Bildungsmisere

Koalitionsvertrag: Bildung kommt zu „Gedöns“

| 04. Juni 2025

Das deutsche Bildungssystem steckt seit Jahrzehnten in der Krise – doch echte Reformen bleiben aus. Der neue Koalitionsvertrag bringt kaum Neues, streicht aber faktisch das Bildungsministerium und verschärft die Probleme. Ein Weckruf.

Das deutsche Bildungs­- und Berufsbildungswesen befindet sich in einem beklagenswerten Zustand. Und das nicht erst seit gestern. Bereits im Jahr 2000 erreichte Deutschland bei der OECD-Schulleistungsuntersuchung PISA „überraschenderweise“ einen Rang weit unten.

Man gelobte Besserung, gleichzeitig aber sollte eine Diskussion zum unterfinanzierten und gegliederten Schulsystem (und zu „Einer Schule für Alle“) auf jeden Fall vermieden werden. Stattdessen beschloss die Kultusministerkonferenz sieben Handlungsfelder. Dazu gehören unter anderem: mehr vorschulische Bildung, mehr Förderung von bildungsbenachteiligten Kindern, Qualitätssicherung des Unterrichts durch bundesweite Bildungsstandards und Tests sowie mehr Ganztagsangebote.

Nun sind über zwanzig Jahre vergangen. Die Schülerleistungen bei PISA haben sich anfänglich etwas verbessert. Seit 2015 ging es aber wieder bergab. Neue Aufgaben wie die Inklusion Behinderter, die Aufnahme von Migranten und Flüchtlingen sowie die langen Schulschließungen in Deutschland dürften dies bewirkt haben. Deutschland hat bei PISA 2022 noch schlechter abgeschnitten als im Jahr 2000. In Mathematik, Lesekompetenz und Naturwissenschaften wurden „die niedrigsten Werte (ermittelt), die jemals im Rahmen von PISA gemessen wurden“, so die OECD. Das deutsche Schulsystem ist heute in einem noch schlechteren Zustand als vor über zwanzig Jahren – nur dass es diesmal kaum jemanden zu beunruhigen scheint.

Dass ist verwunderlich, denn nach wie vor besteht einer der wichtigsten Aufgaben des Bildungssystems darin, der Wirtschaft qualifizierte Arbeitskräfte bereitzustellen. Im Ausbildungsjahr 2024 erhielten nur 46 Prozent der bei der Bundesagentur für Arbeit registrierten Bewerberinnen und Bewerber tatsächlich einen Ausbildungsplatz. Dies ist seit einem halben Jahrhundert – mit fallender Tendenz – so. Die Folge: In Wirtschaft, Medien und Politik wird landauf, landab über „den Fachkräftemangel“ geklagt.

Und nicht nur im Spezifischen für die Wirtschaft, sondern auch allgemein für die Bevölkerung ist Bildung sehr wichtig: Auf die Frage, welche „Themen, die unser Land beschäftigen“, halten Sie für „sehr wichtig“, gaben 2025 77 Prozent der Befragten (nach dem Gesundheitswesen) in einer repräsentativen Umfrage des Bundesumweltamts an: „der Zustand des Bildungswesens“.

Zerschlagung des Bundesbildungsministeriums

Von daher könnte man erwarten, dass all dies für die neue Koalition aus Union und SPD ein Anlass wäre, nun endlich das Ruder im Bildungsbereich herumzureißen. Danach sieht es aber nicht aus.

Das Bundesministerium für Bildung und Forschung wird zerschlagen. Der Bildungsteil (außer dem Hochschulbereich) wird zu Familie und Frauen verschoben, also zum Ministerium, das Gerhard Schröder einst „Familie und das ganze Gedöns“ nannte. Der neue Name des Ministeriums lautet: Bundesministerium für Bildung, Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Diese Aufteilung und Verlagerung kommt einer Abschaffung des Bildungsministeriums gleich. Deutlicher kann man die Bildung nicht abwerten.

Bundesfamilienministerin wird Karin Prien. Sie war zuvor Kultusministerin in Schleswig-Holstein. Eigentlich ist sie gelernte Juristin und Rechtsanwältin und kommt aus Hamburg-Blankenese, einem Nobelstadtteil mit einem Durchschnittseinkommen von gut 130.300 Euro, während es im zweitgrößten Stadtteil Hamburgs, in Billstedt, bei nur 28.700 Euro liegt. Sie war dort Ortsvorsitzende der CDU und hat dort mit zwei anderen Hardlinern eine „Anti-Reform-Troika“ gegen die sechsjährige Primarschule gebildet, deren Scheitern letztendlich auch das Ende von Ole von Beust als CDU-Bürgermeister und den Aufstieg von Olaf Scholz bedeutete.

Priens Wirken in Schleswig-Holstein gilt als wenig rühmlich. So haben in diesem Bundesland im Jahr 2024 weit unterm Bundesdurchschnitt nur 39,2 Prozent der bei der Bundesagentur für Arbeit gemeldeten Bewerberinnen und Bewerber für eine Berufsausbildungsstelle auch tatsächlich eine Ausbildung aufnehmen können, so das Bundesinstitut für Berufsbildung.

Viel Altbekanntes

Die Vorhaben im Koalitionsvertrag sind weitgehend eine Wiederholung von Altbekanntem. So will man das „Startchancen-Programm bürokratiearm weiterentwickeln“ und „auf weitere Schulen ausweiten“. Allein schon der Hinweis auf eine bürokratiearme Weiterentwicklung deutet darauf hin, dass das Startchancen-Programm mit Lenkungskreis, Evaluation und dergleichen bisher nicht dem entsprochen hat. Das Startchancen-Programm richtet sich insbesondere an Grundschulen in „sozialen Brennpunkten“, also in Gegenden mit einem hohen Anteil an armen und migrantische Familien. Etwa ein Viertel der Kinder erreichen nicht die Mindestanforderungen im Lesen.

Das deutsche Bildungswesen ist unter anderem durch eine Unzahl von kurzfristigen Programmen gekennzeichnet. Das Startchancen-Programm ist dagegen längerfristig angelegt. Es startete im August 2024 und soll zehn Jahre andauern. Der Bund will in diesen zehn Jahren 10 Milliarden Euro bereitstellen, wozu Länder und Kommunen noch einmal 10 Millionen kofinanzieren sollen. 

Mit dem Startchancen-Programm wird anerkannt, dass Deutschland unter anderem ein Problem mit der Abhängigkeit des Bildungserfolgs von der sozialen Herkunft hat und, dass die Schulen chronisch unterfinanziert sind. Das Startchancen-Programm wird aber kaum eine Verbesserung herbeiführen. Etwa 4.000 von 30.000 Schulen sollen in dessen Genuss kommen. Pro Schule wird das Geld in etwa für drei Vollzeitkräfte reichen oder 250 Euro pro Schüler im Jahr umfassen. „Das wäre jedoch nur ein Plus von 2,5 Prozent der aktuellen Gesamtausgaben pro Schüler von zuletzt rund 10.000 Euro“, kritisieren Autoren des Handelsblatts.

Während sich die deutsche Gesellschaft durch Agenda-Politik, Einwanderung, Frauenerwerbstätigkeit und digitale Medien immer mehr verändert hat, ist in der Schule vieles geblieben – teilweise gibt es bei „Führung“ und Kontrolle sogar Schritte rückwärts. Den Veränderungen in der Gesellschaft und neuen Aufgaben wie der Inklusion und der Beschulung von Geflüchteten ist mit traditionellem Unterricht und Fächerdifferenzierung sowie der bisherigen Unterfinanzierung nicht angemessen beizukommen. Es braucht offenen Unterricht, viel kleinere Klassen, durchgängige Doppelbesetzungen und echte Ganztagsschulen.

Auch das Kooperationsverbot von Bund und Ländern im Bildungsbereich bleibt unangetastet. Seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland besteht eine Kulturhoheit der Länder. Das heißt: Im Bereich der allgemeinen Bildung sind die Länder, im Bereich der beruflichen Bildung ist (aufgrund des Wirtschaftsrechts) der Bund zuständig.

Trotzdem hat es seit Einführung eines Bundesbildungsministeriums unter der sozialliberalen Koalition im Jahr 1969 immer wieder Kooperationen zwischen Bund und Ländern in der Allgemeinbildung gegeben, wie zum Beispiel in der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung von 1970. Derartige Kooperationen waren konservativen Kräften stets ein Dorn im Auge, weshalb Union und SPD im Jahr 2006 ein Kooperationsverbot ins Grundgesetz geschrieben haben. Dies erlaubt eine Zusammenarbeit von Bund und Ländern grundsätzlich nur noch bei internationalen Vergleichsstudien und Berichten.

Dieses Kooperationsverbot hat sich als so unsinnig herausgestellt, dass beständig davon abgewichen wurde und mit Ausnahme von CDU/CSU und AfD alle Parteien dessen Aufhebung fordern.
Im Koalitionsvertrag findet man davon indessen nichts. Dort heißt es schwammig: „Wir bekennen uns zum Bildungsföderalismus.“ Und: Man möchte eine Kommission von Bund, Ländern und Gemeinden zur Entbürokratisierung einsetzen.

Im Koalitionsvertrag wird mehrfach der Fachkräftemangel beklagt. Diesem soll (neben einer erhöhten Erwerbsbeteiligung der Frauen) durch Einwanderung begegnet werden. „Dem massiven Fachkräftemangel wollen wir entgegenwirken, indem wir Arbeitsgenehmigungen für qualifizierte Fachkräfte beschleunigen.“ Dazu soll „eine digitale Agentur für Fachkräfteeinwanderung – ‚Work-and-stay-Agentur‘“ geschaffen werden.

Fachkräfteeinwanderung kommt Unternehmen, die nicht oder zu wenig ausbilden, sicherlich zugute und wird von diesen deshalb regelmäßig begrüßt. Sie hat aber viele negative Aspekte. Die Abwerbung von Fachkräften ist ethisch fragwürdig, weil diese Arbeitskräfte dann in den Herkunftsländern fehlen. In Deutschland fehlen schon jetzt die nötigen Kapazitäten im Wohnbereich, in Schulen oder im Nahverkehr. Zudem verstärkt die Fachkräfteabwerbung im Ausland die Nichtausbildungstendenzen der hiesigen Betriebe.

Die Koalitionäre sind in ihrem Koalitionsvertrag allen Ernstes der Meinung, dass „unser anerkanntes Aus- und Weiterbildungssystem […] das Aushängeschild Deutschlands“ sei. Offenbar haben sie nicht mitbekommen, dass im letzten Jahr nur 198.000 der 432.000 Bewerberinnen und Bewerber, die der Arbeitsagentur gemeldet waren, in eine Ausbildung vermittelt werden konnten. Das sind gerade einmal 46 Prozent.

Auch ist von einer „Ausbildungsgarantie“, wie sie noch im letzten Koalitionsvertrag auftauchte, keine Rede mehr. Es geht nur noch um bescheidene und ineffektive Teilmaßnahmen. So sollen die frühe Berufsorientierung in Schulen und Jugendberufsagenturen weiter gestärkt werden. Dazu sollen Schülerdaten zwischen den Behörden (wie Schulverwaltung, Arbeitsagenturen und Jugendberufsagenturen) „datenschutzkonform“ ausgetauscht werden. Außerdem soll „für junge Menschen ohne berufliche Perspektiven“ eine „Pflicht, sich bei der Berufsberatung zu melden“, geschaffen werden, heißt es im Koalitionsvertrag von Schwarz / Rot.

Die Maßnahmen konzentrieren sich auf Orientierung, Beratung und Vermittlung, während das eigentliche Problem – der Mangel an Ausbildungsplätzen – ausgeblendet wird. Der Vorteil daran: Der Schwarze Peter für die grassierende Ausbildungslosigkeit wird von der Politik und der Wirtschaft auf die Jugendlichen und deren Eltern abgewälzt, die vermeintlich nicht wissen, wie man sich richtig bewirbt. Aus einem objektiven Problem wird ein subjektives Problem gemacht. Mehr Berufsorientierung und mehr Jugendberufsagenturen schaffen aber keine Ausbildungsplätze. Die Ausbildungsmisere und der Fachkräftemangel werden so perpetuiert.

Wenig Neues

Zusammenfassend kann man sagen: Der Koalitionsvertrag enthält in der Bildungspolitik wenig Neues und sieht kaum zusätzliche Investitionen vor. Es gibt allerdings drei Abweichungen.

Erstens: An den Koalitionären ist nicht unbemerkt vorbeigegangen, dass es eine „große Zahl an Personen über 25 Jahre ohne Berufsabschluss“ gibt. Der Datenreport zum Berufsbildungsbericht 2024 zeigt auf, dass deren Anteil an den Gleichaltrigen in den letzten Jahren beständig zugenommen hat: von 13,0 Prozent im Jahr 2015 auf 19,1 Prozent 2022. Die jungen Leute sind Opfer der grassierenden Ausbildungslosigkeit in Deutschland geworden.

Dies wollen die Koalitionäre nun angehen – aber nicht indem man sie in anerkannten Ausbildungsberufen zu Fachkräften nachqualifiziert, sondern indem man ihnen lediglich „abschlussorientierte Teilqualifikationen“ vermittelt. Die Gewerkschaften sollen dieser „untergesetzlichen Definition von Standards“ zustimmen, was sie in der Vergangenheit abgelehnt haben. So heißt es im Koalitionsvertrag.

Derartige Teilqualifizierungen sind reines Stückwerk. Einerseits wird permanent über den Fachkräftemangel geklagt, andererseits wird nichts gegen die Nichtausbildungstendenz der Betriebe unternommen. Die Opfer dieser Untätigkeit sollen lediglich auf das Niveau von Angelernten qualifiziert werden.

Zweitens: Wie zuvor ausgeführt, wollen die Koalitionäre das Kooperationsverbot von Bund und Ländern in der Allgemeinbildung nicht aufheben. In einem Bereich sollen Bund und Länder aber enger zusammenarbeiten: beim gläsernen Schüler. Dazu heißt es im Koalitionsvertrag:

„Unter Achtung der jeweiligen Zuständigkeiten wollen wir gemeinsam mit den Ländern für die nächste Dekade relevante und messbare Bildungsziele vereinbaren und eine datengestützte Schulentwicklung und das Bildungsverlaufsregister schaffen. Die Einführung einer zwischen den Ländern kompatiblen, datenschutzkonformen Schüler-ID unterstützen wir und ermöglichen die Verknüpfung mit der Bürger-ID.“

Dies ist ein sehr weitgehender Schritt. Es ist zwar richtig, dass die Zersplitterung des deutschen Bildungswesens in Bund, Länder und Kommunen in diverse Bildungsträger, Arbeitsagenturen Jugendberufsagenturen und so weiter eine Analyse von Bildungswegen und deren Steuerung erschwert. Andererseits gibt es seit der „empirischen Wende“ in den 1990er Jahren weniger ein Datenproblem, sondern viel mehr ein Wahrnehmungs- und Umsetzungsproblem in der Bildungspolitik. Noch mehr Daten werden hieran kaum etwas ändern. Zu befürchten ist, dass die Daten nicht bei den Ministerien verbleiben. Schon jetzt werden sie (wie bei der Berufsorientierung oder Jugendberufsagenturen) an Externe weitergegeben. Damit wird ein weites Feld eröffnet.

Drittens: Mit der Zeitenwende soll auch die Militarisierung der Schulen vorangetrieben werden. Mit dieser Haltung heißt es im Koalitionsvertrag:  Wir „setzen uns für die Stärkung der Rolle der Jugendoffiziere ein, die an den Schulen einen wichtigen Bildungsauftrag erfüllen.“

Dies widerspricht eklatant wichtigen Prinzipien des Politik- und Geschichtsunterrichts, wie sie im „Beutelsbacher Konsens“ vereinbart wurden. Der „Beutelsbacher Konsens“ beinhaltet drei Prinzipien: das Überwältigungsverbot (keine Propaganda), Kontroversität (unterschiedliche Sichtweisen) und Schülerorientierung (Herausarbeitung der Schülerinteressen). Das dies nicht von Bundeswehroffizieren gewährleistet werden kann, die junge Leute für die Truppe werben sollen, dürfte evident sein.

Das deutsche Bildungswesen befindet sich seit Jahren in einem schleichenden Niedergang. Die neue Koalition ist weder analytisch noch personell in der Lage, dies zu erkennen, noch ist sie willens, dies finanziell oder durch sinnvolle Reformen zu ändern. Der Niedergang des deutschen Bildungswesens wird sich somit fortsetzen. Dabei heißt es im Koalitionsvertrag richtig: „Als rohstoffarmes Industrieland brauchen wir ein modernes Bildungssystem“.