Osteuropa

Zwischen ökonomischer Abhängigkeit und populistischem Backlash

| 28. Mai 2024
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In Mittelosteuropa gilt die EU häufig als Garant von Wohlstand und Demokratie. Gleichzeitig sorgt die europäische Dominanz auch für leidenschaftliche Opposition, da sie zu erheblichen Ungleichheiten beiträgt.

Die Visegrád-Staaten (Polen, Slowakei, Tschechien und Ungarn) haben ein besonderes Verhältnis zur EU. Nach dem Ende des Ostblocks haben sie sich ökonomisch besonders weit für ausländisches – vor allem westeuropäisches – Kapital geöffnet. Das erfolgte auch unter dem Druck der EU und wurde mit der EU-Osterweiterung 2004 belohnt. In den letzten drei Jahrzehnten entwickelten sich diese Länder zu den wichtigsten Zielen ausländischer Direktinvestitionen. Ihre Kombination eines hohen Ausbildungsniveaus aus Ostblock-Zeiten mit – zumindest anfangs – sehr niedrigen Löhnen war für multinationale Unternehmen unwiderstehlich.

In der Folge hat sich in diesen Ländern ein besonderes Wirtschaftsmodell herausgebildet, das gemeinhin als abhängige Marktwirtschaft (dependent market economy) bezeichnet wird. In den ostmitteleuropäischen Volkswirtschaften vom Typ abhängiger Marktwirtschaft dominieren ausländische Direktinvestitionen mehr als in jeder anderen Form des Kapitalismus. Sehr wichtige Sektoren, insbesondere hochmoderne Produktionslinien für den Export, werden von multinationalen Konzernen kontrolliert, die insbesondere in Ländern wie Deutschland und Österreich ansässig sind. Folglich besitzen die abhängigen Volkswirtschaften nur eine begrenzte wirtschaftliche Autonomie und sind in hohem Maße von Entscheidungen abhängig, die jenseits ihrer Grenzen getroffen werden – etwa in Wolfsburg, Frankfurt, München oder Wien. So handeln statt Arbeit und Kapital Manager der ausländischen Zentrale und lokaler Tochtergesellschaft wichtige Unternehmensentscheidungen aus.

Pro und Contra abhängige Marktwirtschaft

Eine abhängige Marktwirtschaft ist ein sehr eigenartiges Wirtschaftsmodell mit vielen potenziellen Vor- und Nachteilen.

Zu den Vorteilen gehört zunächst ein Prozess der wirtschaftlichen Modernisierung, der in den Visegrád-Staaten schneller verlief als in den anderen Transformationsländern. Polen, Slowakei, Tschechien und Ungarn hatten in den vergangenen zwanzig Jahren höhere wirtschaftliche Wachstumsraten als andere Teile der EU. Sie gehören auch zu den wichtigsten Empfängern von Zuwendungen aus dem EU-Haushalt.

Ebenso liegen jedoch auch die Nachteile des von der EU beförderten Modells abhängiger Marktwirtschaften auf der Hand. Der massive Zustrom ausländischer Direktinvestitionen beeinflusst die internen Strukturen eines Landes stark, da das „Geld anderer Leute“ oft mit Erwartungen an die Kontrolle über dessen Verwendung einhergeht. Was die Kapitalbewegungen anbelangt, so führen hohe Zuströme zu einer entsprechenden Abhängigkeit von ausländischen Ressourcen, die diese Länder aufgrund mehrerer potenzieller Gefahren ernsthaft destabilisieren können.

Erstens haben internationale Akteure Interessen, die mit denen der einheimischen Bevölkerung kollidieren − zum Beispiel im Hinblick auf die Aneignung von Gewinnen, welche die Tochtergesellschaften erwirtschaftet haben. Zweitens sind ausländische Investoren oft in der Lage, ihre Ressourcen im Handumdrehen aus dem Gastland abzuziehen, insbesondere bei Investitionen im Finanzsektor. Und schließlich kann ausländisches Kapital eine Wirtschaftslandschaft schaffen, in der die für die aufholende Industrialisierung optimalen institutionellen Rahmenbedingungen nicht im Vordergrund stehen. Während der wirtschaftliche Aufholprozess die Entwicklung innovativer einheimischer Unternehmen erfordert, interessieren sich die multinationalen Unternehmen vorrangig für die Nutzung dieser Ökonomien als Absatzmärkte und als Montageplattformen für Industriegüter.

Etabliert in einer Sondersituation

Wie war angesichts dieser potenziellen Probleme die Entwicklung des extremen Modells der Abhängigkeit von ausländischen Direktinvestitionen in Ostmitteleuropa möglich? Die Entscheidung für diese Wirtschaftsstrategie wurde vor dem Hintergrund einer besonderen Situation möglich. Nach dem Ende des Kalten Krieges hatten die meisten Bürger der ehemaligen Ostblockstaaten den starken Wunsch, sich mit dem Westen zu verbinden. Gleichzeitig hatte die sowjetische Herrschaft die einheimische Bourgeoisie, die sich in der Regel am stärksten gegen eine ausländische Wirtschaftsdominanz wehrt, erheblich geschwächt.

Im Gegensatz zu den Verhältnissen in Ländern wie China und Indien gab es in den mittel- und osteuropäischen Staaten daher keine mächtigen nationalen Eliten, die sich mit Nachdruck gegen die Übernahme der Industrie ihres Landes durch ausländische Investoren wehrten. Darüber hinaus vollzog sich der Schritt hin zur Öffnung zum Westen in einem Umfeld, das dem Wirtschaftsliberalismus einen hohen Stellenwert einräumte – etwas, das Fukuyama bekanntlich als "das Ende der Geschichte" bezeichnete.

Schließlich unterstützten internationale Organisationen wie die Europäische Union, die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung und die Weltbank die Liberalisierung der mittel- und osteuropäischen Märkte aufgrund ihrer grundlegenden Wirtschaftsideologie voll und ganz; der Wirtschaftsliberalismus befand sich in den 1990er Jahren auf dem Höhepunkt seines Aufstiegs. Angesichts dieser Umstände überrascht es nicht, dass sich gegen die Übernahme frisch privatisierter Unternehmen durch multinationale Konzerne aus dem Westen wenig Widerstand regte.

Gleichzeitig hatten die Volkswirtschaften der Region multinationalen Konzernen aus dem Ausland eine Menge zu bieten. Letztere sind immer auf der Suche nach Kombinationen aus niedrigen Arbeitskosten und qualifizierten Arbeitskräften. In den Jahren unter sowjetischer Kontrolle wurde großer Wert auf Bildung und Ausbildung gelegt, und die durchschnittliche Qualifikation der Arbeitskräfte war daher viel höher als in anderen Schwellenländern.

Darüber hinaus liegt die Region in unmittelbarer Nähe zu den großen Märkten Westeuropas und konnte von einer umfassenden wirtschaftlichen Unterstützung profitieren, nicht zuletzt im Rahmen des EU-Beitrittsprozesses. Für multinationale Unternehmen, die auf der Suche nach Regionen mit optimalen Ressourcen und niedrigen Arbeitskosten waren, boten sich somit äußerst günstige Bedingungen, die es ihnen ermöglichten, in Mittel- und Osteuropa im Vergleich zu anderen Regionen der Welt eine größere Rolle zu spielen.

Zunehmende Spannungen

Einige Jahrzehnte nach seiner Etablierung hat die Popularität des ostmitteleuropäischen Modells abhängiger Marktwirtschaften jedoch erheblich nachgelassen. Obwohl es zu einer relativ kontinuierlichen Periode hohen Wachstums geführt hat, nehmen die Spannungen zu.

Zum einen ist es extrem schwierig, die abhängigen Marktwirtschaften in der Hierarchie der globalen Wertschöpfungsketten nach oben zu bringen. Sie müssen sich weitgehend mit der Tatsache abfinden, dass die multinationalen Konzerne ihre lukrativsten und erfinderischsten Aktivitäten in den ausländischen Hauptquartieren behalten. Die abhängigen Marktwirtschaften dienen für diese Unternehmen hauptsächlich als globale Montageplattform.

Für den Erfolg einer fortgeschrittenen Industrialisierung ist es jedoch unabdingbar, nicht nur für die allgemeine und berufliche Bildung, sondern auch für Forschung und Entwicklung beträchtliche Mittel bereitzustellen. Aufgrund ihrer begrenzten fiskalischen Ressourcen sind die Regierungen abhängiger Marktwirtschaften nicht in der Lage, ihre Ausgaben für Forschung und Entwicklung sowie für Bildung und Ausbildung auf das Niveau von Deutschland, den USA oder China zu erhöhen. Die Akkumulation von fiskalischen Mitteln ist in diesen Volkswirtschaften aufgrund des ständigen Wettbewerbs um ausländische Direktinvestitionen eingeschränkt. Multinationale Unternehmen haben bei der Wahl ihres Investitionsstandorts viele Möglichkeiten. Die Regierungen der abhängigen Markwirtschaften steigern daher die Attraktivität ausländischer Direktinvestitionen regelmäßig durch Anreize wie Steuererleichterungen.

Noch gravierender ist jedoch die zweite Herausforderung für abhängige Marktwirtschaften. Selbst in einer stetig wachsenden Wirtschaft entstehen erhebliche Ungleichheiten zwischen denjenigen, die vom Wachstum durch ausländische Direktinvestitionen profitieren – vor allem in städtischen Gebieten – und denjenigen, die dies nicht tun.

Diese Ungleichheiten schürten politischen Dissens in den Visegrád-Staaten und trugen zum Aufstieg illiberaler Regierungen wie in der Slowakei, Ungarn und Polen bei, jeweils mit einer starken Basis im ländlichen Raum. Darüber hinaus waren lokale nationale Manager – einschließlich des gerade abgewählten polnischen Premierministers Mateusz Morawiecki, zuvor Leiter der polnischen Niederlassung einer internationalen Bank – zunehmend frustriert über ihre sehr begrenzte Entscheidungsfreiheit in Unternehmen in ausländischem Besitz, etwa was die gezielte Förderung einheimischer Unternehmen betrifft. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass der Kampf gegen die ausländische Dominanz – sowohl politisch als auch wirtschaftlich – zentraler Teil der Rhetorik in den Kampagnen war, die diese Regierungen an die Macht brachten. Die Europäische Union ist für sie ein wichtiger Störfaktor.

Häufig fließt die Aversion rechtspopulistischer Regierungen gegen ausländische Dominanz in die Wirtschaftspolitik ein, vor allem in Sektoren, in denen die einheimische Unternehmerklasse ausländische Direktinvestitionen inzwischen ohne größere Probleme ersetzen kann (zum Beispiel im Handel und anderen Dienstleistungen). Das führt zu einem selektiven Wirtschaftsnationalismus, oftmals zugunsten lokaler Eliten mit guten Kontakten zur Regierungspartei. Rechtspopulistische Regierungen haben in diesen Sektoren darauf hingearbeitet, die bedeutende Präsenz ausländischer multinationaler Unternehmen in der nationalen Wirtschaft zu verringern, beispielsweise durch die Einführung von Steuern, welche die inländischen Tochtergesellschaften der Auslandsunternehmen weniger rentabel machen. Als Paradebeispiel gilt hier Ungarn, wo besondere Steuern auf ausländische Banken, Werbefirmen oder Supermärkte erhoben wurden − immer knapp unter der Eingriffsschwelle der EU-Wettbewerbspolitik.

Auch die frühere PiS-Regierung in Polen hat versucht, die Dominanz ausländischer Unternehmen und die damit verbundenen Abhängigkeiten einzuschränken, indem sie die Rolle des Staates beim Wirtschaftswachstum gestärkt hat. Das Hauptaugenmerk lag dabei auf der Stimulierung inländischer Ersparnisse und deren Allokation für Investitionen in nationale Unternehmen. Diese Strategie wurde allerdings durch den Umfang der verfügbaren Steuermittel eingeschränkt.

Multinationale Unternehmen aus dem Ausland wurden mitunter durch Zwangsübernahmen zum Verlassen des Landes gedrängt. Diese Strategie findet aber ihre Grenzen durch die Notwendigkeit, eine starke Präsenz ausländischer Direktinvestitionen in Sektoren der technologisch fortgeschrittenen Fertigung aufrechtzuerhalten, da die lokalen Unternehmen zumeist nicht in der Lage sind, diese Produktion – und die damit einhergehenden Exporterlöse – zu ersetzen. Bis auf Weiteres kombinieren rechtspopulistische Regierungen wie in Ungarn daher eine lautstarke Politik der Bekämpfung der Abhängigkeit von ausländischem Kapital mit einer leisen Politik zu deren Subventionierung, derzeit insbesondere bei der Ansiedlung von Batterien für Elektroautos.

Ähnlich polarisiert ist in Mittelosteuropa das generelle Verhältnis zur EU. Einer starken Zustimmung – insbesondere in den jüngeren und urbanen Bevölkerungsgruppen – steht eine starke Ablehnung von Sympathisanten rechtspopulistischer Parteien gegenüber, vertieft noch durch die Auseinandersetzungen um unterschiedliche Auffassungen von Rechtsstaatlichkeit. Die populistischen Regierungen der Region – derzeit vor allem die ungarische und slowakische – vermeiden jedoch eine offene Konfrontation mit der EU oder gar den EU-Austritt. Zum einen profitieren diese Länder zu viel von den Mitteln des EU-Haushalts und dem Zugang zum EU-Binnenmarkt. Zum anderen ist die EU wegen der Erinnerung an das Ende des Ostblocks – und nun den neuen Spannungen mit Russland – in der Bevölkerung immer noch viel zu populär.