Prüfstein Mindestlohn
Liebe Leserinnen und Leser,
seit seiner Einführung im Jahr 2015 wurde der gesetzliche Mindestlohn bereits 10-mal erhöht – und jedes Mal haben vor allem Unternehmerverbände und ihnen nahestehende Forscher und Politiker vor den Folgen der Anhebung gewarnt. Vor allem bei der ersten Einführung ließen „Top-Ökonomen“ die Öffentlichkeit an ihren Horrorvisionen teilhaben, exemplarisch Deutschlands wohl prominentester „Nationalökonom“ Hans-Werner Sinn. Damals berief er sich auf eine ifo-Studie von 2007, nach der mindestens 1,1 Millionen Menschen arbeitslos werden würden.
Nichts dergleichen ist passiert. Im Gegenteil: Im Jahr der Mindestlohneinführung und in den Folgejahren sank die Arbeitslosigkeit gemäß des bisherigen Trends, während die Reallöhne stiegen – im Jahr der Einführung und dem Folgejahr sogar außergewöhnlich stark. Erst die Doppelkrise ab 2020 bereitete diesem Trend ein jähes Ende.
Ungeachtet dessen befürchten die Wirtschaftsverbände angesichts der nun geplanten Mindestlohnerhöhung auf 15 Euro auch jetzt ökonomische Verwerfungen. Oliver Zander, Hauptgeschäftsführer von Gesamtmetall, warnt in der BILD vor „schweren wirtschaftlichen Schäden“ in Form massiver Preiserhöhungen beim Friseur oder Bäcker und zunehmender Schwarzarbeit, insbesondere in Ostdeutschland.
Indes haben die Erfahrungen nicht nur in Deutschland gezeigt, dass diese Erwartungen wenig mit der Realität zu tun haben. Auch in anderen Ländern gibt es ähnliche Erkenntnisse. In Österreich gehen hohe Investitionsquoten historisch mit einem hohen Anteil der Löhne am Volkseinkommen einher, so der Wiener Think Tank Momentum Institut. Im Umkehrschluss heißt das: Trotz geringerer Profitquote ist die Investitionsquote hoch – also solche Ausgaben, die zentral für den Zuwachs von Arbeitsplätzen sind.
In einer vergleichenden Studie über den Einfluss einer koordinierten Lohnfindung auf die Lohnspreizung zeigen die Ökonomen Kjell G. Salvanes, Magne Mogstad und Gaute Torsvik außerdem: Mit einer stärkeren kollektiven Verhandlungsmacht der Gewerkschaften in Dänemark, Schweden und Finnland geht eine geringere Einkommensungleichheit als in den USA einher. Dennoch ist die Arbeitsproduktivität nahezu auf dem Niveau der Nordamerikaner, so Salvanes im Interview mit dem MAKROSKOP-Redakteur Malte Kornfeld. Und noch wichtiger: Die Nordeuropäer gehören im Unterschied zu den US-Amerikanern zu den glücklichsten Menschen der Welt.
Kaum verwunderlich also, dass eine nachfrageorientierte Wirtschaftspolitik zumindest an manchen Orten der Welt eine Renaissance erfährt. China macht es vor. Durch Maßnahmen wie die Förderung des sozialen Wohnungsbaus und einer Ausweitung der Einkommenshilfen für Senioren und Kleinkinder hat Peking es geschafft, die Wirtschaftsrise zu überwinden, so Shanghais renommierter Wirtschaftswissenschafter Zhang Jun in dieser Ausgabe. Das Wirtschaftswachstum hat das erste Quartal 5,4 Prozent betragen und damit seine deutliche Beschleunigung seit dem dritten Quartal des vergangenen Jahres fortgesetzt.
Jetzt haben SPD und Union mit der Mindestlohnerhöhung die Gelegenheit zu zeigen, ob sie mit Chinas nachfrageorienterter Wirtschaftspolitik mithalten können. Wird der Mindestlohn zum Prüfstein der neuen Regierung?
Alle Artikel und Themen dieser Ausgabe:
- Politik als Spiel: Alles ist erlaubt, aber nichts ist möglich Der französische Philosoph Michel Clouscard ist heute nahezu unbekannt. Doch seine Abrechnung mit 1968 bietet eine Erklärung, warum unsere Gesellschaften und politischen Systeme heute in einer tiefen Krise stecken. Ein Essay. Aurelien
- Carsten Herbert: „Wir werden den Anforderungen der Wärmewende nicht gerecht“ Das Gebäudeenergiegesetz bleibt auch in der neuen Legislatur ein Reizthema. Die Union will es nun rückabwickeln. Doch die Debatte geht an den eigentlichen Problemen der Wärmewende vorbei, meint Deutschlands bekanntester Energieberater Carsten Herbert. Lukas Poths
- „Der zentrale Ausgleichsfaktor sind die Löhne“ Betriebliche Mitbestimmung, universeller Zugang zu einem ausgebauten Gesundheitssystem oder ein durchlässiges Bildungssystem – die skandinavischen Sozialstaaten gelten als Weltspitze. Aber erklären sie auch sie die geringe Lohnungleichheit? Kjell Salvanes weiß mehr. Malte Kornfeld
- End Game Ukraine? Darf man in einem gerechten Krieg einen ungerechten Frieden akzeptieren? Ulrike Simon
- Aus der Schuldenlogik befreites Geld Mit einer Reform des Geldsystems wollen drei französische Autoren den großen Herausforderungen unserer Zeit begegnen. Ihr Vorschlag: eine neue Form der Geldschöpfung, die nicht der Profitmaximierung, sondern dem Gemeinwohl dient. Franz Schneider
- Papst Franziskus und die katholische Soziallehre Der verstorbene Papst Franziskus wird in den Nachrufen als Freund der Armen gewürdigt. Aber seine Frömmigkeit ist kein Leitstern einer modernen Gesellschaftspolitik, sondern ein in Lateinamerika verwurzelter „Herz-Jesu-Sozialismus“, so Rainer Hank in der FAZ. Die katholische Soziallehre hat in Deutschland eine andere Tradition. Hartmut Reiners
- Der Kampf Chinas um den Binnenmarkt Die Corona-Pandemie und die Energiekrise haben auch China stark zugesetzt. Doch mithilfe einer nachfrageorientierten Wirtschaftspolitik wächst das Reich der Mitte aus der Krise. Zhang Jun
- Lohnzuwächse hemmen Investitionen nicht Immer wieder warnen Wirtschaftsforscher und Konzernchefs vor Lohnzuwächsen. Sie würden Gewinneinbrüche verursachen und Investitionen erschweren. Der langjährige Vergleich aber zeigt das Gegenteil: Je höher die Gewinne, desto niedriger die Investitionen. Die Redaktion