Südkorea unter Druck
Ein gescheiterter Putsch, ein neugewählter linker Präsident und eine Volkswirtschaft an der Schwelle zur Rezession: Südkorea steht an einem Wendepunkt – zwischen sozialem Aufbruch, Austerität und nuklearer Aufrüstung.
Südkorea hat einige turbulente Monate hinter sich. Anfang Dezember 2024 scheiterte der südkoreanische Ex-Präsident Yoon Suk-yeol bei einem Putschversuch. Er rief das Kriegsrecht aus, versuchte Oppositionsführer verhaften zu lassen und das Parlament aufzulösen, in dem er keine Mehrheit hatte.
Doch Yoon scheiterte. Einstimmig hob die Nationalversammlung das Kriegsrecht auf. Rückenwind erhielt sie durch Proteste aus der Zivilgesellschaft, Generalstreik-Drohungen der Gewerkschaften und Kritik aus dem Ausland – am Ende wurde Yoon seines Amtes enthoben. Nun wartet er trotz intensiver Bemühungen seiner Partei, ihn im Amt zu halten, auf seinen Prozess.
Die Mäßigung des neuen Präsidenten
Im Windschatten des Amtsenthebungsverfahrens gewann ein oppositioneller Politiker zunehmend an Popularität: Lee Jae-myung, Vorsitzender der sozialliberalen Deobureo-minju-Partei.
Im Präsidentschaftswahlkampf 2022 erklärte er seine Ambition, ein „erfolgreicher Bernie Sanders“ zu werden. Lee positionierte sich ursprünglich als Anti-Elitist und Held der Arbeiterklasse. Er trat für die Schaffung von Arbeitsplätzen und eine „gerechte Gesellschaft“ ein. In der Folge versuchte die herrschende Elite, ihn am Aufstieg zu hindern. Trotzdem verlor er 2022 nur knapp gegen Yoon: Vom Sieg trennten ihn lediglich 0,7 Prozent der Stimmen.
Zu seiner Popularität wird auch seine bewegte Geschichte beigetragen haben: Aufgewachsen in ärmlichen Verhältnissen, zog er sich im Alter von 13 Jahren eine bleibende Verletzung zu, als eine Maschine seinen Arm in der Baseballhandschuhfabrik erfasste, in der er arbeitete. 2024 überlebte er einen Attentat, bei dem er in den Hals gestochen wurde.
Außerdem ist er wegen Trunkenheit am Steuer vorbestraft, und es laufen langwierige Ermittlungen wegen eines umstrittenen Immobilienprojekts während seiner Zeit als Bürgermeister. Zu den aktuellen Verfahren gegen ihn gehören Anklagen wegen Veruntreuung öffentlicher Gelder, falscher Angaben im Wahlkampf und der Beteiligung an einem mutmaßlichen Komplott, bei dem über einen Unterwäschehersteller Geld nach Nordkorea geschleust wurde, um eine Einladung nach Pjöngjang zu erhalten.
Doch für den jüngsten Wahlkampf hatte der linke Lee sein radikales Image abgeschwächt und sich Richtung Mitte bewegt. Er bezeichnet sich sogar als „konservativ“, um ‚moderate‘ Wähler anzusprechen, spricht von „Unternehmenswachstum“ und räumt ein, dass in einigen Branchen längere Arbeitszeiten notwendig sein könnten. Dadurch hat sich sein Vorsprung in den Umfragen verringert.
An der Schwelle zur Rezession
Letztlich hat es doch für den Wahlsieg gereicht. Nun steht seine Regierung vor großen wirtschaftlichen Herausforderungen. Korea ist die viertgrößte Volkswirtschaft Asiens, doch das reale BIP schrumpfte im ersten Quartal dieses Jahres aufgrund stagnierender Exporte und Konsumausgaben – ausgelöst durch die Auswirkungen der aggressiven Zölle Washingtons und die politischen Turbulenzen im eigenen Land. Korea befindet sich in Handelsgesprächen mit den USA und hofft auf eine Ausnahmeregelung, um Trumps Zölle zu umgehen. Der US-Präsident setzt Seoul unter Druck, das große Handelsungleichgewicht mit den USA zu beseitigen.
Die jüngste politische Krise ist die Folge des Niedergangs des koreanischen Kapitalismus im 21. Jahrhundert. Dabei galt der südkoreanische Weg lange Zeit als Erfolgsgeschichte. Angetrieben durch ein jährliches Exportwachstum von 9,3 Prozent, erzielte das asiatische Land seit 1988 ein jährliches Wirtschaftswachstum von 5,5 Prozent. Südkoreas Pro-Kopf-BIP ist von nur 67 US-Dollar in den frühen 1950er Jahren auf 34.000 US-Dollar im Jahr 2019 gestiegen.
Seit der Finanzkrise ab 2007 ist jedoch ein Rückgang der Investitionen und der Produktivität zu beobachten. Die Arbeitsproduktivität stagniert seit 2011. Im Dienstleistungssektor ist sie besonders niedrig – dort beträgt sie nur die Hälfte derjenigen im verarbeitenden Gewerbe und ist in kleinen Unternehmen noch viel geringer.
Hinter dem Rückgang des Produktivitäts- und Investitionswachstums im 21. Jahrhundert steht der langfristige Rückgang der Kapitalrentabilität. Seit dem Ende der Militärdiktatur Mitte der 1980er Jahre, die Gewerkschaften bekämpfte und Löhne drückte, ist die Rentabilität des koreanischen Kapitals stetig gesunken. Südkoreas wirtschaftlicher Erfolg beruhte auf einer staatlich gelenkten Industrialisierung und Exportstrategie, die auf engen Verbindungen zwischen Staat und Chaebols (koreanische Familienunternehmen wie Samsung) beruhte.
Südkorea hat die COVID-19-Pandemie dank relativ wirksamer Maßnahmen im Gesundheitswesen vergleichsweise gut überstanden. Infolgedessen war Südkoreas wirtschaftlicher Abschwung im Jahr 2020 geringer als in den meisten anderen fortgeschrittenen Volkswirtschaften: Das reale BIP ging nur um einen Prozentpunkt zurück.
Seither ist das Wirtschaftswachstum auf durchschnittlich nur noch 2,3 Prozent pro Jahr zurückgegangen – eine Folge der pandemiebedingten Nachwirkungen: geringere Unternehmensrentabilität, die Investitionen und Beschäftigungsaufbau hemmt, ein Rückgang der Erwerbstätigkeit sowie stagnierende Produktivität.
Die Oligarchen Koreas stehen jedoch weiterhin an der Spitze der Wirtschaft. The World Inequality Database zeigt, dass die obersten 10 Prozent der Südkoreaner ihren Anteil am Einkommen und am Vermögen der privaten Haushalte (Immobilien und Finanzvermögen) stark gesteigert haben. In den letzten fünf Jahren hat sich daran nicht wirklich etwas geändert – tatsächlich hat sich die Lage sogar verschlechtert. Im Jahr 2024 besaßen die obersten zehn Prozent der Haushalte in Südkorea etwa 44,4 Prozent des gesamten Nettovermögens, während das Vermögen der Haushalte im untersten Vermögensdezil bei minus 0,1 Prozent liegt.
Die Armutsquote und die Einkommensungleichheit in Südkorea gehören zu den höchsten unter den wohlhabenden Ländern, wobei junge Menschen mit einigen der größten Herausforderungen konfrontiert sind. Fast jeder fünfte Südkoreaner zwischen 15 und 29 Jahren ist praktisch arbeitslos.
Ein zentrales Problem für die Zukunft ist zudem der Bevölkerungsrückgang. Wie folgende Abbildung zeigt, liegt die Geburtenrate südkoreanischer Frauen mittlerweile unter der von Japan und China.
Südkorea hat die niedrigste Geburtenrate weltweit. Sie ist so niedrig, dass sich seine Erwerbsbevölkerung in den nächsten 40 Jahren halbieren könnte. Das asiatische Land ist zu einer „supergealterten“ Gesellschaft geworden, also eine Volkswirtschaft, in der laut Vereinten Nationen mehr als 20 Prozent der Bevölkerung 65 Jahre oder älter ist. Wenn die Zahl der Erwerbstätigen in Südkorea weiter sinkt, könnte die Wirtschaft bis 2040 schrumpfen.
Ohnehin steht die koreanische Wirtschaft kurz vor einer Rezession. Im Mai korrigierte die südkoreanische Zentralbank die Wirtschaftswachstumsprognose für 2025 von 1,5 auf 0,8 Prozent nach unten und begründete dies mit dem Einbruch im Baugewerbe und den sich verschlechternden Handelsbedingungen.
Der Composite Consumer Sentiment Index, ein wichtiger Indikator für das Vertrauen der Verbraucher, ist im Dezember auf 88,4 Punkte gefallen, was einem starken Rückgang von 12,3 Punkten entspricht – dem stärksten Einbruch seit Beginn der COVID-19-Pandemie im März 2020. Der Fertigungssektor befindet sich in einer schweren Krise: Der Produktionsindex von Standard & Poor liegt deutlich unter der 50-Punkte-Marke, die als Schwelle für eine Expansion gilt.
Atommacht Südkorea?
Lee will der wirtschaftlichen Stagnation mit einer Erhöhung der Staatsausgaben und Investitionen begegnen. Dieser fiskalpolitische Ansatz wird jedoch von der Rechten und dem Finanzsektor heftig kritisiert.
Die Übergangsregierung will die „diskretionären Ausgaben“ um mehr als 10 Prozent kürzen und erwägt sogar „Anpassungen“ bei den grundlegenden Staatsausgaben, wie der Grundsicherung und den Zuschüssen für die Bildungsfinanzierung. Die derzeitige Regierung erklärte: „In der Vergangenheit haben wir uns auf eine kurzfristige ‚solide Finanzpolitik‘ konzentriert, aber jetzt wollen wir mittel- und langfristige ‚finanzpolitische Nachhaltigkeit‘ in Betracht ziehen.“
Lee wird diese sparpolitischen Maßnahmen bei den zivilen Ausgaben aufgrund lauter werdender Forderungen nach mehr höheren Verteidigungsausgaben wahrscheinlich nicht rückgängig machen. Zwar spricht Lee von besseren Beziehungen zu China, aber Trump fordert von Korea einen größeren Beitrag zur „Verteidigung“ gegen das Reich der Mitte.
Die vermeintliche Bedrohung durch Nordkorea und Trumps unklare Haltung hinsichtlich der südkoreanischen Sicherheitsinteressen lassen in der Elite Forderungen nach Atomwaffen lauter werden. Jüngsten Umfragen zufolge unterstützen 66 Prozent der Südkoreaner die nukleare Bewaffnung ihres Landes. Prominente politische Führer sowohl des konservativen als auch des progressiven Lagers haben solche Maßnahmen nicht ausgeschlossen, einige unterstützen sie sogar offen. From welfare to warfare.
Das Original dieser aktualisierten Übersetzung ist auf Michael Roberts Blog erschienen.