Editorial

Rezession der Demographie

| 05. Juni 2025

Liebe Leserinnen und Leser,

der demographische Wandel ist in aller Munde – nicht erst seit gestern. Während deutsche Frauen 1964 noch im Schnitt 2,4 Kinder bekommen haben, waren es 2023 noch 1,4, so Daten der Weltbank. Die geburtenstarken Jahrgänge der 50er- und 60er-Jahre – die sogenannten Babyboomer – gehen in Rente und es kommen nicht im gleichen Maße neue Erwerbstätige nach. Die Folge: Die Erwerbsbevölkerung sinkt.

Abseits davon, welche Folgen dies haben kann – es ließen sich auch neue Erwerbstätige aus einer wachsenden Arbeitslosenzahl rekrutieren, um die verrenteten Boomer zumindest teilweise zu ersetzen – ist es auffällig, dass die geburtenstarken Jahrgänge mit einer Epoche zusammenfallen, die als goldenes Zeitalter des Kapitalismus gilt. Anscheinend haben die damaligen Benefits wie Vollbeschäftigung und progressive Reallohnentwicklung die Familiengründung angeregt.

Seitdem hat sich das Lohnwachstum verlangsamt – insbesondere für die unteren Lohngruppen – und Lebenshaltungskosten haben sich verteuert. Nicht nur die direkten Kosten für Kinderbetreuung sind überproportional stark angestiegen, sondern auch indirekte Kosten wie für Wohnen, so der heterodoxe Ökonom Justus Krause in dieser Ausgabe. Nicht verwunderlich, dass gerade für die unteren Einkommensschichten häufig schlicht kein Geld mehr da ist, um den Kinderwunsch zu realisieren.

Sinkende Geburtenraten sind jedoch kein Phänomen, das nur den Westen betrifft. In dieser Ausgabe berichtet der Ökonom Michael Roberts von der "supergealterten Gesellschaft" Südkorea – eine Volkswirtschaft, in der mehr als 20 Prozent der Bevölkerung 65 Jahre oder älter ist. Südkoreas Geburtenrate liegt heute mit 0,7 Kinder pro Frau sogar noch unter der von China und Japan und ist damit die niedrigste weltweit. Die möglichen Folgen laut Roberts: Halbierung der Erwerbsbevölkerung in den nächsten 40 Jahren und eine schrumpfende Wirtschaft.

Die chinesische Führung hat das Problem mit seiner alternden Bevölkerung erkannt und 2016 die Ein-Kind-Politik beendet. Ab diesem Zeitpunkt war es zunächst erlaubt, zwei Kinder zu bekommen – ab 2021 sogar drei. Doch der erhoffte Effekt blieb aus: Die chinesische Geburtenrate sank weiter. Ähnlich wie Krause im Hinblick auf Deutschland sieht Yi Fuxian, leitender Wissenschaftler an der University of Wisconsin-Madison, die niedrigen Haushaltseinkommen in China als Hauptursache. Diese führten auch hier dazu, dass sich viele Eltern kein weiteres Kind leisten können.

Was helfen kann, liegt sowohl im Westen als auch in Asien auf der Hand: Entweder stärker wachsende Löhne oder eine Begrenzung des Anstiegs relevanter Lebenshaltungskosten wie für Miete oder Kinderbetreuung. Oder beides?

Alle Artikel dieser Ausgabe:

  • Steve Keen: „Wachstum muss zuerst im Inland entstehen“ Friedrich Merz wird Deutschland nicht wieder aus der Krise holen, glaubt der australische Ökonom Steve Keen. Hans-Peter Roll.
  • Wo Trump bei China richtig liegt Donald Trump beklagt, dass chinesische Exporte zum Niedergang der US-Fertigungsindustrie beigetragen haben – und hat damit einen Punkt. Aber den höchsten Preis hat China selbst gezahlt, das nun vor einem demografischen Problem steht. Yi Fuxian
  • Koalitionsvertrag: Bildung kommt zu „Gedöns“ Das deutsche Bildungssystem steckt seit Jahrzehnten in der Krise – doch echte Reformen bleiben aus. Der neue Koalitionsvertrag bringt kaum Neues, streicht aber faktisch das Bildungsministerium und verschärft die Probleme. Ein Weckruf. Kay Beiderwieden
  • Trügerische Freiheit: Warum heute beide Ehepartner arbeiten müssen In kaum einer deutschen Familie gibt es noch Alleinversorger. Die einstige Beschränkung der Frau auf die Hausarbeit ist zum ökonomischen Zwang zur Erwerbstätigkeit geworden. Die gewonnene Freiheit ist zu einer Unfreiheit geworden. Justus Krause
  • Die EU ist erpressbar geworden US-Präsident Trump dreht weiter an der Zollschraube, der Handelskrieg mit Europa eskaliert. Doch die Europäer leisten keine Gegenwehr. Dafür gibt es viele Gründe – sie reichen von der deutschen Exportabhängigkeit bis zur Fixierung auf die Ukraine. Eric Bonse
  • Grüne Industriepolitik – ein Beitrag zur europäischen Souveränität Veranstaltet in Zusammenarbeit mit Dr. Marcus Obrecht, Seminar für Wissenschaftliche Politik an der Uni Freiburg und dem Colloquium politicum Freiburg. Die Redaktion
  • Carsten Herbert: „Ich würde die Förderprogramme komplett umkrempeln“ Ohne breite Akzeptanz in der Bevölkerung gelingt die Wärmewende nur schleppend. Nicht nur der finanzielle Ausgleich spielt für Hausbesitzer eine Rolle. Auch müsse ihre individuelle Situation stärker berücksichtigt werden, sagt der Energieberater Carsten Herbert. Lukas Poths
  • Südkorea unter Druck Ein gescheiterter Putsch, ein neugewählter linker Präsident und eine Volkswirtschaft an der Schwelle zur Rezession: Südkorea steht an einem Wendepunkt – zwischen sozialem Aufbruch, Austerität und nuklearer Aufrüstung. Michael Roberts
  • Der größte Feind der Armen kommt aus den eigenen Reihen Warum wählen so viele arme Menschen Parteien, die materiell gegen ihre eigenen Interessen stehen? Der am 13. Mai verstorbene ehemalige Präsident Uruguays, José Mujica, hatte seine eigene Theorie. Tiago Cardão-Pito