Sind Artefakte politisch?
Liebe Leserinnen und Leser,
willkommen in einer neuen Woche. "Do Artifacts Have Politics?" hieß ein 1980 veröffentlichter Zeitschriftenartikel des politischen Theoretikers Langdon Winner. Winners damals neuartige These war, dass Artefakte, die man auf den ersten Blick für rein technische Objekte hält, politische Funktionen haben und Formen der Autorität und Unterwerfung verkörpern können.
Winner führt Beispiele für technische Systeme an, die auf den ersten Blick vielleicht nicht explizit irgendeine Form politischer Intention zum Ausdruck bringen. In Wirklichkeit aber haben sie konkrete soziale Auswirkungen: Die Einführung der mechanischen Tomatenerntemaschine im Jahr 1949 führte dazu, dass neue Tomatensorten gezüchtet wurden, die mit den rauen Bewegungen der Maschinen besser zurechtkommen. Die Kombination aus neuen Maschinen und neuen Tomatensorten hatte dramatische Auswirkungen auf die bäuerlichen Gemeinschaften, die von den großen Agrarunternehmen verdrängt wurden.
Es ist ein Beispiel, das zeigt, wie einige Technologien dazu dienen, ein Machtsystem aufrechtzuerhalten, in dem qualifizierte Führungskräfte die Entscheidungen treffen. Den Arbeitnehmern wird nicht das Recht eingeräumt, sich am Entscheidungsprozess zu beteiligen, der bestimmt, wie die Technologie die Art und Weise beeinflusst, wie Menschen miteinander agieren. Je komplexer die Systeme werden, so Winner, desto sinnvoller erscheint eine zentrale Kontrolle durch sachkundige Personen, die an der Spitze einer starren sozialen Hierarchie stehen.
Dean Baker und Joseph Kuhn führen in dieser Ausgabe das jüngste Beispiel dieser Frage an: Die Künstliche Intelligenz. Tech-Konzerne führen mit ihren KI-Anwendungen gerade einen ebenso heimlichen wie gigantischen Raubzug durch: Sie eigenen sich die geistigen Produkte der gesamten Menschheit an. Texte, Bilder, Musik – die KI saugt es auf. Aber wem kommt die KI letztlich zugute?
Baker macht mit Verweis auf das Buch „Power und Progress“ der MIT-Professoren Daron Acemoglu und Simon Johnson darauf aufmerksam, dass es in den letzten 1000 Jahren nie eine automatische Übertragung von technologischen Innovationen auf einen verbesserten Lebensstandard für den Großteil der Bevölkerung gegeben hat. Wer von Technologien profitiert, ist eine Frage von Macht und Politik. Oder anders formuliert: Technologischer Fortschritt ist nicht gleich sozialer Fortschritt – letzterer muss von den Menschen immer wieder aufs Neue erkämpft werden.
Diese und weitere Themen finden Sie in unserer neuen Ausgabe:
- Künstliche Intelligenz: Enteignung durch Aneignung? „There’s no such thing as a free lunch“ war der Titel eines Buches von Milton Friedman. Er irrte: Die geistigen Produkte der Menschheit sind für die Tech-Konzerne genau das. Joseph Kuhn
- Können wir es in tausend Jahren besser machen? Wieso unterwerfen wir uns den Zielen von Technologie-Pionieren, die wir nicht gewählt haben, und denken, es handele sich um Fortschritt? Das fragen die Bestsellerautoren Daron Acemoglu und Simon Johnson. Eine gute Frage – leider bleiben sie auf halber Strecke stecken. Dean Baker
- Amerikas inszenierte Insolvenzkrise Die Hysterie um die Schuldenobergrenze ist kaum mehr als politisches Theater. Wenn das US-Finanzministerium wirklich eine "Wirtschafts- und Finanzkatastrophe" abwenden wollte, ohne Sparmaßnahmen zu erzwingen, hätte es die Mittel dazu. Thomas Fazi
- Wer oder was ist schuld an der hohen Inflation? Staatsfinanzierung, Nachfrageüberhang oder Marktmacht? Erklärungsansätze für die hohen Inflationsraten gibt es einige. Man kann aber auch Michał Kalecki lesen. Marc Lavoie
- Das grüne El Dorado muss warten In der EU wird der Ruf nach einer „Pause“ bei den Umwelt- und Klimagesetzen lauter. Ein Jahr vor der Europawahl wird der „Green Deal“ zum Problem – und die Wirtschaft auch. Eric Bonse
- Aus dem Lande der Fapoten Ist die BRD des 21. Jahrhunderts mehr mit Fapotistan oder Absurdistan zu vergleichen? So oder so kommt der Satz aus Shakespeares "Hamlet" in den Sinn: "Ist’s Wahnsinn auch, so hat es doch Methode". Peter Schulz
- Konjunktur Hohe Preise, sinkende Realeinkommen, zögerliche Banken. Zudem ein sparwütiger Finanzminister – die Zutaten für den deutschen Abstieg sind alle da. Die Redaktion
- Ist der kranke Mann Europas wieder da? Jahrelang hat Deutschland die EU politisch und ökonomisch dominiert. Die europäische Frühjahrsprognose deutet darauf hin, dass sich das nun ändert. Damit gerät auch die Rhetorik für das herrschende Krisenmanagement ins Wanken. Malte Kornfeld