Marktwirtschaften: vom Herrscher zum Werkzeug?
Liebe Leserinnen und Leser,
Marx und Engels, Keynes oder Polanyi – sie alle haben nicht durch ihre einflussreichen Analysen der Marktwirtschaft hohen Bekanntheitsgrad erreicht. Sie hatten auch einen explizit politischen Anspruch. Soll heißen: Sie fordern eine mehr oder minder radikale Transformation der Marktwirtschaft.
Mit den Gedanken von einem der genannten Vorreiter setzt sich unser Autor Meinhard Creydt intensiv auseinander: Karl Polanyi. Ausgehend von der Feststellung, dass Märkte ein Eigenleben gegenüber der Gesellschaft entwickelt haben, befürwortet der ungarische Wirtschaftshistoriker, "die Märkte in sie übergreifende und ihnen übergeordnete soziale Verhältnisse einzubetten", schreibt Creydt. Märkte würden laut Polanyi so von "einem Beherrscher zum Werkzeug unserer Zwecke".
Im Einklang mit Polanyis Prämisse steht Dean Bakers transformative Idee für den Finanzsektor. Dessen Zweck: Geld an Unternehmen und Privatpersonen für realwirtschaftliche Aktivitäten zu verteilen. Für den US-Ökonomen Baker darf der Finanzsektor lediglich ein "Zwischenprodukt" sein, der daher "so klein wie möglich" zu halten ist.
Doch welche alternativen Organisationsformen sind für jene Unternehmen denkbar, deren Liquidität der Finanzsektor verbessert? Ausgehend von einer Kritik am Primat des Shareholder-Value-Ansatzes (Profit steht über allem), schweben dem BWL-Professor Daniel Deimling "neue Unternehmer" vor, für die der Gewinn ein "gleichberechtigtes Ziel neben anderen wird".
Transformative Ideen finden sich also nicht nur bei den Klassikern der Politischen Ökonomie, sie dringen bis in die Gegenwart. Und sie lassen sich miteinander verknüpfen. Gut so, denn welche Bedeutung haben Gesellschaftsanalyse und Gesellschaftskritik ohne Visionen für Veränderung?
Alle Artikel dieser Ausgabe:
- Eine „große, schöne Steuer“? Ja, für die Finanzindustrie Donald Trump plant ein „Big Beautiful Bill“ für Steuererleichterungen. Viel sinnvoller wäre es, endlich eine Steuer auf Finanztransaktionen einzuführen. Dean Baker
- Es grüßt die WC-Ente Die Kapitalmarktunion soll im Interesse Europas sein, heißt es. Tatsächlich aber stammt sie aus der Feder der Großbanken. Dirk Bezemer
- Jetzt zahlt die EU den Preis für ihr überholtes Wirtschaftsmodell Donald Trump will zum 9. Juli 50-Prozent-Zölle auf Waren aus der EU verhängen. Der US-Präsident begründet das unter anderem mit einer unausgewogenen Handelsbilanz der EU. Und damit hat er einen Punkt. Thomas Fazi
- Ist das BIP ein guter Indikator für das gute Leben? Das Bruttoinlandsprodukt ist in der Ökonomik und Wirtschaftspolitik der zentrale Messwert für wirtschaftliche Entwicklung und Wohlstand. Doch zeugt ein hohes BIP wirklich von einem guten Leben für alle? Florian Schaaf
- „Goldene Rüstungsregel“ statt echter Zeitenwende? Der neue Kriegskeynesianismus fügt sich in das enge Korsett des EU-Stabilitätspakts. Doch die europäische Souveränität darf nicht nur militärisch, sondern muss auch sozial und wirtschaftlich gedacht werden. Wolfgang Edelmüller
- Europäische Sicherheit ohne die USA? Oberst a.D. Wolfgang Richter über die Optionen und Grenzen einer strategischen Autonomie Europas. Die Redaktion
- Die Transformation der Marktwirtschaft Für Karl Polanyi war die Idee eines selbstregulierenden Marktes „eine krasse Utopie“. Die Märkte wollte er von „einem Beherrscher zum Werkzeug unserer Zwecke” machen. Eine Bestandsaufnahme. Meinhard Creydt
- Die Wahl Papst Leos bestätigt Franziskus' radikale Reformen Papst Franziskus galt vielen als Reformer ohne Wirkung – ein Missverständnis, genährt von mangelndem Verständnis für die komplexe Architektur des Vatikans. Die Wahl seines Nachfolgers Leo zeigt: Seine Veränderungen waren tiefgreifender, als die Kritiker ahnten. Martin Gak
- Ökonomische Lehre: Profit über Gesetzestreue Das verbreitete Schulbuch "Wirtschaft für die Sekundarstufe II" betrachtet Profitstreben als Primat des Unternehmertums. Die Sicht auf die Wirtschaft wird damit gefährlich verengt. Daniel Deimling