Ronaldo als Zwangsarbeiter des Staates
Wer sich für soziale Gerechtigkeit oder eine intakte Natur einsetzt, stößt schnell auf die Frage nach der Legitimität von Eigentum. Die vielschichtige philosophische Diskussion ist jedoch wenig bekannt.
Leon ist aufgebracht über die soziale Ungleichheit in Deutschland: Sein Vater musste für einen Hungerlohn arbeiten, während der Investor Rasch große Summen aus dem Unternehmen zog. Mit Sophie diskutiert er über Eigentumstheorien.
„Die große sozial Ungleichheit hängt vielleicht auch damit zusammen, dass viele eine bestimmte Vorstellung von Eigentum verinnerlicht haben. Ich habe vollen Anspruch auf mein Einkommen und Vermögen. Wenn der Staat Steuern einzieht, dann nimmt er mir etwas weg, das eigentlich mir gehört. Das ist nicht nur für Rasch, sondern vermutlich für die meisten Menschen so selbstverständlich, wie die Tatsache, dass sich die Erde um die Sonne dreht.
In der Philosophie wird diese Position nicht zuletzt von ökonomisch rechten Libertären verteidigt. Einer von ihnen ist der bekannte amerikanische Philosoph Robert Nozick. Nozick lehnt Steuern als Freiheitsberaubung ab, sofern sie nicht einem Minimalstaat dienen, der für Sicherheit sorgt. Es ist Ausdruck menschlicher Freiheit, sich Dinge anzueignen.
Schauen wir uns dazu einen reichen Fußballspieler wie Ronaldo an. Ronaldo verdient viele Millionen jedes Jahr. Davon muss er aber Steuern bezahlen, die der Staat einzieht und ärmeren Menschen zugutekommt. Ist das gerechtfertigt? Der Staat hat Ronaldo vorher nicht gefragt, ob er damit einverstanden ist. Darüber hinaus hat Ronaldo niemals eine Anerkennung des Staates unterzeichnet oder einen Vertrag unterschrieben, in dem er sein Einverständnis mit Steuern erklärt. Wenn der Staat also Ronaldo besteuert, tut er genau das, was Diebe tun: anderen Dinge gegen ihren Willen wegnehmen. Da Ronaldo nicht um die Steuern herumkommt, ist er zudem gezwungen, einen Teil seiner Arbeit umsonst zu machen. Das ist aber Zwangsarbeit. Zwangsarbeit ist aber sicher nicht moralisch richtig. Sie schränkt unsere Freiheit ein.“
„Mit der Einschränkung von Freiheiten muss man in einer Gesellschaft aber nun mal leben. Nozick will sicher nicht die Verkehrsregeln abschaffen, sodass jeder mit über hundert durch die Innenstadt fahren darf. Warum dann keine Einschränkung für übertriebenen Reichtum? Warum keinen Ausgleich für eine ungerechte Verteilung?“
„Um diesem Einwand zu begegnen, hat Nozick das Beispiel des Fußballspielers auf raffinierte Weise ausgebaut: Angenommen, Ronaldo bekommt einen neuen Vertrag, der ihm ein zusätzliches Einkommen in Aussicht stellt. Ronaldo darf eine Box an den Eingang des Fußballstadions stellen, in die jeder Zuschauer Geld werfen kann, um Ronaldo zusätzlich zu motivieren. Wie reagieren die Zuschauer?“
„Sie finden das gut.“
„Sie sind von Ronaldos Künsten begeistert und spenden ihm zusätzlich zwei Millionen. Jetzt kommt die entscheidende Frage: Ist es richtig, wenn der Staat auf diese zwei Millionen Steuern erhebt? Nozicks Antwort ist Nein und zwar auch dann, wenn das Vermögen jetzt ungerechter verteilt ist. Der Grund ist, dass der Staat die Freiheit von Menschen einschränkt. Wenn der Staat Ronaldo Geld wegnimmt, schränkt er seine Freiheit ein. Er hätte mit dem Geld etwas tun können, das er jetzt nicht mehr tun kann: Eine Reise machen, ein Auto oder eine Immobilie einkaufen.
Der Staat beschneidet aber auch die Freiheit der Zuschauer. Sie haben Ronaldo ihr Geld freiwillig gegeben. Es war nicht ihr Wille, dass der Staat, sondern dass Ronaldo ihr sauer verdientes Geld bekommt. Auch sie müssen also Zwangsarbeit leisten. Selbst wenn die Verteilung des Vermögens ungerechter geworden ist, ist sie doch moralisch richtig: Sie entspringt der freien Entscheidung von Menschen. Dies gilt aber nicht nur für dieses Beispiel: Was Menschen für Konsumprodukte kaufen, welchen Vereinen sie Mitgliedsbeiträge bezahlen oder welche Partei sie finanziell unterstützen – immer handelt es sich um ihre freien Entscheidungen.“
„Rasch ist bestimmt ein großer Anhänger von Nozick. Seine Argumente klingen auf den ersten Blick überzeugend. Mir scheint aber etwas faul daran zu sein, obwohl ich nicht genau sagen kann, was.“
Wer zuerst kommt, mahlt zuerst – das Argument der Erstokkupation
„Natürlich haben Philosophen Nozick widersprochen. Bevor wir zu Gegenargumenten kommen, sollten wir uns aber weitere Argumente ansehen, die Eigentum auf die eine oder andere Wiese rechtfertigen. Eines der bekanntesten Argumente ist die Erstokkupation. Wer ein unbewohntes Land zuerst für sich beansprucht und eine Fahne hisst, Grenzpfähle in den Boden rammt oder einen Zaun errichtet, dem soll es auch gehören. Obwohl heute fast die ganze Landmasse und das Meer bereits von Staaten beansprucht werden, ist dieses Argument immer noch aktuell. Auch heute noch fordern indigene Ureinwohner von den Kolonialstaaten Gebiete mit dem Argument zurück, dass sie zuerst da waren. Sollte es einmal zu Streitigkeiten um die Ressourcen des Mondes kommen, könnten die USA dieses Argument ebenfalls anführen: Wir haben zuerst die Fahne gehisst. In der Philosophie wurde das Argument der Erstokkupation unter anderen von Kant und Hegel vertreten.“
„Könnten auch meine Eltern oder Rasch sich auf dieses Argument berufen? “
„Das dürfte schwierig werden: Wer weiß schon, wessen Vorfahren in Deutschland ein Stück Land zuerst beansprucht haben? Europa wird seit über 40.000 Jahren von Menschen besiedelt. Die Antwort verliert sich im historischen Dunkel. Kommen wir zu einem weiteren Argument, das nicht weniger bekannt sein dürfte: Arbeit.“
„Wer etwas erarbeitet hat, darf es auch besitzen?“
Was ich schaffe ist auch mein – die Arbeitstheorie des Eigentumserwerbs
„Ja. Der bekannteste Vertreter der Arbeitstheorie ist der englische Philosoph John Locke. Die Arbeitstheorie entspricht einer verbreiteten Intuition: Wenn ich Arbeit in einen Gegenstand hineinstecke, dann gehört er mir auch. Wenn ich einen herrenlosen Stein mit viel Mühe zu einem Elefanten geformt habe, hat außer mir niemand mehr Anspruch auf ihn.“
„Wie begründet Locke diese Idee?“
„Lockes Grundgedanke ist, dass Menschen sich selbst gehören. Das entspricht der verbreiteten Sicht, dass niemand anders einen berechtigten Zugriff auf meinen Körper hat. Ohne besonderen Grund darf mir niemand den Weg versperren, mich festhalten oder gar meinem Körper Schaden zufügen. Bei Locke ist Selbsteigentum allerdings nur abgeleitet: Der tatsächliche Eigentümer meiner selbst ist Gott. Das bedeutet aber zugleich, dass kein anderer Mensch über mich verfügen kann. Nur ich selbst bin für das, was ich tue, vor Gott verantwortlich. Selbst ein König darf nicht über mich verfügen und darauf kam es Locke besonders an: Das absolutistische Königtum, das das ganze Land als Eigentum beanspruchte, befand sich damals Konflikt mit der reichen Oberschicht, in deren Diensten Locke stand.“
„Und wie wird aus dem Eigentum über mich selbst Eigentum über Dinge?“
„Wenn ich mir selbst gehöre, dann gehört mir auch meine Arbeit. Arbeit ist aber praktisch immer mit Dingen verbunden. Ich forme einen Fels zu Mauersteinen, verhütte Gestein zu Metall oder durchpflüge ein Stück Land. Dadurch vermischt sich meine Arbeit mit den Dingen. Da meine Arbeit mir gehört, werden auch die mit meiner Arbeit vermischten Dinge zu meinem Eigentum. Durch Arbeit wird also Gemeineigentum zu privatem Eigentum.“
„Aber sollten dann meinem Vater nicht auch die Maschinen und Werkzeuge gehören, mit denen er in Raschs Firma tagtäglich gearbeitet hat? Wenigstens als Miteigentümer?“
„Dem würde Locke entgegnen, dass dies nur für Dinge gilt, die vorher noch niemand gehört haben. Und Rasch hat die Maschinen nun mal gekauft. Rasch würde aber noch etwas anderes hinzufügen: Würde er die Maschinen nicht besitzen, würden wir alle schlechter dastehen – auch deine Familie. Unsere Eigentumsordnung, die ihm die Rechte an den Maschinen gewährt, ist nämlich für den Wohlstand unserer Gesellschaft verantwortlich.“
„Wie ist das zu verstehen?“
Die Nutzentheorie des Eigentumserwerbs
„Diese Theorie wurde unter anderem von dem schottischen Philosophen David Hume und dem englischen Philosophen Jeremy Bentham vorgebracht: Eine Gesellschaftsordnung, die Eigentumsrechte gewährt, ist nützlicher als eine Gesellschaftsordnung, die keine Eigentumsrechte garantiert. Welchen Nutzen hat aber Eigentum? Einmal ist es für Menschen offenbar erstrebenswert, Dinge zu besitzen. Manche Dinge wie Nahrung und Kleidung sind überlebenswichtig, können aber auch – wie viele andere Dinge – zum Glück eines Menschen beitragen. Menschen freuen sich darüber ein Haus, ein Auto oder Schmuck zu besitzen. Das Streben nach Eigentum kann aber auch moralisch gutes Verhalten fördern: Wer ein Erbe zu erwarten hat, verhält sich den Eltern gegenüber nicht ungehörig, betonte David Hume.
Das Streben nach Eigentum kann natürlich ebenso zu unmoralischem Verhalten führen, wenn anderen Menschen ihre Lebensgrundlage entzogen wird. Aber gerade deshalb ist es sinnvoll, eine Gesellschaftsordnung mit Eigentumsrechten zu haben, die das Eigentum von Menschen vor Übergriffen anderer schützt. Eigentumsrechte gewähren Sicherheit im Hinblick auf die Dinge, die man zum Leben braucht oder die einem Glück bringen.“
„Wenn das so ist, dann sollte meine Familie ein Haus oder eine Eigentumswohnung besitzen. Das wäre eine große Entlastung für uns. Wenn die Stadt die Sozialwohnungen an Rasch verkauft, ist das für uns alles andere als nützlich. Wenn die Stadt umgekehrt allen eine eigene Immobilie garantieren würde, wäre vielen Menschen geholfen.“
„Das ist eine mögliche Folgerung aus diesem Argument: Jeder sollte ein Dach über dem Kopf besitzen, also über das Privateigentum einer Wohnung oder eines Hauses verfügen. Rasch würde das aber sicher ablehnen. Die Verteilung der Wohnungen würde dann nicht durch den Handel am Markt, sondern eine staatliche Institution erfolgen. Für Rasch ist aber nicht irgendeine Eigentumsordnung, sondern eine marktwirtschaftliche Eigentumsordnung für alle letztlich am nützlichsten. Durch einen Markt entsteht Wettbewerb und Wettbewerb ist effizient: Er setzt die Menschen unter Konkurrenzdruck und verhilft den besten Ideen und Konzepten zur Durchsetzung. Wie effizient die Marktwirtschaft ist, zeigt ihre Überlegenheit über die kommunistischen Planwirtschaften. Der Markt schafft Wohlstand und neue Freiheiten. Das gilt letztlich für alle Bereiche der Wirtschaft, auch das Wohnen. Wer welche Wohnungen besitzt, sollte der Markt bestimmen und nicht der Staat.“
„Was das Wohnen betrifft, ist dieser Nutzen noch nicht bei uns angekommen, scheint mir. Dass wir wahrscheinlich bald umziehen müssen, empfinde ich als eine Beraubung von Freiheit.“
„Rasch würde dich wahrscheinlich fragen, ob es dir lieber wäre, in der Armut und Unsicherheit zu leben, die die Menschen vor der kapitalistischen Industrialisierung hatten.“
„Da frage ich mich, ob der materielle Wohlstand nicht auch auf anderem Weg hätte erreicht werden können und ob der Wohlstand immer noch oder immer noch so stark vom Markt abhängt.“
„Das sind tiefgehende Fragen. Gut, damit haben wir einige wichtige Argumente für private Eigentumsrechte zusammen, wobei es natürlich noch weitere gibt. Die Nutzentheorie lässt sich zu einer Vertragstheorie erweitern: Es sollen diejenigen Eigentumsrechte gelten, auf die eine Gemeinschaft sich bei der Staatsgründung in einer Verhandlung geeinigt hat. Über Vertragstheorien habe ich bereits mit Lukas gesprochen.“
„Hat er mir erzählt.“
„Dann kommen wir zu den Gegenargumenten. Was spricht gegen Privateigentum und für Gemeineigentum? Wie könnte Eigentum anderes als durch den Markt verteilt werden? Tatsächlich gehen in der Philosophie nur wenige so weit wie Nozick. Die meisten Philosophen, auch Locke und Hume, haben sich für Einschränkungen ausgesprochen. Andere sind noch weiter gegangen und haben Privateigentum grundsätzlich abgelehnt.“
„Diese Diskussion würde mich interessieren.“
Dieser Text ist eine Ergänzung zu dem Buch „Die blinden Flecken der Demokratie“, in dem das Verhältnis von Eigentum und Demokratie diskutiert wird.