Editorial

Organismus EU

| 30. Mai 2024
IMAGO / Mike Schmidt

Liebe Leserinnen und Leser,

willkommen in einer neuen Woche und zu einer neuen Ausgabe mit dem Schwerpunkt Europa.  

Wie lässt sich eigentlich der Kapitalismus charakterisieren? Kaum ein anderer Begriff ist so stark emotional aufgeladen und gleichzeitig so schwammig. Das ist auch kein Wunder, denn die kapitalistische Gesellschaft ist „kein fester Kristall, sondern ein umwandlungsfähiger und beständig im Prozeß der Umwandlung begriffener Organismus“. So formulierte es einst der wahrscheinlich bekannteste, aber gleichzeitig umstrittenste Kapitalismuskritiker: Karl Marx.

Ist es wahr, was Marx sagt, und der Kapitalismus ist wirklich ein sich stetig wandelnder „Organismus“? Dann drängt sich unmittelbar die Frage auf, was seinen Umwandlungsprozess ausmacht. Unsere Autoren dieser Ausgabe haben darauf aus verschiedenen Perspektiven Antworten für den EU-Kapitalismus gefunden:  

Der Rechtswissenschaftler Andreas Fisahn zeigt juristisch fundiert auf, wie die EU ihre marktfundamentalen Dogmen vor allem seit Corona aufgeweicht hat, aber auch, dass ihre Hochrüstung ökologische Ambitionen zunehmend untergräbt. Auch Peter Wahl sieht in der EU eine „Erosion des Neoliberalismus“ und eine zunehmende Militarisierung. Die Weichenstellung in Richtung „Rüstungs- und Kriegskeynesianismus“ komme aber nicht der Mehrheitsbevölkerung zugute, sondern vor allem den Aktionären der Rüstungsindustrie.

Letztlich läuft der Wandel des EU-Kapitalismus sehr ungleich innerhalb der Mitgliedsstaaten ab und trifft deren Bevölkerungen ungleichmäßig. Ist etwa der Aufstieg der abhängigen Marktwirtschaften Ostmitteleuropas (Polen, Ungarn, Slowakei, Tschechien) wesentlich ausländischen Direktinvestitionen aus Deutschland und anderen Zentrumsstaaten zu verdanken, so Andreas Nölke, sind die Viségrad-Staaten doch hauptsächlich Montageplattformen geblieben. Die „lukrativsten und erfinderischsten Aktivitäten“ verbleiben „in den ausländischen Hauptquartieren“.

Diese und weitere Themen finden Sie in unserer neuen Ausgabe:

  • Wohin treibt die EU? Die Aufweichung des Spar-Dogmas sowie ökologische und sozialpolitische Maßnahmen haben vor allem seit Corona die marktradikale Entwicklungsweise der EU gestört. Die europäische Aufrüstung untergräbt jedoch klimapolitische Ambitionen. Andreas Fisahn
  • Hat sich die EU vom Neoliberalismus verabschiedet? Seit der Bankenrettung 2008 ergreift die EU immer mehr Maßnahmen, die der reinen Lehre des Neoliberalismus widersprechen. Ist er überwunden und ein neuer Wirtschaftstypus entstanden? Womöglich einer, der Chancen für ein sozial gerechteres und ökologisch zukunftsfähiges Wirtschaftssystem eröffnet? Peter Wahl
  • Zwischen ökonomischer Abhängigkeit und populistischem Backlash In Mittelosteuropa gilt die EU häufig als Garant von Wohlstand und Demokratie. Gleichzeitig sorgt die europäische Dominanz auch für leidenschaftliche Opposition, da sie zu erheblichen Ungleichheiten beiträgt. Andreas Nölke
  • Keine Angst vor grünen Subventionen Regierungen sollten aufhören, grüne Industriepolitik anderer Staaten als bedenkliche Verstöße gegen internationale Regeln zu verurteilen. Viele Argumente sprechen gegen Zölle und für die Subvention grüner Industrien. Dani Rodrik
  • Richtung: Gesinnungs-Staat Mit Hilfe des Verfassungsschutzes höhlt Innenministerin Nancy Faeser sukzessive Demokratie und Meinungsfreiheit aus. Der Journalist Mathias Brodkorb gehört zu den wenigen, die es merken. Sebastian Müller
  • Ein verzweifeltes Establishment duldet keinen Dissens Der Korridor legitimer Meinungen wird enger. Der Regierung dient das Grundgesetz als Waffe, um gegen Dissidenten vorzugehen. Dabei wird die deutsche Verfassung nicht zweckentfremdet, sondern genau dafür verwendet, wofür sie die Gründungsväter der BRD geschaffen haben. Thomas Fazi
  • Weil Du arm bist, musst Du früher sterben Der Gesundheitswissenschaftler Rolf Rosenbrock erklärt, wieso auch heute noch Gesundheit wesentlich von sozialer Ungleichheit abhängt – und was die Politik tun könnte. Malte Kornfeld
  • Welche Rolle sollen Roboter in der Pflege spielen? Die Evangelische Heimstiftung testet einen sozialen KI-Roboter in einem Mannheimer Pflegeheim. Werden Wesen wie „Oskar“ künftig normale Begleiter? Carina Frey