Die Transformation der Marktwirtschaft
Für Karl Polanyi war die Idee eines selbstregulierenden Marktes „eine krasse Utopie“. Die Märkte wollte er von „einem Beherrscher zum Werkzeug unserer Zwecke” machen. Eine Bestandsaufnahme.
Viele haben allerlei zu beanstanden an der real existierenden Marktwirtschaft. Zugleich ist sich die überwiegende Mehrheit der Bundesbürger wenigstens in einem einig: Zur Marktwirtschaft als Modell gibt es keine überzeugende Systemalternative.
Allerdings häufen sich in der Marktwirtschaft in den letzten Jahrzehnten Momente, die mit dem wirtschaftsliberalen und dem in der Volkswirtschaftslehre vorherrschenden Bild von ihr nicht so recht zusammenpassen. Einige dieser Momente sollen im Folgenden exemplarisch vorgestellt werden. Transformiert ihr Zusammenwirken die Marktwirtschaft qualitativ?
Märkte als ideale Koordination für anonyme und flüchtige Geschäftsbeziehungen
Der klassischen volkswirtschaftlichen Doktrin zufolge ist für Märkte die „generelle Öffnung des potentiellen Interaktionsfeldes auf eine unübersehbare Vielzahl verschiedenartiger Tauschpartner” charakteristisch.[1] Märkte müssten ein „offenes, fluides Feld von stets reversiblen und ad hoc initiierbaren Interaktionsverhältnissen“ sein.[2] Einflüsse diffuser Bindungen und persönlicher Loyalitäten würden zu einem den Markt störenden Filz führen.
Unternehmen haben jedoch Vorbehalte, ihre Geschäftspartner wegen kleiner Kostenvorteile zu wechseln. Sie wissen es zu schätzen, sich auf zuverlässige Geschäftspartner verlassen zu können. Die Vorstellung vom Markt als Produktion von Waren für unbekannten Bedarf hat bereits heute mit der Realität nur eingeschränkt etwas zu tun. Viele Produktionsmittel, aber auch Leistungen für den öffentlichen Konsum setzen Absprachen zur Koordination zwischen Auftraggebern und -nehmern voraus. Zwischen den Betrieben gibt es teilweise langfristige Kooperation zur gemeinsamen Produktentwicklung und Produktionsplanung. Hersteller und Zulieferer in der Autoindustrie sind zumeist stabil vernetzt. Bei größeren technischen Anlagen gibt es öffentliche Ausschreibungsverfahren.
Auch die von Ernest Mandel beschriebenen ökonomischen Beziehungen unterscheiden sich von anonymen und flüchtigen Kontakten auf Märkten:
„Man geht doch nicht in den Supermarkt, um dort hydroelektrische Turbinen für eine Talsperre zu kaufen; diese werden unter Angabe sehr genauer, bis ins kleinste Detail gehender Präzisierungen bestellt. Sogar wenn das durch eine öffentliche Ausschreibung geschieht, ist es doch nicht das gleiche wie die ‚Zuteilung über den Markt‛. Die verschiedenen Kostenvoranschläge bedeuten doch nicht, dass tatsächlich verschiedene Produkte hergestellt werden, unter denen man dann eine Auswahl treffen kann“.[3]
Die unerträgliche Leichtigkeit des Preismechanismus
Ein von überzeugten Anhängern der Marktwirtschaft (besonders in der FDP und AfD) bewunderter Theoretiker ist Friedrich August von Hayek (1899-1992). Er sieht einen zentralen Vorteil des Marktes in der Leistung des Preismechanismus, „jeder Art von knappen Mitteln“ einen „numerischen Index“ zuzuordnen, „der nicht von irgendeiner physischen Eigenschaft abgeleitet ist, die das einzelne Ding besitzt, sondern der seine Bedeutung im Hinblick auf den ganzen Komplex von Mittel-Zweck-Verhältnissen wiedergibt oder in dem diese sich ausdrückt“.[4]
Der Marktteilnehmer brauche dann „bei jeder kleinen Veränderung nur diese quantitativen Indices (oder ‚Werte‛) zu betrachten, in denen alle relevanten Informationen enthalten sind“. Der Markt enthalte ein „System von Fernvermittlungen, das die einzelnen Produzenten instand setzt, nur mit Hilfe der Beobachtung von ein paar Zeigern […] ihre Tätigkeit an Änderungen anzupassen, von denen sie nie mehr zu wissen brauchen, als sich in der Preisbewegung widerspiegelt“.[5]
Bereits in der Gegenwart existieren jedoch Produktlinienanalysen, Umwelt- und Sozialbilanzen, Umweltverträglichkeitsprüfungen und Technikfolgeabschätzung. Sie sind Teil einer Informationsinfrastruktur, die die qualitativen Wirkungen und Voraussetzungen von wirtschaftlichen Aktivitäten und Angeboten vergegenwärtigt. Auf der Basis dieser Informationsinfrastruktur lassen sich qualitative Indikatoren bilden. Ein Beispiel dafür ist das MIPS (Materialintensität pro Service-Einheit). In der Realität also ist „der Informationsfluss viel reichhaltiger, als wenn er nur durch das Preissystem vermittelt wäre”.[6] Anbieter und Nachfrager orientieren sich in einer Marktwirtschaft nicht ausschließlich an Preisen. Eine zunehmende Aufmerksamkeit für die Schwierigkeiten, Qualitäten quantitativ darzustellen, stellt auch das Preismedium infrage.[7]
Die ethische Durchdringung der Märkte
Der klassischen volkswirtschaftlichen Theorie zufolge orientieren sich Anbieter und Kunden in der Marktwirtschaft an Preisen. Ihnen sind die Ursachen dafür, dass bestimmte Produkte billig sind, nicht zu entnehmen. Warum zum Beispiel die Löhne in der Textilindustrie in Südoastasien so niedrig sein können, dafür gibt es Ursachen, die den hiesigen Käufern eines Kleidungsstücks nichts anzugehen brauchen. Allenfalls ist ihm bekannt, dass die Löhne niedrig sind. Warum das aber so sein kann bzw. warum dies nicht bzw. nicht hauptsächlich in der Verantwortung der Bevölkerung der entsprechenden Länder liegt, das bleibt meistens verborgen. Der hiesige Konsument betrachtet oft die eigene Lage als seinen Verdienst und schließt aus der schlechteren Lage in anderen Ländern darauf, die dort Ansässigen seien irgendwie „selbst schuld”.
Karl Polanyi (1896-1964) hat zu Recht festgestellt, die reine Marktwirtschaft bilde mit ihren Gleichgültigkeitsbarrieren zwischen Kunden und Anbietern eine „unsichtbare Grenze, die alle Individuen in ihren Alltagsaktivitäten, als Produzenten und Konsumenten, isoliert.” Der Markt stelle eine der wichtigsten „Grenzen der moralischen Entwicklung” dar, denn „unter solchen Bedingungen ist es Menschen nicht erlaubt, gut zu sein – selbst wenn sie es wünschen”.[8]
Klassische volkswirtschaftliche Vorstellungen von der Marktwirtschaft sehen sie als ein sich selbst regulierendes System an, das Autonomie hat und haben soll gegenüber anderen gesellschaftlichen Bereichen. Dem Soziologen Niko Stehr zufolge haben Maximen wie Nachhaltigkeit, Fairness und Solidarität in den letzten Jahrzehnten einen höheren Stellenwert für das Handeln von Konsumenten erlangt. Ihre Produktwahl richte sich zunehmend nicht allein nach reinen Nützlichkeitskriterien aus. Gewiss muss man sich ein etwas teureres, dafür aber ethisch weniger bedenkliches Produkt leisten können. Stehr sieht Kunden mit mehr Zahlungsfähigkeit als Meinungsführer an. Auch Billig-Supermärkte wie Aldi bieten inzwischen Bio-Produkte an. Die Gültigkeit des Satzes „Erst kommt das Fressen, dann die Moral” nehme ab.
Produkte, deren billiger Preis sich schlechten Arbeitsbedingungen und Löhnen verdankt, kommen in den letzten Jahrzehnten zusehends in den Blick der Öffentlichkeit. Es fragt sich allerdings, inwieweit die höhere kritische Aufmerksamkeit für Lieferketten nicht in den engen Schranken verbleibt, die Romano Prodi einmal so beschrieb: „Wir haben das Schlimmste verhindert, aber nicht das Schlimme.” Das passiert, wenn nur die extremsten Fälle von Kinderarbeit und von maroden Fabrikgebäuden (wie beim Unglück von Rana Plaza 2013 in Bangladesch) beseitigt werden.
Professionen
Das Verhältnis zwischen sich professionell verstehenden Arbeitenden bzw. Dienstleistern und ihren Kunden unterscheidet sich von anderen Marktbeziehungen durch die besondere Geltung arbeitsinhaltlicher Standards. Gewiss wollen Mitglieder solcher Professionen mit ihrer Arbeit auch Geld verdienen, ein großer Teil von ihnen möchte aber zugleich die in ihrer Berufsgruppe festgelegte Qualitätskriterien erfüllen.
Häufig besteht zwischen professionellen Anbietern und „Kunden“ ein kontinuierlicher Kontakt. In ihm geben beide Seiten der jeweils anderen Seite Feedback. Das schließt die Rückmeldung an die Kunden ein, inwieweit ihr spontanes Bedürfnis Produkte oder Dienstleistungen nachfragt, die die üblichen Standards unterbieten. Ein „Profi“ möchte schließlich nichts an die Frau oder den Mann bringen, das die eigenen Standards unterbietet. Die Kunden wiederum werden bei Problemen nicht einfach den Anbieter wechseln und ihn im Unklaren lassen, warum sie diesen „Exit“ vollziehen. Sie können ihm vielmehr mitteilen („Voice“), wenn sie Probleme im Produkt oder der Dienstleistung sehen und es als erwartbar annehmen, dass auf dieses Feedback eingegangen wird.
Der Stellenwert berufsethischer Standards in den Professionen bzw. die entsprechende Regulation des jeweiligen Berufsfeldes kann das Privatinteresse dämpfen und ein eigennütziges Verhalten zulasten anderer verringern. Zu Hegels Zeiten hieß der (nicht mit traditionellen Zünften zu verwechselnde) Fachverband einer Profession wie die Ärzte- oder Handwerkskammer Korporation.
„Ohne Mitglied einer berechtigten Korporation zu sein (und nur als berechtigt ist ein Gemeinsames eine Korporation), ist der Einzelne ohne Standesehre, durch seine Isolierung auf die selbstsüchtige Weise des Gewerbes reduziert […]. Er wird somit seine Anerkennung durch die äußerlichen Darlegungen seines Erfolgs in seinem Gewerbe zu erreichen suchen, Darlegungen, welche unbegrenzt sind, weil seinem Stande gemäß zu leben nicht stattfindet“.[9]
Adam Smith zufolge erreichen alle Marktakteure ein höheres Gesamtergebnis, wenn jeder einzelne Akteur nur an sein jeweiliges Privatinteresse denkt und gerade nicht sich am Gemeinwohl orientiert. Diese Auffassung gehört zum Glaubenskanon der Marktwirtschaft. Widersprochen wird ihr mit dem Hinweis auf den sogenannten Zusammensetzungsfehlschluss. Die Verallgemeinerung solcher Handlungen, die im Einzelfall, isoliert gesehen, zielführend sind, kann problematische Effekte nach sich ziehen. Wenn alle ins Umland von Städten ziehen und sich dort ein freistehendes Einfamilienhaus bauen, führt das zur Zersiedelung sowie zu einem grotesken Missverhältnis zwischen Heizaufwand und Wohnfläche. Im Unterschied zur Hoffnung von Adam Smith geht es bei der Orientierung des Handelns an allgemeinen fachlichen und ethischen Standards oder gar an einer Gesellschaft des guten Lebens[10] um die „Einwurzelung des Besonderen in das Allgemeine“.[11]
Angebot und Nachfrage
Ein weiteres Essential der wirtschaftsliberalen und volkswirtschaftlichen Lehre von der Marktwirtschaft besteht darin, dass die in ihr zu handelnden Marktgüter nach Preisen ge- und verkauft werden, die sich ausschließlich durch Angebot und Nachfrage bestimmen. Ausgehend von dieser Vorstellung müssen sozialstaatliche Regelungen und die Festlegung eines Mindestlohns als der Marktwirtschaft fremd gelten. Gleiches gilt für die Bindung öffentlicher Aufträge an bestimmte sozialpolitische Normen. Beispielsweise macht das Hamburger Vergaberecht die Erteilung öffentlicher Aufträge davon abhängig, ob die beauftragten Firmen sich an die Tarifbindung und Tariftreue halten.
Wenigstens ansatzweise verändert sich damit etwas gegenüber einem grundlegenden Mangel der reinen Marktwirtschaft. Sie verfügt über kein „‚Sinnesorgan’ (Polanyi 2005, 84), um die moralpolitischen Ziele bzw. die sozialen Standards einer Gesellschaft zu spezifizieren. Die Produktion richtet sich ausschließlich nach den Entscheidungen des Marktakteurs als Marktakteur und nicht als bewusstes politisches Wesen (Polanyi 2005, 83, 85)”.[12]
Märkte sind sensitiv für die Bedürfnisse, die die Individuen als vereinzelte Einzelne haben (Opel oder VW?). Eine kollektive Nachfrage, die danach verlangt, die Dominanz des motorisierten Individualverkehrs zu überwinden, lassen Märkte nicht zu. Öffentliche Güter, deren Nutzung nicht rivalisierend ist und von der niemand ausgeschlossen werden kann, bilden einen weiteren Fremdkörper innerhalb der Marktwirtschaft. „Sich selbst überlassen”, wird das vereinzelte Individuum „immer dazu neigen, eher individuelle Güter zu fordern als kollektiv Dienstleistungen oder Einrichtungen. […] Es gibt also kein spontanes Votum für die Prioritäten und Werte der ‚Konsumgesellschaft‘ […]; es gibt nur die Ohnmacht, eine Alternative zu definieren und dafür einzutreten“.[13]
Märkte sind unsensitiv für die Bedürfnisse, die Individuen dann haben, wenn sie als Mitglieder einer Gesellschaft sich an Vorstellungen orientieren, wie öffentliche Güter aussehen sollen – zum Beispiel ein gut ausgestattetes öffentliches Personen-, „Nah”-und Fern-Verkehrswesen. Die Entscheidungen von Käufern bewegen sich zwischen einzelnen Angeboten. Alternative Gesamtzustände können sie nicht nachfragen. „Wahlmöglichkeit im Kleinen garantiert keine Wahlmöglichkeit im Großen”.[14]
Polanyi analysiert die durch die Marktwirtschaft verursachte Aufspaltung zwischen den partikularen Interessen der Individuen als Privateigentümer (an Geld, Kapital oder ihrer Arbeitskraft) und ihren Bedürfnissen als Menschen, die ein qualitativ bestimmtes Gemeinwesen wollen. Er sieht in dieser Aufspaltung ein fundamentales Hindernis für individuelle Freiheit: Frei zu handeln heißt „im Bewusstsein der Tatsache zu handeln, dass wir die Verantwortung für unseren Anteil an den gegenseitigen Beziehungen der Menschen zueinander – außerhalb welcher es keine gesellschaftliche Wirklichkeit gibt –, dass wir diese Verantwortung zu tragen haben. Freisein heißt hier darum nicht mehr, wie in der typischen Ideologie des Bürgers frei von Pflicht und Verantwortung sein, sondern frei durch Pflicht und Verantwortung sein.”
Freiheit, so Polanyi weiter, ist insofern „nicht eine Form des Sichloslassens von der Gesellschaft überhaupt, sondern die Grundform des gesellschaftlichen Verbundenseins, nicht jener Punkt, an dem die Solidarität mit den anderen aufhört, sondern jener, in welchem wir die unabwälzbare Verantwortung des gesellschaftlichen Seins auf uns nehmen”.[15]
Innerhalb der Marktwirtschaft „wirkt und webt das Individuum an der Illusion seiner Freiheit”.[16] Es dünkt sich als „frei”, insofern es sich von der Gesellschaft unabhängig fühlt. Es fühlt sich „nur deswegen unabhängig, weil es sich seiner Abhängigkeiten nicht bewusst ist”. Freiheit bleibt so lange Selbsttäuschung, wie sie auf „Nichtwissen” bzw. „Nichtbeachtung” der Verantwortlichkeiten gegenüber anderen beruht.[17]
Diesem Verständnis von Freiheit zufolge plädiert Polanyi für eine Regulation der Wirtschaft, die weder marktwirtschaftlich noch staatssozialistisch ist. Die Frage, ob Märkte die ihnen zugeschriebenen Vorteile bei qualitativen Vorgaben bzw. einer sozialen „Einbettung” verlieren, können wir hier aus Platzgründen nicht diskutieren. Hingewiesen sei wenigstens auf „Branchen- und Länderstudien”, die „zum Schluss kommen, dass Netzwerke oder auch Verbände eine vorteilhaftere Rolle bezüglich der Koordination wirtschaftlicher Aktivitäten spielen als der Markt (bzw. Staat)”.[18]
Wie die Häufung marktfremder Momente innerhalb der Marktwirtschaft interpretiert wird
Eine erste Fraktion sieht die marktfremden Momente als Resultat von Angriffen auf die Marktwirtschaft, die sich der Ignoranz gegenüber ihrem Funktionieren verdanken. Die Selbstregulation der Märkte sei eigentlich einwandfrei, komme in der Realität aber nicht ausreichend zum Zuge, weil Feinde der Marktwirtschaft sowie Leute, die sie missverstehen, ihr permanent ins Handwerk pfuschen oder ihre Bedeutung verkennen.
Polanyi hat demgegenüber „die These vertreten, dass die Idee eines selbstregulierenden Marktes eine krasse Utopie bedeutet […]. Eine solche Institution konnte über längere Zeiträume nicht bestehen, ohne die menschliche und natürliche Substanz der Gesellschaft zu vernichten”.[19] Polanyi zufolge ruft die reine Marktwirtschaft ständig Gegenbewegungen zu ihr hervor. Sie treten für den Schutz sei es der Arbeitskraft, sei es halbwegs gedeihlicher Lebensbedingungen der Bevölkerung ein und trotzen diese in Kämpfen den Kapitalen ab.
Historische Beispiele zeigen, wie die kapitalistischen Unternehmen als Profiteure der Marktwirtschaft erst durch massiven Gegendruck daran gehindert wurden, die Bedingungen ihrer eigenen Existenz zu ruinieren. Das Militär beklagte im frühen 19. Jahrhundert, dass die Rekruten eine immer geringere Körperlänge aufwiesen. Allerhand Kämpfe gegen die Unternehmerklasse wurden notwendig, um sie davon abzuhalten, in der Orientierung an ihren kurzfristigen Profitinteressen durch die exzessive Kinderarbeit die benötigten Kräfte der nächsten Generation an Arbeitskräften zu gefährden. Die Beschränkung der Arbeitszeit, die staatliche Aufsicht über hygienische Zustände auch in der Fabrik und ähnliches haben dem Fortschritt der Marktwirtschaft keineswegs geschadet, sondern ihr im Gegenteil genutzt. Auch hier gilt der Satz: Die Besitzer der Ware Arbeitskraft müssen sich unter kapitalistischen Bedingungen zugleich mit dem Kapital reproduzieren und gegen es.
Eine zweite Auffassung nimmt an, die marktfremden Momente innerhalb der Marktwirtschaft verblieben unterhalb einer Schwelle, ab der sie die Marktwirtschaft insgesamt in Frage stellen würden. Die Quantität dieser Momente sei gewissermaßen zu klein, um in eine für die Marktwirtschaft gefährliche Qualität umzuschlagen. Bereits Alfred Müller-Armack kritisiert „das Verfahren, die Wirtschaftspolitik durch den Hinweis, dass sie nicht chemisch rein sei, in ihrem marktwirtschaftlichen Charakter anzuzweifeln. Die Erfahrung hat jedoch gezeigt, dass die Marktwirtschaft einen guten Teil nicht marktkonformer Maßnahmen ohne Einbußen ihres Wesens ertragen kann; bspw. hat die besondere Regelung der Landwirtschaft oder des Verkehrs keineswegs die Funktionsfähigkeit der Marktwirtschaft gestört. Solange der Grundvorgang der Wirtschaft einheitlich, also marktwirtschaftlich, bleibt, ist es möglich, auch andere Prinzipien zu tolerieren“.[20]
Eine dritte Fraktion nimmt die Konvergenz und gegenseitige Stärkung der marktfremden Momente an und erhofft sich von ihr das zunehmende Primat ethischer Maximen über das Marktgeschehen. Soziale Systeme können sich in ihrer Entwicklung vom sie zusammenhaltenden ursprünglichen Gravitationsfeld wegbewegen und in die Anziehung eines anderen Feldes geraten. Manche sehen diesen Prozess als automatisch an. Anderen gelten die skizzierten marktfremden Momente innerhalb der Marktwirtschaft als Ansatzpunkte. Auf sie, so die Hoffnung, stützen sich solche sozialen Bewegungen, die die Dominanz einer anderen Ordnung über die wirtschaftlichen Prozesse in Kämpfen durchsetzen.
In der von Polanyi befürworteten Gesellschaft geht es darum, die Märkte in sie übergreifende und ihnen übergeordnete soziale Verhältnisse einzubetten. Gelingt diese grundlegende qualitative Transformation nicht, so kann Polanyi zufolge eine ambitionierte soziale Politik mit der Marktwirtschaft nicht koexistieren. Eine der beiden Seiten muss sich durchsetzen, sonst kommt es zu ihrer gegenseitigen Lähmung.[21]
Zwar existieren in der von Polanyi als anstrebenswert erachteten Gesellschaft Märkte. Er plädiert aber für eine Wirtschaft, in der die Preise von Arbeitskraft, Boden und Kapital nicht hinter dem Rücken der Leute durch Marktmechanismen bzw. das anonyme Verhältnis zwischen Angebot und Nachfrage, sondern durch gesellschaftliche Erwägung, Beratung und Entscheidung bestimmt sind. Für alle anderen Waren behalten Märkte die Funktion, Knappheiten und die Nachfrage der Kunden anzuzeigen. Märkte hören insofern auf, eine für die Gesellschaft „letzte Entscheidungsinstanz” zu sein. Sie werden „aus einem Beherrscher zum Werkzeug unserer Zwecke”.[22]
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