Postdemokratie

Die verzweifelte Rationalität der Nichtwahl

| 14. Juni 2022

Seit der Jahrhundertwende geht die Wahlbeteiligung in fast allen westlichen Demokratien zurück. Vor allem sozial Benachteiligte können sich in der Gemeinschaft der ‚Demokraten’ kaum mehr wiederfinden.

„Stell dir vor, es sind Wahlen und keiner geht hin“. Was in den 1980er Jahren noch ein schlechter Sponti-Spruch gewesen ist, scheint mehr und mehr Realität zu werden. Seit den 1970er Jahren lässt sich bei den Bundestagswahlen ein Rückgang von 90 Prozent auf nunmehr 76,6 Prozent beobachten. Auf Ebene der Länder und der Kommunen fällt der Rückgang noch deutlicher aus; die Beteiligung bei Landtagswahlen hat sich im Durchschnitt bei ca. 60 Prozent eingependelt, sie reicht gegenwärtig von 55,5 Prozent in Nordrhein-Westfalen bis zu 75,4 Prozent in Berlin, wobei die letzte Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus zeitgleich mit der Bundestagswahl stattfand.

Auffällig ist auch, dass die Wahlbeteiligung gerade bei den letzten beiden Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein (60,3 Prozent) wieder gesunken ist. Seit ca. 2010 war es zu einem leichten und temporären Wiederanstieg der Beteiligung bei Landtagswahlen gekommen – nicht zuletzt aufgrund des Aufstiegs der AfD. Ob damit schon eine Trendumkehr einhergeht, bleibt abzuwarten, ist aber nicht unwahrscheinlich.

Auch der Blick ins europäische Ausland zeigt, dass sich deutlich weniger Bürgerinnen und Bürger an die Wahlurne schleppen als es noch in der Hochphase des Fordismus der Fall gewesen ist. Insbesondere seit der Jahrhundertwende geht die Beteiligung in nahezu allen westlichen Demokratien zurück – und das bisweilen sehr deutlich. In der ersten Runde der Parlamentswahlen in Frankreich sind jüngst nur noch 47 Prozent der Wahlberechtigten an die Urne gegangen.

Das führt bei Kommentatoren und professionellen Beobachtern regelmäßig am Wahlabend und in den folgenden Tagen zu Entrüstung. So konnte man nach der Landtagswahl in NRW das Statement vernehmen, es sei skandalös, dass so viele Menschen ihre demokratischen Rechte nicht wahrnehmen, während doch gleichzeitig in der Ukraine für diese Werte und Rechte unter sehr großen Kosten gekämpft würde.

Es sind die sozial schwächer gestellten, die den Gang zur Wahlurne verweigern

Eine solche Moralisierung macht es sich jedoch zu einfach. Unterschlagen wird dabei die deutlich soziale Verzerrung der Nichtwahl, die inzwischen hinlänglich dokumentiert ist.[1] Das hat sich auch bei der jüngsten Wahl in NRW noch einmal gezeigt. Im bürgerlichen Münster war die Wahlbeteiligung mit 66,8 Prozent deutlich höher als im strukturschwachen Gelsenkirchen mit 44,4 Prozent. Schaut man genauer hin, dann zeigt sich regelmäßig, dass in jenen Vierteln, die zu den Hochburgen der Grünen oder auch der CDU zählen, die Bereitschaft, an den Wahlen teilzunehmen, deutlich höher ist als in jenen Vierteln, die früher mal SPD-Hochburgen waren.

Kurzum, es sind die sozial schwächer gestellten, die den Gang zur Wahlurne verweigern. Entscheidend ist dabei, dass soziale Benachteiligung, politische Unzufriedenheit und Nichtwahl zusammenhängen, wie der Politologe Armin Schäfer bereits vor einigen Jahren feststellte:

„Geringes politisches Interesse, gepaart mit Unzufriedenheit, fehlender Parteiidentifikation und der Überzeugung, dass Wahlen keinen Unterschied machen, führen zur Nichtwahl, wobei diese negativen Einstellungen ihrerseits von der sozialen Lage abhängen.“[2]

Dieser Befund ist aus einer demokratietheoretischen Perspektive besorgniserregend, lässt sich doch die Tendenz beobachten, dass aus der sozialen Verzerrung der Partizipation eine soziale Verzerrung der Repräsentation folgt.[3]

Die Interessen sozial benachteiligter Bevölkerungsgruppen werden nicht hinreichend berücksichtigt, eben weil sie sich aus dem demokratischen Raum verabschiedet haben. Denn politische Parteien könnten sich aus strategischen Gründen vornehmlich an jene sozialen Milieus richten, deren Wahlbereitschaft hoch ist. Das wiederum führe zu einer Verschärfung der sozialen Benachteiligung mit einem entsprechenden Zuwachs an politischer Unzufriedenheit in sozial benachteiligten Milieus, was sich dann in dem Teufelskreis einer weiteren Zunahme der Nichtwahl niederschlagen könnte.

Um dieser Abwärtsspirale zu begegnen, aber auch um der repräsentativen Demokratie wieder die ihr zustehende Anerkennung zukommen zu lassen, wird von verschiedenen Politologen bisweilen die Einführung einer Wahlpflicht vorgeschlagen. Das dahinterstehende Argument ist, dass dadurch sozial Benachteiligte wieder zu einem relevanten politischen Faktor und deren Interessen stärker Berücksichtigt werden würden. Gestützt wird diese Forderung durch Studien, die zeigen, dass eine hohe Wahlbeteiligung zu höheren Wohlfahrtsausgaben führt und dass in Staaten mit Wahlpflicht die Einkommensunterschiede weniger stark ausgeprägt sind.[4]

Allerdings müsste nicht nur gezeigt werden, dass dieser Wirkungszusammenhang auch auf andere Staaten übertragen werden kann, dass also ein Kausalverhältnis zwischen Wahlpflicht und der Höhe der Wohlfahrtsausgaben besteht. Allerdings könnte es sein, dass dieser Zusammenhang sich zwar für die Vergangenheit nachweisen lässt, er aber nicht notwendig weiter bestehen muss und aus diesem Grund die Einführung einer Wahlpflicht die politische Unzufriedenheit auf Seiten sozial Benachteiligter eher verstärken dürfte. Vergibt man ihnen damit doch die Möglichkeit, zumindest symbolisch ihre Unzufriedenheit mit „der Politik“ durch den Akt der Nichtwahl zum Ausdruck zu bringen.[5]

Denn folgt man der Diagnose der Postdemokratie, dann sehen wir uns heute mit einer Situation konfrontiert, in der demokratische Legitimitätsvorstellungen und die mit diesen korrespondierenden Verfahren immer weniger mit der politischen Realität in Übereinstimmung zu bringen sind und zumindest teilweise einen folkloristischen Charakter bekommen. Vor diesem Hintergrund würde der Verzicht bestimmter Bevölkerungsgruppen, von ihrem Wahlrecht Gebrauch zu machen, eine durchaus nachvollziehbare Handlungsweise darstellen.

Einer konventionelle Deutung zufolge, der auch die Forderung nach Einführung einer Wahlpflicht verbunden ist, handeln die Wahlverweigerer irrational – berauben sie sich damit doch einem entscheidenden Mittel, ihre Forderungen zumindest auf die politische Agenda zu setzen. Deren Wahlverweigerung erlaubt es mithin den politischen Eliten, über diese Interessen hinwegzugehen und würde damit den oben beschriebenen Teufelskreislauf aus Wahlenthaltung und mangelnder Responsivität weiter bestärken.

Das demokratische Imaginäre wird durch rituelle Praktiken beschworen

Ich möchte dem eine andere Interpretation entgegenstellen. Nimmt man die Diagnose der Postdemokratie ernst, hat sich in den vergangenen beiden Jahrzehnten ein Regime entwickelt, das einen bestimmten, nämlich neoliberalen Politikstil festschreibt. Besonders ausgeprägt ist das auf der europäischen Ebene, die immer mehr Politikbereiche dominiert.[6] Angesichts der Verfestigung postdemokratischer Verhältnisse, insbesondere der wirtschafts- und geldpolitischen Strukturen, ist es zu Bedeutsamkeitszuwachs der rituellen Seite demokratischer Partizipation gekommen. Überspitzt ausgedrückt: Je weniger es demokratisch zu entscheiden gibt, um so mehr muss das demokratische Imaginäre durch rituelle Praktiken beschworen werden.

Der Politikwissenschaftler Ingolfur Blühdorn sprach daher bereits vor nunmehr fast zehn Jahren im Anschluss an Überlegungen von Murray Edelmann von einer "Simulativen Demokratie", in der wir uns zunehmend befinden.[7]  Demokratische Praktiken im Allgemeinen und ganz besonders Wahlen haben in der Postdemokratie insofern an instrumenteller Bedeutung größtenteils eingebüßt, als eine inhaltliche Programmierung der Politik durch den Urnengang immer weniger erfolgt.

Demokratische Rituale besitzen aber immer auch eine sozialintegrative Funktion, sie dienen dazu, sich der Identität als guter Demokrat zu vergewissern. Demokratische Beteiligungsformen dienen ebenso der Vergewisserung eines Zusammengehörigkeitsgefühls wie der Bestätigung fundamentaler politischer Ideale.

Vor diesem Hintergrund lässt sich in der Verweigerung der Teilnahme an demokratischen Ritualen eine, wenn auch verzweifelte, Form der Rationalität sehen: Insofern durch den Wahlakt als Kern demokratischer Legitimität eine inhaltliche Programmierung staatlichen Handelns kaum bewirkt werden kann, insbesondere aber ein Wandel der Sozial- und Wirtschaftspolitikpolitik in Richtung mehr Egalität und Chancengleichheit angesichts der geringen haushaltspolitischen Spielräume und der Festschreibung einer neoliberalen Angebotspolitik wenig wahrscheinlich erscheint und zugleich sich der Eindruck einer strukturellen Ungerechtigkeit verfestigt, wird die symbolische Dimension von Wahlen immer wichtiger.

In der durch Wahlen und andere Formen der politischen Beteiligung gestifteten Gemeinschaft der ‚Demokraten’ können sich sozial Benachteiligte aber kaum wiederfinden. Der Gang zur Wahl würde eine gesellschaftliche Ordnung legitimieren, die sie massiv benachteiligt. Warum sollten sie denn auch ein Ritual befolgen, von dem sie sich nichts (mehr) erhoffen können? Warum zur Wahl gehen, wenn das sowieso wenig bis nichts an der persönlichen Situation ändert?

Insofern lässt sich der wieder zunehmende Wahlboykott auch als moralischen Appell an die Mehrheitsgesellschaft und ihrer Meinungsführer lesen, das, was sie alle vier Jahre zelebrieren, nicht nur in seinem symbolischen Gehalt beim Wort zu nehmen. Mit anderen Worten: endlich über grundlegende gesellschaftliche Reformen nachzudenken, statt sich regelmäßig am Wahlabend in die Beschimpfung der Nichtwähler zu flüchten.[8]

[1]  Vgl. nur Armin Schäfer, Der Verlust politischer Gleichheit, Warum die sinkende Wahlbeteiligung der Demokratie schadet, Frankfurt/M. u. New York 2015.
[2] Schäfer, Verlust, S. 116.
[3]  Vgl. Lea Elsässer, Wessen Stimme zählt? Soziale und politische Ungleichheit in Deutschland. Frankfurt/M. und New York 2018.
[4] So bei Schäfer, Verlust.
[5] Zu Recht stellt Claus Offe fest, eine Wahlpflicht würde „illegitimately and undeservedly protect political elites from the embarrassing evidence of their candidates and programs being considered unappealing by large and slowly increasing parts of the population“; Participatory Inequality in the Austerity State. A Supply-Side Approach. In Politics in the Age of Austerity, hrsg. von A. Schäfer und W.  Streeck, Cambridge 2013, S. 196-218, hier S. 199.
[6] Dies Argumentation habe ich weiter ausgeführt in Dirk Jörke, Die Größe der Demokratie. Über die räumliche Dimension von Herrschaft und Partizipation, Berlin 2019, S. 111-131. Vgl. auch Wolfgang Streeck, Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus, Berlin 2013 und ders., Zwischen Globalismus und Demokratie. Politische Ökonomie im ausgehenden Neoliberalismus, Berlin 2021.
[7] Ingolfur Blühdorn, Simulative Demokratie. Neue Politik nach der postdemokratischen Wende, Berlin 2013; vgl. Murray Edelman, Politik als Ritual, Frankfurt/M. u. New York 2005.
[8] Für eine frühere Langfassung dieses Beitrages vgl., Dirk Jörke, I prefer not to vote, oder vom Sinn und Unsinn des Wählens in der Postdemokratie. In: Richter, Hedwig/Buchstein, Hubertus (Hrsg.), Kultur und Praxis der Wahlen. Eine Geschichte der modernen Demokratie. Wiesbaden 2017, S. 101-119.