Doppelverdiener

Trügerische Freiheit: Warum heute beide Ehepartner arbeiten müssen

| 04. Juni 2025
@midjourney

In kaum einer deutschen Familie gibt es noch Alleinversorger. Die einstige Beschränkung der Frau auf die Hausarbeit ist zum ökonomischen Zwang zur Erwerbstätigkeit geworden. Die gewonnene Freiheit ist zu einer Unfreiheit geworden.

Als 1977 in Deutschland die "Hausfrauenehe" abgeschafft wurde und Frauen ohne Erlaubnis ihres Ehemannes arbeiten durften, wurde das als großer Schritt in Richtung Gleichberechtigung gefeiert. Endlich konnten Frauen selbst entscheiden, ob sie einer Erwerbstätigkeit nachgehen oder sich auf Haushalt und Familie konzentrieren wollten. Doch gut vier Jahrzehnte später stellt sich die Frage: Ist diese Wahlfreiheit nur eine Illusion?

Mit den gesellschaftlichen Liberalisierungsprozessen der 70er Jahre veränderte sich auch das deutsche Wirtschaftsmodell. Das Produktionsregime der Wirtschaftswunderjahre ist ebenso passé wie Löhne, die sich an der steigenden Produktivität der Wirtschaft orientieren. Die ökonomischen Rahmenbedingungen haben sich derart verschoben, dass es für die meisten Familien kaum noch möglich ist, mit nur einem Einkommen auszukommen. Der einstige Traum eines Alleinverdieners, der eine Familie ernähren, ein Haus kaufen und einen angemessenen Lebensstandard bieten kann, ist für die meisten unerreichbar geworden. Und die Freiheit, dass nur eine Person in der Partnerschaft arbeiten muss, bleibt nur den Spitzenverdienern.

Die Gründe für diese Entwicklung sind vielschichtig. Drei Hauptfaktoren spielen dabei eine entscheidende Rolle: die geringe Steigerung der Reallöhne, die explodierenden Wohnkosten und die steigenden Aufwendungen für Kinder und Bildung.

Lohnentwicklung: Untere Dezile als Verlierer

Zunächst zur Lohnentwicklung: Auf den ersten Blick scheint es, als hätten sich die Einkommen in den letzten Jahrzehnten deutlich verbessert. Die Nominallöhne sind in Deutschland zwischen 1991 und 2019 tatsächlich um ganze 60,7 Prozent gestiegen. Doch dieser scheinbar deutliche Einkommenszuwachs wird durch die steigenden Preise weitgehend zunichte gemacht. Im gleichen Zeitraum stiegen die Verbraucherpreise um 48,1 Prozent, heißt, der reale Lohnzuwachs – also die tatsächliche Steigerung der Kaufkraft – betrug lediglich 12,3 Prozent. Mit anderen Worten: Trotz höherem Gehalt können sich die Menschen heute kaum mehr leisten als vor 30 Jahren.

Interessant ist insbesondere der Blick auf die längerfristige Entwicklung. Das kontinuierliche Wachstum des Reallohns hört bereits mit dem Ende der 1970er Jahre auf und erreicht seinen Tiefpunkt im Jahr 2022, als die Reallöhne so stark sanken sind wie noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg.

Quelle: Statistisches Bundesamt und eigene Berechnungen

Eine am 2. Juli 2024 veröffentlichte Studie des Handelsforschungsinstituts EHI untermauert diese Entwicklung anhand der Ladendiebstähle. Diese stiegen laut Studie um 23,6 Prozent auf insgesamt 426.096 Fälle (Vorjahr: 344.669). Dieser Anstieg konzentriert sich hauptsächlich auf drei Branchen: den Lebensmitteleinzelhandel, Drogeriemärkte und den Bekleidungshandel. In fast allen anderen Bereichen ging die Zahl der Ladendiebstähle zurück.

Die Preissteigerungen, die viele Geringverdiener in finanzielle Notlagen bringen, sieht der Studienautor als einen der Hauptgründe für diese Entwicklung. Doch die Entwicklung der Reallöhne allein kann nicht erklären, dass in Mittelschichtsfamilien mittlerweile beide Elternteile arbeiten müssen, um sich das Leben zu finanzieren. Der Reallohn ist über die letzten 50 Jahre – wenn auch nur langsam – gestiegen und liegt immerhin über dem Niveau von 1977.

Denn der Reallohn zeigt, gemessen am Durchschnitt, nicht die ganze Wahrheit. Während das oberste Dezil in Deutschland in den letzten Jahren den stärksten Anstieg des Lohns verzeichnen konnte, profitierten die unteren Dezile nicht oder nur viel weniger.

Quelle: SOEPv39, Berechnungen Dr. Markus Grabka, DIW Berlin

Das wiederum bedeutet, dass sich die Belastungen der Inflation ungleich über die Einkommensschichten verteilen. Während die prozentualen Preissteigerungen für alle gleich sind, ist ihre relative Belastung für die Haushalte sehr unterschiedlich: Je niedriger das verfügbare Einkommen, desto größer der Anteil, der für die gestiegenen Preise aufgewendet werden muss. Haushalte mit geringem Einkommen, die bereits einen Großteil ihres Budgets für Grundbedürfnisse wie Lebensmittel und Energie aufwenden müssen, haben kaum Spielraum für zusätzliche Kosten. Bei höheren Einkommensgruppen machen die inflationsbedingten Mehrausgaben dagegen einen deutlich kleineren Teil des Gesamtbudgets aus.

Nun zum letzten Kritikpunkt des Reallohns: Die offiziellen Statistiken zu 'realen' Mietkosten verschleiern regionale Unterschiede. Während der Verbraucherpreisindex nur die durchschnittliche Nettokaltmiete für ganz Deutschland berücksichtigt, steigen die Mieten in Großstädten deutlich stärker als in ländlichen Regionen. Für viele Arbeitnehmer, die aus beruflichen Gründen in Metropolen leben müssen, spiegeln die offiziellen Zahlen ihre tatsächliche finanzielle Belastung nicht wider.

Wohnkosten: „Überbelastung“ der Haushalte

Parallel zu dieser Entwicklung haben sich die Wohnkosten zu einer immer größeren Herausforderung für die Haushalte entwickelt. In Deutschland, wo mehr als die Hälfte der Bevölkerung, 50,5 Prozent im Jahr 2021, zur Miete wohnt, ist dies besonders spürbar. Die Nettokaltmieten sind allein zwischen 2015 und 2021 um 8,5 Prozent gestiegen. Für viele Familien bedeutet dies eine erhebliche zusätzliche finanzielle Belastung. Bei einer monatlichen Miete von 1.000 Euro summiert sich die Mehrbelastung auf über 200 Euro pro Jahr – Geld, das an anderer Stelle im Haushaltsbudget fehlt.

Besonders hart trifft es Haushalte mit niedrigem Einkommen. Das unterste Fünftel aller Mieterhaushalte gab 2021 durchschnittlich 42,6 Prozent des verfügbaren Einkommens für Wohnkosten aus. Mehr als ein Drittel dieser Gruppe (36,2 Prozent) lebte in einem, als "überbelastet" geltenden Haushalt, was bedeutet, dass nach Abzug der Wohnkosten kaum noch Geld für andere Lebensnotwendigkeiten übrigbleibt.

Für diejenigen, die den Traum vom Eigenheim hegen, sieht die Situation nicht besser aus. Der Häuserpreisindex ist zwischen 2000 und 2022 um 93 Prozent gestiegen, während der Preisindex für Bauland im Zeitraum von 2000 bis 2021 sogar um 168,24 Prozent in die Höhe schoss. Diese Entwicklung macht es für viele Familien praktisch unmöglich, Wohneigentum zu erwerben, ohne sich hoch zu verschulden. Der Reallohn betrachtet nicht die Preise von Vermögenswerten, wie Häusern und Wohnungen. Der Aspekt, dass sich Familien ein Eigenheim gar nicht mehr leisten können, wird im verfügbaren Haushaltseinkommen gar nicht betrachtet.

Kinder werden teurer

Zu diesen steigenden Wohnkosten kommen die wachsenden Ausgaben für Kinder. Im Jahr 2018 gaben Paare mit einem Kind durchschnittlich 763 Euro pro Monat für ihren Nachwuchs aus – ein Anstieg von 16 Prozent gegenüber 2013. Besonders ins Gewicht fallen dabei die Kosten für Kinderbetreuung. Für ein Kind unter drei Jahren stiegen die monatlichen Ausgaben von durchschnittlich 98 Euro im Jahr 2005 auf 171 Euro im Jahr 2015. Gleichzeitig hat sich die Nutzung von Kindertageseinrichtungen deutlich erhöht: Während 1994 nur 6 Prozent der Kinder unter drei Jahren eine Kita besuchten, waren es 2016 bereits 28 Prozent.

Zahlen, die verdeutlichen, warum es für viele Familien heute keine echte Wahl mehr gibt: Beide Elternteile müssen arbeiten, um die steigenden Lebenshaltungskosten zu bewältigen. Die vermeintliche Befreiung der Frau aus der wirtschaftlichen Abhängigkeit hat sich in vielen Fällen in einen wirtschaftlichen Zwang verwandelt.

Wie so oft hat der Kapitalismus es geschafft, eine emanzipatorische Bewegung zu seinen Gunsten zu nutzen. Denn mit dem Eintritt der Frauen in den Arbeitsmarkt hat sich das Arbeitskräfteangebot erheblich erhöht, was zu mehr Konkurrenz und damit zu höherem Lohndruck geführt hat. Gleichzeitig ermöglichte aber das zusätzliche Haushaltseinkommen von Doppelverdiener-Familien einen Anstieg der Mieten, Bau- und Häuserpreise.

Es wäre jedoch falsch, der Gleichberechtigungspolitik die Schuld für diese Entwicklung zu geben. Vielmehr zeigt sich hier, was passieren kann, wenn Märkte nicht angemessen reguliert werden. Die Wirtschaftspolitik der letzten Jahrzehnte hat es versäumt, für einen gerechten Ausgleich zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern, zwischen Mietern und Vermietern zu sorgen.

Rückkehr zum „Familienlohn“?

Welche Perspektive bleibt? Im 19. Jahrhundert bildete sich das Konzept des „Familienlohns“ und bezeichnete einen Lohn, der ausreichen sollte, um eine Familie zu ernähren. Dieser war typischerweise auf männliche Arbeitnehmer ausgerichtet und wurde von unterschiedlichsten Gruppen befürwortet – darunter von klassischen Ökonomen, der Arbeiterbewegung, sowie der katholische Soziallehre. Nach dem Zweiten Weltkrieg institutionalisierte sich der Familienlohn in Deutschland – durch das Ehegattensplitting, die Einführung und schrittweisen Ausweitung des Kindergelds, sowie weitere familienpolitische Leistungen wie Steuerfreibeträge, Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub.

Diese vielfältigen Maßnahmen in der Sozial-, Steuer- und Tarifpolitik verfestigten das Modell des männlichen Familienernährers in der Nachkriegszeit. Doch ab den 1990er Jahren fing das Konzept aus mehreren zusammenwirkenden Gründen an zu bröckeln: die stagnierende Reallohnentwicklung besonders in den mittleren und unteren Einkommensschichten, der deutliche Anstieg der Wohnkosten sowohl bei Mieten als auch beim Erwerb von Wohneigentum als auch gesellschaftliche Veränderungen wie die zunehmende Erwerbstätigkeit von Frauen und deren höhere Bildungsabschlüsse. Hinzu kamen wirtschaftliche Umbrüche durch die Globalisierung und eine Wirtschaftspolitik, die den Arbeitsmarkt flexibilisierte und damit die Lohnentwicklung weiter unter Druck setzte. Ersetzt wurde das Ernährermodell mittlerweile durch das Leitbild des individualisierten Erwerbsbürgers, auch „adult worker" genannt.

Das bringt einige Probleme mit sich. So kritisiert das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) in seinem Paper, dass in Deutschland weiterhin Regelungen wie das Ehegattensplitting bestehen.[1] Solche Steuerbegünstigungen stützten das traditionelle Ernährermodell. Ein unkoordiniertes Nebeneinander von Maßnahmen, die Frauen entweder auf den Arbeitsmarkt oder die Familie verweisen. Außerdem ließe sich eine Vollzeitbeschäftigung beider Partner nur sehr schlecht mit einem Familienleben vereinbaren. Die Autoren vom WSI fordern deshalb eine kohärentere und ganzheitlichere Politikgestaltung, die folgende Aspekte berücksichtigt:

  • Eine Reform des Steuersystems, insbesondere die Abschaffung oder grundlegende Überarbeitung des Ehegattensplittings, um Anreize für eine gleichmäßigere Erwerbsbeteiligung beider Partner zu schaffen.
  • Die Förderung flexiblerer Arbeitszeitmodelle, wie etwa kürzere Vollzeitstandards oder "lange Teilzeit" nach schwedischem Vorbild, die eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie ermöglichen.
  • Den Ausbau hochwertiger und bezahlbarer Kinderbetreuungsangebote, um beiden Elternteilen die Möglichkeit zur Erwerbstätigkeit zu geben.
  • Die Stärkung von Maßnahmen zur gleichmäßigeren Verteilung von Sorgearbeit zwischen den Geschlechtern, etwa durch den Ausbau der Partnermonate beim Elterngeld.
  • Eine Neubewertung und bessere Entlohnung von traditionell weiblich dominierten Berufen, insbesondere im Pflege- und Erziehungsbereich.
  • Die Entwicklung von Politiken, die eine lebenslauforientierte Perspektive einnehmen und flexible Übergänge zwischen verschiedenen Lebens- und Arbeitsphasen unterstützen.

Diese Vorschläge des WSI bieten zwar wichtige Ansatzpunkte für eine modernere Familienpolitik, beseitigen jedoch nicht den grundlegenden wirtschaftlichen Zwang zum Doppelverdienst – sie moderieren ihn lediglich. Das fundamentale Problem bleibt bestehen: Die Reallöhne steigen zu wenig, während Kosten für Wohnen, Kinderbetreuung und Lebenshaltung überproportional wachsen. Die vorgeschlagenen Maßnahmen erleichtern zwar die Organisation eines Zwei-Verdiener-Haushalts, schaffen aber keine echte Wahlfreiheit. Ohne eine grundlegende Korrektur des Missverhältnisses zwischen Lohnentwicklung und Lebenshaltungskosten bleibt die vermeintliche Freiheit weiterhin trügerisch.

Die eigentliche Herausforderung für die Zukunft besteht daher nicht nur in der besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf, sondern in der Wiederherstellung echter wirtschaftlicher Wahlfreiheit. Dies würde bedeuten, dass ein Haushalt auch mit nur einem durchschnittlichen Einkommen einen angemessenen Lebensstandard erreichen kann – sei es durch deutlich höhere Reallöhne, eine effektive Begrenzung der Wohnkosten oder substanzielle finanzielle Entlastungen für Familien. Das erfordert ein tiefgreifendes Umdenken in der Wirtschafts- und Sozialpolitik, das über reine Anpassungsmaßnahmen hinausgeht.

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[1] „Familienlohn“ – Zur Entwicklung einer wirkmächtigen Normierung geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung, Gottschall K., Schröder T., Wirtschafts-und Sozialwissenschaftliche Institut, 2013