So bedeutsam ist die Zinssteuerung
Der neoklassische Mainstream setzt bei der wirtschaftspolitischen Steuerung auf die Zentralbank und ihren Zins. Die Fiskalpolitik soll sich zurückziehen. Warum das nicht zielführend ist und wie der Postkeynesianismus es vorgeblich besser macht.
Alle Jahre wieder kocht die Wirtschaft über, alle Jahre wieder bricht sie ein – zumindest bei suboptimaler Wirtschaftspolitik, könnte argumentiert werden. Schon der Postkeynesianer Hyman Minsky stellte in seiner Essaysammlung Can It Happen Again? (1982) und seinem geldpolitischen Anschlusswerk an John Maynard Keynes (1990) fest, dass der Kapitalismus von Natur aus instabil ist und ohne wirtschaftspolitische Steuerung in die Krise führt.
„Stability breeds instability“, Stabilität führt zu Instabilität, so die These aus John Maynard Keynes: Finanzierungsprozesse, Investition und Instabilität des Kapitalismus. In Zeiten des wirtschaftlichen Aufschwungs steige der Optimismus und die Privatwirtschaft gehe größere Risiken ein – irgendwann zu große. Die zunehmende Risikobereitschaft wird von neuen Finanzinnovationen begleitet. Inflation und Verbindlichkeiten in der Volkswirtschaft steigen, ohne dass die Realwirtschaft hinterherkommt. Wenn die Zentralbank nun, wie es im aktuellen System vorgesehen ist, die Zinsen anhebt, um die Preisentwicklung zu bremsen, kommt es, wie es kommen muss: das Kartenhaus bricht ein. Im schlechtesten Fall rollt eine Insolvenzwelle durch die Wirtschaft, die Arbeitslosigkeit grassiert. So die Logik.
Die internationale Finanzkrise im Jahr 2008/9 ist auch nach Minskys Zeit ein gutes Beispiel. In großem Stil vergaben Banken in den USA Immobilienkredite an Menschen ohne solide persönliche Finanzen. Verbrieft fanden sie ihren Weg in Bilanzen von Finanzinstitutionen auf der ganzen Welt. Als Reaktion auf die Inflation hob die FED die Zinsen an, viele Krediten fielen aus und diverse große Banken kamen ins Straucheln.
Wie nun also kann ein solches Desaster wirtschaftspolitisch vermieden werden und im Speziellen: Welche Bedeutung kommt der Zinssteuerung der Zentralbank dabei zu beziehungsweise welche Rolle sollte sie übernehmen? Welche Folgen haben verschiedene Strategien und welche Abwägungen ergeben sich für die Politik im Kapitalismus des 21. Jahrhunderts?
Lieber Krise als Inflation – der neoklassische Mainstream
Im aktuellen, neoklassisch inspirierten System kommt den Zentralbanken über das Einrahmen des Zinses eine zentrale Rolle in der Steuerung der Wirtschaft zu. Die Dominanz des neoklassischen Ansatzes hat sich mit der Ölkrise in den 70er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts entwickelt. Zuvor hatten keynesianische Ansätze mehr Raum in der wirtschaftspolitischen Debatte, zumindest was kurzfristige fiskalpolitische Interventionen in Zeiten der Krise anging. Langfristig sollte die angebotsseitige und strukturbetonte Ansatz der Neoklassik gelten. Diese Kombination ist heute unter dem Namen „neoklassische Synthese“ bekannt.
Mit der Ölkrise wurde nun eine Energiepreisinflation importiert, die zur wirtschaftlichen Krise führte und die Wirtschaftspolitik vor ein Dilemma stellte, das durch nationale Mittel nicht gelöst werden konnte. Sollte die Fiskalpolitik gegenhalten und so die Wirtschaft ankurbeln, was aber die Inflation weiter befeuern würde? Dieser Problemfall soll im weiteren Text mitdiskutiert werden.
Die Stagflation als Folge der Ölkrise ermöglichte den Durchbruch der Neoklassik. Niedrige Preise waren das konsensuale Ziel der Stunde in Deutschland. Da die Fiskalpolitik sich nicht verlässlich zeige, was die Inflationssteuerung anging, und darüber hinaus private Investitionen verdränge, so das Argument, sollte es nun die unabhängige Geldpolitik über die Zinssteuerung richten. Politiker würden grundsätzlich eher ihr Wählerklientel bedienen, statt technokratische Politik zu machen, so die Annahme.
Die neoklassische Inflationssteuerung über die Geldpolitik folgt dabei einem Modell. Die Grundannahme ist, dass der zentrale Faktor, der die Inflation im Regelfall anheizt, die Steigerung der Löhne ist. Der angebotsseitigen Logik folgend bedeuten steigende Löhne mehr Kosten für die Unternehmen, worauf sie mit Preiserhöhungen reagieren. Der sich nun einstellende Reallohnverlust der Arbeiter provoziert weitere Arbeitskämpfe der Gewerkschaften, die den Verlust ausgleichen möchten. Das führt wieder zu Preisanhebungen der Unternehmen – ein Teufelskreis.
Diesen gelte es durch die Zentralbank zu durchbrechen. Mit einem Anheben der Zinsen und der Erzeugung einer Krise soll die Produktion auf ein Niveau des Produktionspotenzials (bzw. der „natürlichen Arbeitslosigkeit“) gesenkt werden, bei dem die Gewerkschaften nicht zu optimistisch werden und auf überhöhte Lohnforderungen verzichten. Wichtig sei eine harte Geldpolitik, die mittelfristig Glaubwürdigkeit ausstrahle. Langfristig könne die Inflationsstabilisierung durch strukturelle Reformen, also etwa eine gesetzliche Schwächung der Gewerkschaften erreicht werden. Dem entgegen: Sollen Preise gesteigert, also die Wirtschaft angeheizt werden, setzt die Strategie über eine Senkung des Zinses auf günstigere und so mehr Investitionen.
Die neoliberale Wirtschaftspolitik mit der Neoklassik als theoretischem Überbaubau setzt das Ziel der Inflationsbekämpfung an erste Stelle. Krise und Arbeitslosigkeit nimmt sie nicht nur in Kauf, sondern verstärkt sie sogar. Eine Krisenvermeidung ist nicht ihr Ziel. Der Postkeynesianismus als zentrale Opposition kritisiert dieses Vorgehen stark und schlägt einen anderen Ansatz vor.
Vermeidung von Arbeitslosigkeit – die keynesianische Alternative
Während die Neoklassik die Inflation fürchtet und Arbeitslosigkeit in Kauf nimmt, verfolgt der Postkeynesianismus einen entgegenstehenden Ansatz. Zentrales Ziel ist Vollbeschäftigung und die Minimierung von Arbeitslosigkeit. Da die Inflationsbekämpfung über Zinsanhebungen die Beschäftigung senken soll, wird das Verfahren abgelehnt. Eine Betrachtung vergangener Krisen zeigt, dass in nahezu jedem Fall auf eine vorherige Zinserhöhung der Zentralbanken ein wirtschaftlicher Einbruch folgt.
Dies ist aus folgenden Gründen auch nicht überraschend: Wie Minsky erkannte, wird sich der Kapitalismus ohne eine strikte Regulierung ab irgendeinem Punkt von alleine in einem Zustand der finanziellen Instabilität bewegen. Minsky erklärt, dass sich durch Zinserhöhungen die Finanzierungsmodelle verschieben.
Minsky beschreibt drei Finanzierungsmodelle: die abgesicherte, die spekulative und die Ponzi-Finanzierung. Bei der abgesicherten Finanzierung übersteigen die Erträge zu jeder Zeit die zukünftigen Zahlungsverpflichtungen; bei der spekulativen Finanzierung übersteigen die erwarteten Erträge zumindest beim aktuellen Zinsniveau die Zahlungsverpflichtungen; und bei der Ponzi-Finanzierung übersteigen die erwarteten Erträge die Zahlungsverpflichtungen generell nicht – eine fortwährende Verschuldung wird nötig.
In Zeiten des Aufschwungs wird mehr Risiko eingegangen – Modelle der spekulativen und Ponzi-Finanzierung nehmen zu. Steigt nun der Zins, weil die Zentralbank die Inflation bekämpfen will, rutschen spekulative Finanzierungsmodelle in den Ponzi-Bereich: ein Zahlungsausfall droht, Unternehmen versuchen sich zu entschulden, investieren nicht mehr, wodurch weitere Erträge wegbrechen, und die Arbeitslosigkeit steigt – ein Teufelskreis.
Das erste Ziel des Potkeynesianismus vor der Krisenbewältigung ist es, die Krise gar nicht erst entstehen zu lassen. Droht die Wirtschaft zu überhitzen, sei es die Aufgabe der Fiskalpolitik, die Ausgaben zurückzufahren und durch eine verringerte aggregierte Nachfrage den Preisdruck zu senken. Im Vergleich zur Neoklassik sieht der Keynesianismus die Nachfrageseite als zentrale Treiberin der Wirtschaft an.
Was die Inflation betrifft, distanziert sich der Postkeynesianismus vom Konzept der natürlichen Arbeitslosigkeit und der Zentralität von Gewerkschaftsmacht als Preistrieb. Entscheidend sei zuerst einmal, wie stark die Wirtschaft ausgelastet ist – sprich: ob sie vollausgelastet ist oder nicht.
Ist die Wirtschaft nicht voll ausgelastet, führt eine Erhöhung der Nachfrage, etwa durch expansive Fiskalpolitik, nicht zu steigenden Preisen, da weiterhin Arbeitskräfte zur Verfügung stehen, um Kapazitäten bei zusätzlicher Nachfrage zu erweitern. Ist die Wirtschaft bereits voll ausgelastet, treibt die zusätzliche Nachfrage nur die Preise hoch.
Grundsätzlich nehmen Postkeynesianer an, dass die Wirtschaft meist nicht voll ausgelastet ist beziehungsweise bestehende Kapazitäten umgelenkt werden können. Dieser Ansatz wird unterfüttert durch die Beobachtung, dass der massive Ankauf von Staatsanleihen durch die Europäische Zentralbank nach der Eurokrise nicht zur Inflation im Euroraum geführt hat, wie es Mainstream-Ökonomen beschworen haben. Mit dem demografischen Wandel in den entwickelten Ländern und tendenziell abnehmenden Erwerbstätigen, also mutmaßlich zunehmender Vollbeschäftigung, könnte sich das in Zukunft jedoch ändern.
Kommt es nun aber trotzdem zur Krise, so Minsky in Can It Happen Again?, solle die Zentralbank nicht die Zinsen erhöhen und eine weitere Krise erzeugen, sondern im Gegensatz dazu die Zinsen eher senken und Wertpapiere ankaufen, um eine leichtere Entschuldung zu ermöglichen. Parallel dazu solle die Fiskalpolitik ihre Ausgaben erhöhen, um die Erträge der Unternehmen zu stabilisieren. Der Staat verschuldet sich, damit sich der Privatsektor entschulden kann. Zusätzlich stabilisiert die Emission weiterer Staatsanleihen die Wertpapiermärkte. Das Zusammenspiel von Zentralbank und Fiskalpolitik unterbricht so den Teufelskreis der Verschuldung und verhindert steigende Arbeitslosigkeit.
Obwohl durch diese Strategie zwar Arbeitslosigkeit verhindert wird, geht die expansive Politik in manchen Fällen – etwa bei jener importierten Inflation durch gestiegene Energiepreise – mit Inflation einher. Während die Neoklassik niedrigere Inflation und höhere Arbeitslosigkeit anstrebt, präferiert der Postkeynesianismus in so einem Fall niedrigere Arbeitslosigkeit und höhere Inflation.
Im Unterschied zur Neoklassik nimmt die Zinssteuerung der Zentralbank im Postkeynesianismus eine kleinere Rolle in der aktiven Wirtschaftspolitik ein. Viele Postkeynesianer schreiben der Fiskalpolitik als Teil der aggregierten Nachfrage den größten Effekt auf die Preisentwicklung zu. Diese Annahme untermauern sie mit dem Hinweis, dass durch das Senken des Zinskorridors kein Anstieg der privaten Investitionen zu erwarten ist.
Investitionsentscheidungen von Unternehmen sind in Minskys Can It Happen Again? nicht zentral durch die Höhe des Zinses und somit von der Zentralbank vorgegeben. Bedeutsam ist etwa die Nachfragesättigung in der Wirtschaft und die subjektive Risikopräferenz der Unternehmen. Letztere bemisst sich an der fundamentalen Unsicherheit, was die wirtschaftliche Zukunft angeht. Relevant sind nicht nur die Kosten der Investitionen, sondern auch die erwarteten Erträge, die bis zu einem gewissen Punkt ungewiss sind. Gehen Unternehmen in der Krise tendenziell weniger Risiko ein, hilft auch ein niedriger Zins nicht unbedingt.
Zusammengefasst: Anders als Neoklassiker sehen Postkeynesianer in der Zinssteuerung kein effektives Mittel, um die Beschäftigungsentwicklung positiv zu beeinflussen. Da das Schadenspotenzial bei Zinsanhebungen groß ist, lehnen viele Postkeynesianer ein „Herumspielen“ am Zins ab. Besser sei es, den Zins grundsätzlich konstant auf niedrigem Niveau zu halten und der Fiskalpolitik das Ruder zu überlassen. Durch das Halten des Zinskorridors auf niedrigem Niveau, so argumentiert der Wirtschaftsmathematiker Michael Paetz, hätten Privatbanken zudem gesicherte Einnahmen über die Einlagen bei der Zentralbank, um mit diesen die Bereitstellung ihres digitalen Zahlungssystems finanzieren zu können.
Ziele und mögliche Reformen
Schlussfolgern lässt sich: Wie bedeutsam die Geldpolitik und ihre Zinssteuerung für die Wirtschaftspolitik ist, kommt stark auf die getroffenen Annahmen sowie die verfolgten Ziele an. Plausibel erscheint, dass sich die Wirtschaft über die Fiskalpolitik effektiver und zielführender stimulieren lässt als nur über den Zinskorridor der Zentralbank. Investitionsentscheidungen für mehr Nachfrage hängen eben nicht nur von den Kosten ab.
Doch wie verlässlich ist das Instrument der Fiskalpolitik für die Steuerung der Wirtschaft wirklich? Zwar ist expansive Fiskalpolitik pauschal keine Inflationstreiberin. Fraglich aber bleibt, ob breite Koalitionsregierungen (wie zumindest in Deutschland typisch) in der Lage sind, das Budget an die aktuelle makroökonomische Lage adäquat anzupassen. Hindernisse scheinen in der aktuellen Auseinandersetzung jedoch weniger zu hohe Ausgaben und Klientelpolitik zu sein, sondern Dogmen wie die Schuldenbremse, ein „schlanker Staat“ und Marktgläubigkeit.
Die Rolle und Bedeutung der Zinssteuerung hängt weiterhin stark von den proklamierten wirtschaftspolitischen Zielen ab. Ist das höchste Ziel die Vollbeschäftigung, sollte der Zins in Zeiten der Instabilität im Boom nicht angehoben werden. Ein Senken des Zinses ermöglicht Entschuldung in der Krise. Wird im Kampf gegen die Inflation Arbeitslosigkeit bewusst in Kauf genommen oder sogar erhöht, kann die Geldpolitik im Grenzfall importierter Inflation als weiteres Werkzeug im wirtschaftspolitischen Instrumentenkasten angesehen werden.
Wie verschiedene Ziele bei der Entscheidung über die richtige Wirtschaftspolitik gewichtet werden – ob etwa Beschäftigungspolitik oder niedrige Inflation priorisiert wird –, bringt auch Verteilungseffekte mit sich: Eine hohe Beschäftigung bei höheren Preisen verhindert zwar, dass einige sehr viel verlieren, nimmt aber anderen reale Kaufkraft. Wird niedrige Inflation bei höherer Arbeitslosigkeit gewählt, hat die Mehrheit vielleicht weniger Kaufkraftverluste, einige andere verlieren jedoch sehr viel. Beide Szenarien können auch unterschiedliche Auswirkungen auf das Wahlverhalten haben. Entsprechend müssen die adressierten Ziele mit ihren erwartbaren Konsequenzen demokratisch ausgehandelt werden.
Entscheidend ist natürlich, woher die Inflation kommt – ob sie Folge der nationalen Wirtschaft ist, oder, etwa über Energiepreise, importiert wird. Ist sie importiert und die Energie kann etwa nicht national substituiert werden, lösen nationale Maßnahmen das Problem auch nicht. Sie verändern einfach die Verteilung – erneut eine Aushandlungssache. Was nationale Dynamiken und die allgemeine Lohnentwicklung betrifft, lohnt es, über eine staatlich regulierte Anhebungsdynamik nachzudenken, statt dies über einen Machtkampf zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern entscheiden zu lassen. Dies könnte auch mit einer Reform des Privateigentums und des Geldsystems sowie der Möglichkeit der Zentralbank einhergehen, Staatsanleihen direkt und nicht über den Umweg der Geschäftsbanken zu kaufen. Die Ideen sind vielfältig.