Geo- und Großmachtpolitik

Hat sich die EU vom Neoliberalismus verabschiedet?

| 28. Mai 2024
@midjourney

Seit der Bankenrettung 2008 ergreift die EU immer mehr Maßnahmen, die der reinen Lehre des Neoliberalismus widersprechen. Ist er überwunden und ein neuer Wirtschaftstypus entstanden? Womöglich einer, der Chancen für ein sozial gerechteres und ökologisch zukunftsfähiges Wirtschaftssystem eröffnet?

Seit der Schaffung des gemeinsamen Binnenmarkts 1993 bis zum Finanzcrash 2008 war die EU ökonomisch die Inkarnation des Neoliberalismus. Mit den vier Grundfreiheiten und deren juristischer Einklagbarkeit waren die neo-klassischen Ideale quasi verfassungsmäßig verankert. Es war die große Zeit des neoliberalen Konstitutionalismus.

In den Mitgliedsstaaten ging das einher mit einer Welle von Deregulierung, Privatisierung, Demontage des Sozialstaats und einer dramatischen Schwächung der Gewerkschaften. In Deutschland war es die sogenannte Agenda 2010 mit Hartz IV als hartem Kern. Mit der Einführung des Euro und der Etablierung der EZB und ihren Statuten triumphierte die Neoklassik auch in der Geld- und Währungspolitik.

Gewinner war die Kapitalseite, insbesondere die großen Unternehmen und der Finanzsektor. Die finanzmarktgetriebene Variante des Kapitalismus erlebte eine Hochblüte wie seit den 1920er Jahren nicht mehr. Verlierer waren zum einen die Lohnabhängigen und sozial Schwachen. Zum anderen aber auch die Demokratie. So meinte der damalige Chef der Deutschen Bank, Rolf Breuer:

„Anleger müssen sich nicht mehr nach den Anlagemöglichkeiten richten, die ihnen ihre Regierung einräumt, vielmehr müssen sich die Regierungen nach den Wünschen der Anleger richten.“

Kritik und Protest wurden mit dem Hinweis auf die angeblichen Sachzwänge des Marktes abgewiesen. Die Politikwissenschaft hat dafür den Begriff „neoliberaler Autoritarismus“ geprägt, die Rede war von „Postdemokratie“, so der Titel eines vielzitierten Buches von Colin Crouch.

Eine endlose Kette von Krisen

Mit der globalen Finanzkrise platzte jedoch die Illusion von der Effizienz und Stabilität der Finanzmärkte. Die Bankenrettung zeigte, wenn es ernst wird, ist der Staat „the only game in town“ (Wolfgang Streeck). Zugleich aber verschärfte sie die ökonomische Differenzierung im Binnenmarkt, denn Deutschland hatte dafür viel mehr Geld zur Verfügung als Italien, Spanien oder Griechenland. Folglich stieg die Verschuldung in den Mittelmeerländern drastisch an und die Finanzkrise wuchs in die Eurokrise hinüber. Spitze des Eisbergs war die Tragödie der griechischen Linksregierung. Trotz eines eindeutigen Referendums gegen das Austeritätsdiktat aus Brüssel musste Tsipras unter dem Druck der Troika aus EU-Kommission, EZB und IWF kapitulieren.

In den folgenden Jahren hat die EZB durch massive Käufe von Staatsanleihen auf dem Sekundärmarkt das vertraglich fixierte Verbot der Finanzierung öffentlicher Schulden umgangen. Ökonomisch war das vernünftig und verhinderte einen Staatsbankrott der hochverschuldeten Länder. Aber es zeigt auch die Grenzen neoliberaler Fiskalpolitik und wie die Machteliten mit den EU-Verträge umgehen. Wenn es ernst wird, gilt die alte Sponti-Parole: „legal, illegal, sch*egal“.

Zieht man für diese erste Phase von 2008 − 2016 eine Zwischenbilanz, so ist die politische Intervention in die Marktmechanismen zwar als Bruch mit der neoliberalen Dogmatik zu werten. Aber das ist kein zielgerichteter, planvoller Umbau des Wirtschaftssystems. Vielmehr haben wir es mit Notstandsmaßnahmen unter dem Druck drohender Wirtschaftskatastrophen zu tun. Die neoliberalen Regeln sind eingeschränkt, aber nicht aufgehoben. Es war der Politiktypus des krisenbedingten muddling through, des Durchwurstelns.

Pandemie, Green Deal, IRA und die Angst vor den Chinesen

Allerdings hat sich mit der Pandemie und dem Green Deal das unorthodoxe Krisenmanagement verfestigt. Mit dem supranationalen Einkauf von Impfstoff, sowie einem Kreditpaket über 100 Milliarden Euro zur Unterstützung von Kurzarbeitsprogrammen in den Mitgliedsländern (SURE) wurde versucht, die Folgen der Pandemie abzupuffern.

Noch weiter vom neoliberalen Credo entfernt ist das Wiederaufbauprogramm Next Generation EU. Es erlaubt Brüssel erstmalig, Schulden über 750 Milliarden Euro mit gemeinsamer Haftung der Mitgliedsstaaten aufzunehmen und 384 Milliarden als nicht zurückzahlbare Subventionen auszuschütten. Auch der klimapolitische European Green Deal sieht ein Paket aus Subventionen, Lenkungs- und Investitionsmaßnahmen vor.

Doch auch jetzt kann noch nicht die Rede von einem Paradigmenwechsel sein, denn nach wie vor steht der Marktmechanismus des Handels mit Klimazertifikaten im Zentrum der Klimapolitik. Allerdings hat selbst Klimakommissar Hoekstra, qua Amt zu Optimismus verpflichtet, zugegeben, dass schon die Reduktionsziele für 2030 nicht erreicht werden. Das dürfte sich dann noch einmal kumuliert auf die Zielmarke 2050 auswirken, aber auch den Druck zu mehr Staat erhöhen.

Unterdessen ist ein weiterer Faktor im Spiel: Die EU verliert deutlich an Wettbewerbsfähigkeit. So auch gegenüber den USA. Die US-Wirtschaft wuchs in den drei letzten drei Jahrzehnten pro Kopf um 60 Prozent, die der EU mit 30 Prozent nur um die Hälfte. Der italienische Ex-Ministerpräsident Enrico Letta beklagt im Bericht zum Binnenmarkt: „Wir laufen Gefahr, den Anschluss zu verlieren. Es gilt, keine Zeit zu verlieren.“ Und der ehemalige EZB-Chef Mario Draghi sagte, die EU stagniere, weil ihre „Organisation, Entscheidungsfindung und Finanzierung für die ‚Welt von gestern‘ designed sind“.

Ursachen dafür sind neben der generell größeren Aggressivität des US-Kapitalismus unter anderem die Alterung der europäischen Bevölkerung, weniger Investition in Forschung und Entwicklung, längere Arbeitszeiten in den USA und früherer Renteneintritt in der EU, sowie in jüngster Zeit stark steigende Energiepreise durch die Abkopplung von Russland. Obendrauf kommt jetzt noch Washingtons Klimaprogramm Inflation Reduction Act - IRA mit über 890 Milliarden US Dollar, zusammen mit einer buy-American-Komponente.

Zugleich entfacht Chinas Wettbewerbsstärke die Angst vorm Abgehängtwerden. Ausgerechnet auf dem Gebiet, auf dem die EU mit dem Green Deal eine Führungsrolle wollte, wie bei E-Autos, Photovoltaik und Windkraft, liegt die chinesische Konkurrenz jetzt an der Spitze. Während in bilateralen Handelsverträgen mit Ländern des Globalen Südens die traditionell neoliberale Freihandelslinie verfolgt wird, hat gegenüber China eine Welle protektionistischer Abschottung eingesetzt. Das gilt auch für Spitzentechnologien, wie der Telekommunikation, wo Sicherheitsbedenken vorgeschobenen werden, um Konkurrenten wie Huawei aus dem EU-Markt zu drängen. Gleichzeitig genehmigt Brüssel massive staatliche Subventionen und Vergünstigungen in verschiedenen Branchen, um die eigene Wettbewerbsfähigkeit zu halten. So zum Beispiel für E-Autos in der Gigafabrik von Tesla in Brandenburg oder für die Chipproduktion von Intel in Magdeburg. Es bestätigt sich einmal mehr: Freihandel ist nur so lange gut, wie er für die eigene Wirtschaft gut ist.

Offiziell begründet wird das mit den angeblichen Überkapazitäten Chinas. Das hält der prominente US-Ökonom und China-Kenner David P. Goldman für einen Mythos:

„Alle verfügbaren Daten deuten darauf hin, dass Chinas bemerkenswerte Exportleistung durch die Produktivität des verarbeitenden Gewerbes aufgrund von Investitionen in Robotik und KI-Anwendungen angetrieben wird.“

Das ist für die EU doppelt peinlich. Wäre es doch ein Zeichen dafür, dass China inzwischen auch bei KI und Digitalisierung überlegen ist.

Bei so viel europäischem Niedergang ist natürlich ein äußeres Feindbild nützlich und Ursula von der Leyen prompt zur Stelle. Anlässlich des Frankreich-Besuchs des chinesischen Staatschefs beschwört sie die gelbe Gefahr:

„Europa wird sich nicht von harten Entscheidungen abhalten lassen, um seine Wirtschaft und Sicherheit zu schützen.“

Nach Putins Kosaken stehen jetzt offenbar auch noch die Heere des Kublai-Khan-Nachfolgers in Peking ante portas.

It’s geopolitics, stupid!

Womit wir bei einem weiteren Faktor wären, der die EU auch ökonomisch unter enormen Anpassungsdruck setzt: die tektonischen Verschiebungen in der Weltordnung. Ihre Transformation in ein komplexes multipolares System, eventuell mit einer bipolaren Komponente China/USA und Lagerbildung ist die eigentliche Zeitenwende. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell hat das verstanden: „Amerika hat seine Status als Hegemon verloren“.

Die EU reagiert darauf mit der Absicht, selbst Weltmacht und zu einem Pol in der neuen Weltordnung zu werden. Die Sehnsucht nach Großmacht rückt nicht nur ins Zentrum der Außenpolitik, sondern auch andere Ressorts werden jetzt zunehmend den geopolitischen Interessen untergeordnet: Klima, Energie- und Rohstoffsektor, Wirtschaft, Technologie, Regulierung von Medien und andere. In den Worten des Strategischen Kompasses heißt das, „die volle Bandbreite der EU-Politik und ihre Hebel als Machtinstrumente zu nutzen“. Dem werden gegebenenfalls auch Interessen des eigenen Kapitals untergeordnet − wie im Wirtschaftskrieg mit Russland, bei dem die betroffenen Unternehmen Milliardenverluste hatten, die Energieversorgung prekär und die Inflation angetrieben wurde.

Realistischerweise aber wird die ökonomische, politische und kulturelle Heterogenität, die daraus resultierenden Widersprüche und die komplizierten und ineffizienten Entscheidungsstrukturen die meisten Wünsche an der Wirklichkeit zerschellen lassen – siehe die oben zitierte Klage Draghis. Die Statistenrolle der EU im Nahostkrieg und das Scheitern der ausschließlich aufs Militärische setzenden Strategie im ukrainischen Stellvertreterkrieg sind bezeichnend dafür. Wie immer, und bei der EU ganz besonders, sind Wollen und Können, Wunsch und Wirklichkeit zweierlei.[1] Die geopolitische Wende dürfte sich daher als politischer Größenwahn entpuppen.

Doch selbst wenn die neue Politik ihre Anhänger enttäuschen wird, so bedeuten die Anstrengungen dafür, dass die politischen Eingriffe in die Wirtschaft weiter zunehmen werden. Aber auch wenn die linken Kritiker des Neoliberalismus sich in der Vergangenheit vehement für mehr Staat und weniger Markt eingesetzt haben, so ist mehr Staat nicht per se gleichbedeutend mit einem sozial gerechteren und ökologisch zukunftsfähigen Kapitalismus.

Zwar wäre es übertrieben, bereits von Rüstungs- und Kriegs-Keynesianismus zu reden, dennoch werden derzeit Weichen in diese Richtung gestellt. EU-Kommissar für Binnenmarkt und Dienstleistungen Thierry Breton sagt offen: „Wir müssen in den Modus der Kriegswirtschaft wechseln“, und, wie die französische Zeitung „Le Monde“ am 13.04.2024 berichtete, verkündete der französische Präsident beim Besuch eines Rüstungsbetriebs, dass die Kriegswirtschaft schließlich „Reichtum produziert“.

In der Tat, es entsteht Reichtum − bei den Aktionären der Rüstungsindustrie. Die große Mehrheit der Bevölkerung dagegen wird die Lasten zu tragen haben. Kriegswirtschaft ist durch und durch unsozial. Bei der Sozial- und Verteilungspolitik werden die neoliberalen Regeln weiter gelten. Kanonen statt Butter! gilt auch heute: „Ohne Einbußen im Zivilen wird es nicht gehen“, so die Frankfurter Sonntagszeitung am 7. April 2024.

Aber nicht allein soziale Gerechtigkeit droht unter die Räder zu kommen. Großmachtgehabe und Militarismus sind nicht nur aggressiv nach außen, sondern führen auch nach innen zur Erosionserscheinungen der Demokratie. Konformitätsdruck, (Euro-)Nationalismus, Einschränkungen der Meinungs- und Informationsfreiheit nehmen allenthalben zu.

Insofern ist die Erosion des Neoliberalismus kein Anlass zur Freude. Was allerdings nicht bedeutet, jetzt zu seinem Fan werden zu müssen. Nötig ist eine Alternative auf der Basis von sozialer Gerechtigkeit, ökologischer Zukunftsfähigkeit und friedenspolitischer Werte: Kooperation statt Konfrontation, ungeteilte Sicherheit, friedliche Koexistenz, Rüstungskontrolle und Abrüstung. Das wäre auch strategische Autonomie gegenüber den USA.

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[1] Ausführlicher dazu: Wahl, Peter (2024): Zwischen Wollen und Können. Der Anspruch der EU auf Weltmachtstatus. In: Sablowski, Thomas/Wahl, Peter (2024): Europäische Integration in der multiplen Krise. Zukunftsaussichten der Europäischen Union. Hamburg. S. 22 ff.