Bruttoinlandsprodukt

Ist das BIP ein guter Indikator für das gute Leben?

| 29. Mai 2025
@midjourney

Das Bruttoinlandsprodukt ist in der Ökonomik und Wirtschaftspolitik der zentrale Messwert für wirtschaftliche Entwicklung und Wohlstand. Doch zeugt ein hohes BIP wirklich von einem guten Leben für alle?

„Das Bruttoinlandsprodukt ist ein sehr wichtiges Maß für alles, außer für das, was das Leben lebenswert macht“, sagte der US-Politiker Robert F. Kennedy schon 1968. Dennoch bleibt das BIP auch Jahrzehnte später der international zentrale Indikator für die wirtschaftliche Entwicklung und den Lebensstandard. Regelmäßig überschlagen sich die Wirtschaftsinstitute mit neuen Prognosen zum Bruttoinlandsprodukt.

Und auch der neue Bundeskanzler Friedrich Merz will Deutschland zur BIP- „Wachstumslokomotive“ machen und so den nationalen Wohlstand sichern. Doch zeugt ein hohes BIP wirklich von einem guten Leben für alle? Ist das Bruttoinlandsprodukt ein guter Indikator für den Lebensstandard? 

Eine kurze Geschichte des BIP

Wie lassen sich Volkseinkommen und „Wohlstand“ in einem Land erfassen und messen? Mit diesen und ähnlichen Fragen beschäftigten sich verschiedene Philosophen und Ökonomen bereits im 17. und 18. Jahrhundert. Zu den ersten quantitativen Modellen dieser Art gehörten etwa die Arbeiten von William Petty in England oder François Quesnay in Frankreich.

Umfassende Relevanz gewann das Thema dann zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Im Zuge der Weltwirtschaftskrise beauftragte die US-Regierung den amerikanischen Ökonomen Simon Kuznets in den 1930er Jahren, eine systematische Berechnung des Nationaleinkommens vorzunehmen. Ziel war es, die ökonomische Situation, etwa in Krisenmomenten, besser beurteilen zu können.

1934 veröffentlichte Kuznets seinen bahnbrechenden Bericht, in dem er erstmals das "National Income" umfassend für die USA berechnete – ein methodischer Grundstein für die zukünftige volkswirtschaftliche Gesamtrechnung. Als hätte er in die Zukunft geschaut, warnte er den US-Kongress explizit: „Aus einem Maß für das Nationaleinkommen lässt sich kaum der Wohlstand einer Nation ableiten“.

Nur wenig später legte John Maynard Keynes in England seine Allgemeinen Theorie […] (1936) vor, in der er das Funktionieren gesamtwirtschaftlicher Nachfrage analysierte. Mit Ausbruch des Zweiten Weltkrieges erarbeitete er in How to Pay for the War (1940), wie Großbritanniens Wirtschaft die nötigen Kriegsressourcen generieren und dabei zugleich stabilisiert werden könne. Keynes forderte in diesem Zusammenhang umfassende, aktuelle Kenntnisse über die wirtschaftliche Gesamtsituation und deren Leistungsfähigkeit.

Während und nach dem Krieg wurden auf Initiative der USA und Großbritanniens auf Konferenzen wie in Bretton Woods (1944) internationale Standards für volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen konzipiert. In den 1950er Jahren wurde im Auftrag der UNO das System of National Accounts als internationales Rahmenwerk veröffentlicht. Seither ist das BIP weltweit die wichtigste Kennzahl zur Messung wirtschaftlicher Aktivität, Grundlage internationaler Vergleiche und eine der zentralen Steuerungsgrößen in der Wirtschafts- und Finanzpolitik.

Der Fall Irland

Mit anderen Worten, das BIP hat sich durchgesetzt. Doch ist es geeignet, die wirtschaftliche Produktionskraft und den nationalen Lebensstandard passend abzubilden? Das Beispiel Irland säht erste Zweifel. Während Deutschland laut Weltbank 2023 ein inflationsbereinigtes Pro-Kopf-BIP von rund 63.155 US-Dollar in Kaufkraftparitäten hatte, lag das irische bei rund 115.505 US-Dollar – beinahe doppelt so hoch.

Kann das sein? Sind irische Produktion und Lebensstandard so viel höher als in Deutschland? Unter anderem damit hat sich die irische Zentralbank 2021 beschäftigt. Die Erklärung für Irlands hohes BIP liegt demnach nicht in einer außergewöhnlich hohen Produktion des Landes, sondern vielmehr in der Berechnungsmethode des BIP und der Tatsache, dass viele multinationale Unternehmen mit teilweise hohem intellektuellem Eigentum, also Patenten oder Markenrechten, ihren Geschäftssitz in Irland haben.

Das BIP in seiner klassischen Berechnung umfasst den Gesamtwert aller Waren und Dienstleistungen, die während einer Rechnungsperiode innerhalb der Landesgrenzen einer Volkswirtschaft „erwirtschaftet“ wurden. Hat ein multinationales Unternehmen seinen Sitz in Irland, werden die Umsätze und Gewinne der Unternehmen auch hier verbucht – selbst wenn ein Großteil der Profite im Nachgang ins Ausland abfließen. Und da Irland sehr niedrige Unternehmenssteuern erhebt, haben viel Unternehmen ihren Sitz auf der "Grünen Insel".

Um diesem Phänomen entgegenzusteuern, wird traditionell zusätzlich auf das Bruttonationaleinkommen (BNE) geschaut. Dieses umfasst im Vergleich zum BIP jene Waren und Dienstleistungen, die mit allen im Besitz von Inländern befindlichen Produktionsfaktoren hergestellt wurden abzüglich der Zahlungen ans Ausland. Doch auch diese Messgröße überschätzt Irlands wahres Volkseinkommen.

Viele der multinationalen Unternehmen besitzen große Kapitalanlagen, unter anderem in Form vom geistigen Eigentum. Wenn dieses geistige Eigentum nun irgendwo auf der Welt angewendet wird, werden die Erträge automatisch in dem Land des Eigentümers verbucht – etwa Irland. Das verzerrt das BNE. Aufgrund ihrer Berechnungsmethoden sind also weder BIP noch BNE wasserdichte Indikatoren für Produktion und Wirtschaftskraft.

Hohes BIP und ein gutes Leben

So oder so: Eine große Produktion bedeutet noch lange nicht ein gutes Leben. 2021 brach etwa eine verheerende Flut über das Ahrtal in Nordrhein-Westphalen und Rheinland-Pfalz herein. 180 Menschen starben, tausende Gebäude und Brücken wurden zerstört und noch mehr Menschen und Unternehmen verloren Großteile ihres Besitzes. Die wirtschaftlichen Einbußen waren groß – zumindest temporär.

Doch was kaputt ist, muss natürlich wiederaufgebaut werden. Und das beschert vielen Unternehmen neue Aufträge. Zur Unterstützung des Wiederaufbaus setzten Bund und Länder zudem einen gemeinsamen Fonds mit einem Inhalt von rund 30 Milliarden Euro auf. Das Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle stellt in einer Studie in den Folgejahren der Flut ein regionales BIP-Wachstum fest, das signifikant über dem langjährigen Trend liegt und führt es auf den Wiederaufbau zurück.

Grundsätzlich erfasst das Bruttoinlandsprodukt jede Form von wirtschaftlicher Leistung – undifferenziert. Es steigt etwa durch den Verkauf von Fast Food oder Süßigkeiten, aber auch, wenn Menschen infolgedessen mit Bluthochdruck oder Diabetes ärztlich behandelt werden und Medikamente aus der Pharmaindustrie verschrieben bekommen. Ob großflächige Entwaldungen, Überfischung oder Räumungen privater Eigenheime für einen Tagebau: Das BIP steigt.

Darüber hinaus berücksichtigt das Bruttoinlandsprodukt nur bezahlte Produktion. Knapp ein Drittel der geleisteten Arbeit ist laut der Hans-Böckler-Stiftung allerdings unbezahlt. Dies umfasst zum Beispiel Tätigkeiten wie Hausarbeit, Sorgearbeit (für Kinder und Pflege) sowie ehrenamtliche Tätigkeiten. Für die Aufrechterhaltung des Wirtschaftssystems sind diese Care-Arbeiten essenziell, im BIP und somit auch in der öffentlichen Wahrnehmung fällt ihre Relevanz jedoch häufig unter den Tisch – und auch, wer den Großteil der unbezahlten Arbeiten erledigt: Frauen.

Ein weiterer Punkt: Das BIP sagt nichts über die Verteilung der ökonomischen Ressourcen innerhalb der Gesellschaft aus. Wie viel die arbeitende Bevölkerung vom Kuchen abbekommt, spiegelt sich im Bruttoinlandsprodukt nicht wider. Im Gegenteil: durch Ausbeutung kann das BIP sogar steigen – zumindest, solange beispielsweise das Ausland die nötige Nachfrage nach den Produkten übernimmt und für Absatz sorgt. Ein Land kann ein sehr hohes BIP haben, während gleichzeitig sein Wohlstand extrem ungleich verteilt ist.

Wenn Katastrophen, Zerstörung und Ausbeutung das BIP steigern, stellen sich Fragen: Ist das wirklich gut für uns und verbessert das unser Leben? Ist das Bruttoinlandsprodukt ein geeigneter Orientierungsindikator für unseren Lebensstandard?

Alternativen zum BIP

Das Bruttoinlandsprodukt weist sowohl in der Messung der nationalen Wirtschaftsleistung als auch als Indikator für den Lebensstandard gewisse Schwächen auf. Doch was folgt daraus und wie geht es vielleicht besser? Damit beschäftigen sich zum Beispiel der US-amerikanische Ökonomen Robert Costanza und sein Team. Die Autoren gliedern die Messung des Lebensstandards in drei Kategorien.

Die erste umfasst angepasste ökonomische Indikatoren wie den Genuine Progress Indicator, der soziale und ökologische Faktoren sowie die Einkommensverteilung berücksichtigt. Die zweite Gruppe besteht aus subjektiven Wohlstandsmaßen, die auf Befragungen zur Lebenszufriedenheit basieren, wie beispielsweise der World Values Survey oder das Bruttonationalglück in Bhutan. Diese sind jedoch zwischen verschiedenen Kulturen schwierig zu vergleichen.

Die dritte Gruppe verbindet mehrere objektive und subjektive Indikatoren in gewichtet zusammengesetzten Indizes wie dem Happy Planet Index oder dem Better Life Index, die etwa Lebenszufriedenheit, Lebenserwartung, Einkommen und Umweltaspekte einbeziehen. Ein generelles Problem mit Indizes ist allerdings immer, dass sie einen Durchschnitt aus allen Werten bilden und der Gesamtwert einzelne, vielleicht sehr relevante Werte zunächst verschleiert.

Ein prominentes wenngleich nicht unumstrittenes Beispiel für eine praktische Anwendung in der Wirtschaftspolitik ist das Wellbeing Budget in Neuseeland. Investitionsentscheidungen sollen sich dabei neben traditionellen Wirtschaftskennzahlen auch an sozialen, ökologischen und psychischen Faktoren, etwa in den Bereichen psychische Gesundheit, Kinderarmut, Umwelt und der Stärkung indigener Maori-Gemeinschaften konzentrieren. Ministerien müssen bei der Beantragung von Haushaltsgeldern nachweisen, wie ihre Programme das allgemeine Wohlbefinden verbessern.

Auch wenn es mittlerweile viele neue Ansätze zur Messung von Lebensstandard und gutem Leben gibt, hat sich bisher keiner international durchgesetzt. Am nächsten kommen diesem Anspruch vielleicht die Sustainable Development Goals der Vereinten Nationen. Diese umfassen 17 konkrete Ziele, die weltweit der Sicherung einer nachhaltigen Entwicklung auf ökonomischer, sozialer sowie ökologischer Ebene dienen sollen. In der öffentlichen Debatte dominiert allerdings weiterhin das BIP. Zurecht?