der New York Times).
Was die Religion betraf, führte der transgressive Drang jedoch mit trostloser Vorhersehbarkeit zu einer Faszination für das Okkulte, zur Verehrung von Teufeln und zu einem ungesunden Interesse an der mythischen Ikonografie des Dritten Reiches. Die Populärkultur bewegte sich innerhalb von ein oder zwei Jahren von Frieden, Liebe, Atlantis und UFOs zu etwas viel Dunklerem, wie Gary Lachmann dokumentiert hat. Es war der Beginn einer Liebäugelei mit halbverstandener Dämonologie und der „Magie“ des großen Betrügers Alesteir Crowley, dessen Slogan „Tu, was du willst, das ist das ganze Gesetz“ auch 1968 an eine Wand geschmiert worden sein könnte.
Schließlich gab es nichts, was die Rebellen von 1968 mehr verachteten als die bürgerliche Familie: diesen repressiven, kryptofaschistischen Apparat, dessen einzige positive Eigenschaft darin bestand, dass die Eltern für die Ausbildung ihrer Kinder aufkamen. Die Zerstörung der Familie hatte Priorität, und man muss sagen, dass dieses Ziel weitgehend erreicht wurde.
Bis in die 1960er Jahre galt die Ehe als ungleicher Handel. Frauen erhielten Sicherheit und einen vorrangigen Anspruch auf das Vermögen und Einkommen ihres Mannes. Männer konnten nur auf das Ende ihrer Unabhängigkeit hoffen und vielleicht auf 25 Jahre, in denen sie ihre Frau und Familie ernährten. Deshalb beschäftigte sich bis zu diesem Zeitpunkt ein Großteil der Populärkultur damit, dass Frauen einen Ehemann suchten und Männer versuchten, nicht gefunden zu werden. (Das männliche Ideal, das sich in Figuren wie Sherlock Holmes, Richard Hannay, Bulldog Drummond, The Saint, Philip Marlowe und James Bond widerspiegelte, war der unabhängige Junggeselle, der vielleicht eine Eroberung nach der anderen machte, aber niemals gebunden war.)
Für viele der jungen männlichen Rebellen von 1968 muss dies wie ein utopischer Zustand erschienen sein, der dringend anstelle der traditionellen männlichen Rituale des „Erwachsenwerdens“ und der „Übernahme von Verantwortung“ für eine Familie angestrebt werden musste. Die stetige Untergrabung der Ehe als Norm hat unweigerlich zu einer Zunahme von Einelternfamilien geführt, die in der Regel von Frauen geführt werden, während die Männer sich anderswohin abgewandt haben.
Und dann, während das politische Engagement der meisten dieser Generation bestenfalls oberflächlich war, gab es doch ein Engagement – allerdings in sehr begrenztem Umfang und meist verbunden mit Ereignissen in Übersee. Der Vietnamkrieg war die große Sache dieser Zeit und ein Mittel, um eine große Zahl junger Menschen zu mobilisieren. Nicht nur in den Vereinigten Staaten, sondern auch in Europa, dessen Länder nicht wirklich involviert waren.
Aber diese Kritik geht am Kern der Sache vorbei: „Demos“ machten Spaß. Marschieren, singen, Steine auf die Polizei werfen, vielleicht Wasserwerfern ausweichen, das war aufregend, es war Politik als Spiel. Es war nicht so, dass es keine Probleme in der eigenen Nachbarschaft gab, aber diese waren weniger interessant und weniger glamourös und hätten schwierige Entscheidungen und gewisse Kenntnisse erfordert. Es war wieder einmal der Triumph der Fantasie über die Realität. Die überwiegende Mehrheit der Demonstranten hätte nicht in dem Vietnam nach 1975 leben wollen – genauso wenig wie ihre Enkelkinder in einem fundamentalistischen islamischen Staat leben wollen, der von der Hamas kontrolliert wird –, aber darum ging es nicht. 1968 und danach ging es vor allem um Drama und Aufregung.
Es war eine berechtigte Kritik an den Demonstranten und Polemikern nach 1968, dass sie sich mehr um die Bauern in Vietnam kümmerten als um die Bauern in ihren eigenen Ländern, die bereits von der Agrarindustrie von ihrem Land vertrieben wurden. Für die meisten von ihnen ging es beim politischen Aktivismus um weit entfernte Länder, über die sie wenig wussten und die sie daher nach ihren Fantasien umgestalten konnten. Und zu gegebener Zeit schufen ihre eigenen Kinder ein Fantasie-Bosnien und ein Fantasie-Ruanda, so wie ihre Enkelkinder eine Fantasie-Ukraine erschaffen.
Der „dritte Weg“
Um nur die offensichtliche Schlussfolgerung aus der veränderten Natur der Eliten zu ziehen, aus der die überwiegende Mehrheit der „Rebellen“ stammte: Sie erkannten, dass es durchaus möglich war, die gesamte respektable, langweilige traditionelle Mittelschichtsethik des Geschäftslebens über Bord zu werfen. Das Unternehmertum und sogar die Politik konnten transgressiv sein und dennoch ihre Macht behalten. Mehr noch, die Umarmung der Gegenkultur konnte ein gutes Geschäft sein: Ein Werbeslogan aus den frühen 1970er Jahren ging so: „The Revolutionaries Are on CBS“. Man konnte die Menschen ihre Haare wachsen lassen, tragen lassen, was sie wollten, in Kommunen leben und (im Rahmen des Zumutbaren) Drogen nehmen, solange sie weiterhin die eigenen Produkte konsumierten.
So war es möglich, einen politischen „dritten Weg“ zu definieren (Clouscard verwendete diesen Begriff tatsächlich 1972), in dem radikale Gewinne an scheinbarer persönlicher Freiheit mit einer zunehmenden Kontrolle durch immer größere Konzentrationen privater Wirtschaftsmacht kombiniert werden konnten. Dies war der Beginn der Neudefinition des Bürgers mit Rechten zum Konsumenten mit Wahlmöglichkeiten – seien sie real oder imaginär. Wie Clouscard es ausdrückt: Wenn es im Leben darum geht, durch den Erwerb von Konsumgütern und die Ausübung des Rechts, zu tun, was man will, „Spaß zu haben“, dann können ernsthafte politische Fragen nach der Natur von Macht und Reichtum einfach umgangen werden.
Hierin liegt keine Verschwörung, geschweige denn das bewusste Vorgehen des „Beast Capital“. Es ist vielmehr das logische Resultat einer weit verbreiteten egoistischen und oberflächlichen Weltanschauung, die auf der unmittelbaren Bedürfnisbefriedigung und der Ablehnung des umsichtigen, langfristigen Denkens der älteren Generation basiert. Als die „Generation von 1968“ an die politische Macht kam, brachte sie ihren Egoismus und ihre Oberflächlichkeit mit. In Frankreich geschah dies Anfang der 1980er Jahre, in den USA Anfang der 1990er Jahre, in Großbritannien etwas später. Zu sehen war, wie sich das Libéral-libertaire-Projekt ganz natürlich aus der Entwicklung der sozialen Ideologie der neuen Eliten heraus entwickelte: ein wirtschaftlicher Rechtsschwenk, gemischt mit einigen vagen sozialprogressiven Gesten, die den tatsächlichen Geist von 1968 widerspiegelten. Und jetzt ist diese Generation die ältere Generation, die die westliche Welt regiert.
Aber damals war die offensichtliche Frage, wie sie als nächste „herrschende Klasse“, von der Pompidou sprach, Erfolg haben würde. Eine herrschende Klasse kann nur überleben, wenn sie den Zugang zu ihren Reihen zu kontrollieren vermag. Das bedeutet nicht, den Zugang zu verhindern, da dies zu Verkümmerung und manchmal zu Ereignissen wie 1789 führt. Vielmehr bedeutet es, dafür zu sorgen, dass sehr fähige Menschen aus den unteren Schichten rekrutiert werden, aber nur in begrenzter Zahl. Im weiteren Sinne bedeutet es, dass Vorteile, die theoretisch allen zustehen, in der Praxis nicht von mehr als einer Minderheit ausgeübt werden können.
Alles ist erlaubt, aber nichts ist möglich
Hier kommen wir zu Clouscards zweitem Begriff: Tout est permis mais rien n'est possible. Alles ist erlaubt, aber nichts ist möglich. Diese etwas kryptische Formel wurde unterschiedlich interpretiert, aber im Kern geht es um den Unterschied zwischen abstrakten, theoretischen Rechten und der Möglichkeit, diese Rechte in der Praxis auszuüben. Das ist keine neue Idee: Schon lange zuvor argumentierte Spinoza, dass man keine „Rechte“ haben könne, ohne die Macht, sie auszuüben. Und die marxistische Tradition, in der Clouscard stand, verachtete stets die „bürgerlichen Rechte“, die nur die Reichen ausüben könnten.
Clouscard schrieb jedoch über eine Konsumgesellschaft, in der „Rechte“ weit mehr bedeuten als politische Rechte. So ist das internationale Reisen heute viel einfacher und billiger als zu seiner Zeit, aber dennoch in den meisten Ländern einer Minderheit der Bevölkerung vorbehalten. Im vergangenen Jahr konnte sich ein Drittel der französischen Familien keinen Urlaub leisten. Dank des Schengen-Abkommens ist es möglich, in Paris in einen Zug zu steigen und ohne Pass direkt nach Venedig zu fahren: vorausgesetzt, das nötige Kleingeld ist vorhanden. Und grundsätzlich können Staatsangehörige eines EU-Staates sich in einem anderen niederlassen und arbeiten, vorausgesetzt natürlich, sie haben den richtigen Job mit dem richtigen Gehalt. Als international tätiger Anwalt aus den Niederlanden, der mehrere Sprachen spricht, könnte man einen Job an einer deutschen Universität bekommen.
Und die Hindernisse sind nicht nur finanzieller Natur: Wie viele Supermarktkassierer könnten in einem Land mit einer anderen Sprache einen ähnlichen Job bekommen? (Tatsächlich werden die Toiletten der Universität des niederländischen Anwalts wahrscheinlich von osteuropäischen Arbeitern gereinigt.) So viel zum Recht auf Freizügigkeit, das für normale Menschen das Recht bedeutet, verschoben zu werden.
Die „Freizügigkeit“ ist ein hervorragendes Beispiel für Clouscards Argumentation im Allgemeinen: Es geht nicht nur darum, dass die herrschende Klasse der 68er-Generation die einfachen Menschen von der Macht- und Geldkonzentration ablenkt, die sie erreicht hat. Sondern auch darum, dass sie ihre eigenen Prioritäten hat und die Bedürfnisse der einfachen Menschen nicht berücksichtigt. Der niederländische Anwalt hat die Chance, ein neues soziales und berufliches Umfeld kennenzulernen, interessante Orte zu besuchen, Skifahren zu lernen, sein Deutsch zu verbessern und seine Familie in einem mehrsprachigen Umfeld großzuziehen. Die Rumänen, die um 4 Uhr morgens die Mülltonnen vor seiner Wohnung leeren, werden von kriminellen Syndikaten in Minivans quer durch Europa gebracht, erhalten Hungerlöhne ohne Sozialversicherung und leben zu viert in billigen Hotels. Wenn man die europäische Bevölkerung vor die Wahl stellen würde, zwischen der Garantie eines gut bezahlten Arbeitsplatzes einerseits und dem „Recht“, überall in Europa arbeiten zu können, andererseits, wäre die Entscheidung wohl klar.
Das Erasmus-Programm und ähnliche Projekte ermöglichen es Studenten aus ganz Europa, Zeit an ausländischen Universitäten zu verbringen. Theoretisch ist das eine schöne Idee, aber natürlich gibt es einen kleinen Haken: Die Eltern müssen das Geld dafür haben, und man muss in der Lage sein, sich an eine fremde Umgebung anzupassen, was in der Regel bedeutet, dass man mindestens eine weitere Sprache fließend beherrschen muss. Daher kommen nicht viele Kinder aus ärmeren Stadtvierteln in Frage, was ihre Chancen weiter verschlechtert. Zumal die Eliten ihrer eigenen Länder überproportional viele Menschen mit einem breiteren, multinationalen Hintergrund rekrutieren und zunehmend in den Ländern der jeweils anderen Eliten arbeiten. Hinsichtlich der sozialen und wirtschaftlichen Mobilität ist also alles erlaubt, aber für die meisten ist nichts möglich.
All dies verlangsamt und reguliert Veränderungen in der Zusammensetzung der westlichen Eliten. Nirgendwo trifft dies mehr zu als im Bildungsbereich, der seit langem als grundlegender Schlüssel zur sozialen Mobilität anerkannt ist. Grundsätzlich waren die Bildungschancen noch nie so groß wie heute. Eine beispiellose Zahl junger Menschen besucht die Universität.
Doch ein Studium – in den 60er Jahren noch ein Abenteuer, ein Privileg und ein Sprungbrett – ist heute eine obligatorische Investition und Verpflichtung, um nicht den Anschluss zu verlieren. Zusammen mit den ungleichen Chancen, den in vielen Ländern hohen Studiengebühren und den inoffiziellen, aber sehr realen Unterschieden zwischen den Universitäten in Bezug auf Status und Prestige entsteht eine Situation, die sich nicht grundlegend von der Vergangenheit unterscheidet. Damals wurden privilegierte Wege über die Universität zu Spitzenjobs und sozialen Positionen offen anerkannt, anstatt unter dem Prinzip „erlaubt, aber nicht möglich“ verschleiert zu werden.
In Frankreich fungierten die Grandes Écoles, die prestigeträchtiger und schwerer zugänglich sind als Universitäten, historisch gesehen als Filter, der den Zugang zu den obersten Schichten der Gesellschaft kontrollierte. Nach dem Zweiten Weltkrieg gelang es den aufeinanderfolgenden Regierungen, den Kreis der Zulassungen erheblich zu erweitern und viel mehr Studenten aus einfachen Verhältnissen aufzunehmen. Dies wurde schrittweise rückgängig gemacht, als die Generation nach 1968 an die Macht kam und sich dabei ständig mit der oberflächlichen „Vielfalt“ der Studentenschaft brüstete, weil sie Kinder aus der Mittelschicht mit unterschiedlicher Hautfarbe umfasste.
Das Leben als Spiel und Spaß
Als die Generation nach 1968 allmählich die Kontrolle des Bildungssystems übernahm, kam es jedoch zu Veränderungen in den Schulen. Auch wenn nur noch wenige Politiker tatsächlich Schulen niederbrennen wollten, blieb die Vorstellung von Bildung als Unterdrückung, als Zwangsunterricht für unwillige Kinder, um sie ideologisch auf ihren Platz in der Gesellschaft vorzubereiten, weiterhin stark. Dies zeigt sich darin, wie westliche Politiker und ihre Berater seit den 1990er Jahren die Bildung umgestalten und ihr ein ästhetisch und politisch genehmes Muster zu geben versuchen. War nicht schließlich einer der Slogans von 1968 „Alle Lehrer sind Schüler, alle Schüler sind Lehrer“? Die Idee, dass Lehrer und Schüler in einem Prozess des „gegenseitigen Lernens“ stehen, ist heute in der Bildungspolitik vieler Länder verankert und hat die Idee der Wissensvermittlung ersetzt.
Aber auch das ist nur eine Spielerei. Die Bildung findet hingegen in elitären öffentlichen oder häufiger privaten Einrichtungen statt, in denen strenge Disziplin und traditionelle Erziehungsmaßnahmen angewendet werden und der Zugang zu einer elitären Hochschulbildung damit gesichert ist. In Frankreich ist es eine besonders schmerzhafte Ironie, dass die Kinder der nach 1968 herrschenden Klasse und alle, die es sich leisten können, ihre Kinder in Privatschulen der katholischen Kirche unterrichten lassen.
Der im Wesentlichen naive, egozentrische Ansatz der Generation nach 1968 zeigt sich in ihrer Überzeugung, dass ein Großteil des Lebens in Wirklichkeit ein Spiel und Spaß ist oder sein sollte. Eine wesentliche Veränderung war die fortschreitende Verwandlung der Geschäftswelt von einem Ort der strengen Disziplin und grauen Konformität zu einem Ort des Vergnügens, insbesondere wenn man zufällig Unternehmer oder leitender Angestellter war.
Steve Jobs war ein früher Vertreter dieser Trendwende, und er schaffte es tatsächlich, ein erfolgreiches Unternehmen zu gründen. Aber die jüngsten transgressiven Geschäftsleute haben wenig von Wert geschaffen, ja eigentlich gar nichts, außer Ponzi-Schemas und Insolvenzen, obwohl die Pflege eines alternativen, provokanten und transgressiven Unternehmensimages mittlerweile obligatorisch zu sein scheint. Blickt man auf Elon Musk und seine Mitstreiter, scheint es, als ob seine Generation den Kapitalismus und die Regierung gerade gründlicher zerstört, als es sich die Generation von 1968 jemals hätte erträumen können.
Und das Prinzip Spaß gilt natürlich auch für die Politik. Ein Slogan von 1968 war: „Unter dem Pflaster liegt der Strand.“ Ja, das Leben ist ein Strand, und deshalb sollten wir die Möglichkeiten genießen, die es uns bietet, Rollen zu spielen – Präsident, Premierminister –, ohne uns zu sehr mit den langweiligen praktischen Dingen zu beschäftigen, um die sich die Eltern der Generation von 1968 immer gekümmert haben. Einige Fälle – Boris Johnson etwa – sind zu parodistisch und eklatant, um sie zu ignorieren. Aber für die meisten Politiker von heute ist die größere Ernsthaftigkeit vieler politischer Entscheidungen in der Vergangenheit eine ferne Erinnerung, wenn sie sich dessen überhaupt bewusst sind.
Schließlich lässt sich in diesem Zusammenhang auch der Krieg in der Ukraine verstehen. Zumindest für europäische Politiker ist es spannend, es ist aufregend, es ist eine Chance, die glorreichen Tage ihrer Eltern und Großeltern wieder zu erleben. Keir Starmer bekommt die Chance, Winston Churchill zu spielen. Die Führer des Westens sind die Studenten von 1968, die Steine auf die Polizei werfen und den Pferden und Wasserwerfern ausweichen. Anstelle der von ihren Eltern geführten Gesellschaften nehmen sie das Russland von Wladimir Putin ins Visier, eine strenge Vaterfigur, wie es sie wohl nie gegeben hat. Und wenn sie dabei viel zerstören, nun, einer der beliebtesten Slogans von 1968 stammt von Bakunin: „Der Drang zu zerstören ist ein kreativer Drang.“
Die Originalfassung dieses Artikels erschien in englischer Sprache auf dem Substack-Kanal des Autors.