Nicht nur Prigoschin hat sich verrechnet
Was wir aus der gescheiterten Prigoschin-Rebellion lernen können: Es kommt immer anders, als man denkt.
Der Versuch des vormalig staatstreuen (und -finanzierten) russischen Gewaltunternehmers Evgeny Prigoschin, mit seiner Wagnertruppe einen, wie er verkündete, “Marsch der Gerechtigkeit” auf Moskau zu veranstalten, ist gescheitert.
Wie es sich für einen Möchtegern-Mussolini gehört, hat Prigoschin dabei auch andere mit in seinen kleinen Untergang gerissen: Hektische Brachialatlantiker, wie die amerikanische Publizistin Anne Applebaum und der deutsche Politikwissenschaftler Carlo Masala, waren so hingerissen vom eigenen Wunschdenken, dass sie ihre Fantasien über Bürgerkrieg und Regimekollaps in Russland nicht bändigen konnten. Erheiternde Schnellschüsse waren die Folge.
Aber diese gnädig folgenlosen Blamagen haben uns nichts neues offenbart. Aufmerksame Beobachter wussten auch schon vor der Prigoschinaffäre, dass der Krieg zwischen Russland auf der einen Seite und der Ukraine und dem Westen auf der anderen viele Experten zugleich intensiv erregt und heftig verwirrt. Es stellt sich die Frage, ob wir aus dem Fiasko der Wagnermeuterei mehr und interessanteres lernen können.
Wir können. Aber – wie so häufig – nur dann, wenn wir uns selbst genauso scharf in den Blick nehmen wie Russland, Putin, und sein System. Tun wir das, springt eine große Gemeinsamkeit ins Auge. Denn der auffälligste Zug der Prigoschinrebellion ist, dass es anders kommt, als man denkt. Was immer der Wagnerboss erreichen wollte – einen persönlichen Sieg über die Spitze des regulären Militärs, eine allgemeine Meuterei der russischen Armee, eine Volkserhebung, oder schlicht das eigene politische/physische Überleben – ist ihm entweder bereits entglitten oder gefährdet: Die große Meuterei und Volkserhebung haben nicht stattgefunden; die Spitze der regulären Streitkräfte mag noch fallen, aber Prigoschin wird davon jedenfalls nicht mehr profitieren; sein eigenes, auch nur physisches, Überleben ist keineswegs sicher.
Stärke? War gestern
Auch Putin, sein eigentlicher, wenn auch notgedrungener Gegenspieler, erleidet heftige ironische Vergeltung für eigene Entscheidungen. Sowohl Prigoschin als auch Wagner sind letztlich Geschöpfe des russischen Präsidenten, auch wenn er jetzt versucht, die Schuld dem Verteidigungsministerium in die Schuhe zu schieben. Selbst wenn man sich exaltierter Überreaktionen enthält, ist offensichtlich, dass diese Kreaturen ihren Schöpfer gerade schwer beschädigt haben. Russische Medien mühen sich redlich, Prigoschins Unfähigkeit allgemeinen Rückhalt zu finden als Beweis unerschütterlicher gesamtrussischer Treue zu Putin darzustellen. Allein, ihr heftiges narratives Dauerfeuer verrät tiefe Unsicherheit.
In Wirklichkeit sind überlegene Weitsicht, umfassende Kontrolle, und, last but not least, unbeugsame Stärke unabdingbare Bestandteile des Putin-Images. Die Meuterei seines wütenden Handlangers hat Putin in allen diesen Bereichen vorgeführt: Er war kurzsichtig, Prigoschin jemals so zu ermächtigen. Er bekam die Rebellion zwar letztlich unter Kontrolle, aber nur mit Ach und Krach, einschließlich peinlicher Rückzieher: Zuerst drohte Putin Prigoschin – zwar ohne ihn zu nennen, aber doch unmissverständlich – mit härtesten Konsequenzen für seinen „Verrat“, dann ließ er ihn, zumindest vorerst, gehen. Und wohin? Nach Belarus, mit Hilfe des dortigen Alleinherrschers Alexander Lukaschenko, eigentlich ein von Russland abhängiger Lokaldespot, auf den aber diesmal Putin angewiesen war. Stärke? War gestern.
Trotzdem wäre es realistischer und ernsthafter, wenn sich westliche Experten mit Voraussagen zurückhielten. Einerseits mag dies durchaus Putins schwerste Krise seit dem Untergang der Kursk sein (den er allerdings auch überstand). Andererseits hat er schon einiges überlebt, obwohl Experten wiederholt das Gegenteil vorhersagten, zum Beispiel während der Wahlkrise 2011/12 oder bei der Teilmobilisierung im September 2022. Wir wissen schlicht nicht, ob Putin auch diesen Schaden dauerhaft politisch begrenzen oder sogar beheben kann oder nicht.
Putin hat das Gegenteil von dem erreicht, was er wollte
Außer Frage steht, dass er sich mit Wagner und Prigoschin verkalkuliert hat, so wie beim Angriff des 24. Februar 2022: Was ein schneller, billiger Sieg über die Ukraine hätte sein sollen, ist zu einem großen, kostspieligen und verlustreichen Krieg mit hohen Risiken geworden. Wenn Putin, wie er jetzt selbst ausführt, die essenziellen Interessen Russlands oder gar seine Existenz in Gefahr sieht, dann hat er das auch wesentlich seinem eigenen Draufgängertum zuzuschreiben.
Überdies, wie Prigoschin in einer seiner Brandreden zurecht angemerkt hat: Putins erklärtes Ziel, die Ukraine zu „entmilitarisieren“ ist, zumindest bis dato, ins genaue Gegenteil umgeschlagen. Zwar hatte der Westen das Land tatsächlich, genau wie Russland behauptet, auch vor 2022 schon jahrelang schleichend aber gründlich mit der NATO vernetzt. Putins gescheiterter Blitzkrieg jedoch hat die Ukraine endgültig zum immer wieder und weiter hochgerüsteten Proxy des Westens gemacht, tragischerweise.
Ähnlich sieht es mit dem deklarierten russischen Kriegsziel der „Denazifizierung“ aus. Die extreme Rechte regiert die Ukraine nicht. Wer jedoch so tut, als habe sie keinen außerordentlichen Einfluss, ist entweder unehrlich oder schlecht informiert. Putins Großangriff hat sie jedenfalls nur noch stärker gemacht, in der Ukraine und international im Westen, wo die russische Aggression zu einer massiven Verdrängung und Beschönigung des Problems geführt hat. Und natürlich hat sich die NATO nur noch erweitert – eben das, was Putin verhindern wollte.
So weit, so schlecht, für Putin und das Russland, für das er steht. Und jetzt zum – im Westen – unbequemen und unerwünschten Teil: Wie sieht es bei uns aus mit dem Verhältnis zwischen dem, was wir wollen und was unsere Handlungen tatsächlich bewirken?
Die Folgen eines „frozen conflicts“
Ein Hauptgrund des derzeitigen Elends ist die seit 2008 verfolgte Politik, die Ukraine auf Gedeih und Verderb – irgendwann – in die NATO zu bringen. Was diese Strategie bis jetzt wirklich erreicht hat, ist die wirtschaftliche und sogar demographische Verwüstung des anvisierten Mitglieds. Zyniker mögen einwenden, dass der Westen auch am Nachkriegswiederaufbau des Landes – natürlich unter neoliberalen Vorzeichen – noch verdienen wird. Aber, abgesehen von der abstoßenden Unmenschlichkeit solchen Denkens, bleibt es – trotz gegenteiliger Beteuerungen – unklar, ob die Ukraine tatsächlich je beitreten können wird, denn der Ausgang des Krieges ist offen. Falls John Mearsheimer Recht behalten sollte mit seiner düsteren Prognose, könnte selbst ein Ende der Kämpfe eine Lage hinterlassen, die einen NATO-Beitritt unmöglich macht: eine territorial stark reduzierte Ukraine nicht im Frieden, sondern im Zustand eines „frozen conflicts“ mit Russland.
Um Russlands Angriff entgegenzutreten, hat der Westen zwei Hauptstrategien verfolgt: bisher nie dagewesene Sanktionen mit dem gelegentlich offen erklärten Ziel, Russland wirtschaftlich zu zerstören, und die massive Unterstützung der ukrainischen Streitkräfte mit immer mehr und besseren Waffen sowie Logistik, Planung, und, last but not least, Aufklärung. Es mag im Westen als schlechter Ton gelten, es anzuerkennen, aber es ist Tatsache: Russland befindet sich schon jetzt – indirekt aber mit massiven Auswirkungen – im Krieg auch mit der NATO, und für letztere spielt die Ukraine die klassische Rolle eines Proxy. Wie amerikanische Spitzenpolitiker sich in unvorsichtigen Momenten haben entschlüpfen lassen, für die Führungsmacht der NATO handelt es sich dabei um einen guten (und natürlich brutalen) Deal: Es sind Ukrainer, die in großer Anzahl sterben, um Russland – und damit die de facto bereits existierende – Russisch-Chinesische Allianz geopolitisch zu schwächen.
Nur, wird dieses Kalkül aufgehen? Wir wissen es noch nicht. Aber wohl eher nicht. Dies hängt zusammen mit dem Fehlschlagen der zweiten Hauptstrategie des Westens: Die Sanktionen, die sich zu einem umfassenden Wirtschaftskrieg entwickelt haben, haben Russland nicht in die Knie gezwungen. Daraus folgt: Erstens, Russland kann die Kapazität, einen langen Abnutzungskrieg zu führen aufrechterhalten. Zweitens, angesichts amerikanischer Aggressivität gegenüber China und russischer Resilienz gegenüber dem Westen macht es für China Sinn, Russland nicht fallenzulassen, sondern weiter zu unterstützen.
Darüber hinaus hat die exzessive Sanktionspolitik des Westens den Gegnern der Dollarhegemonie und den Vertretern multipolarer Ideen Auftrieb verschafft. Anders gefasst: Es ist schon jetzt erkennbar, dass der Versuch des von den USA geführten Westens, Russland global zu isolieren, nicht nur fehlgeschlagen ist, sondern auf die Macht des Westens selbst zurückschlägt.
Zusammenhalt zu welchem Preis?
Natürlich ist der Westen kein homogener Block. Man könnte versucht sein, die bis jetzt aufrechterhaltene Einigkeit gegenüber Russland, besonders zwischen der EU und den USA, als Erfolg zu verbuchen. Jedoch stellt sich die Frage, um welchen Preis dieser Zusammenhalt erreicht worden ist. Wie Wolfgang Streeck erklärt hat, hat sich die EU in extremer Weise zum Instrument der USA und Sidekick der NATO gemacht. Die gehorsame Vertuschung des Angriffs auf die Nord Stream Pipelines durch entweder die USA oder ihre Komplizen ist das brutalste Beispiel für diese Selbstdegradierung.
Es liegt auf der Hand, dass die EU und ihre Mitgliedstaaten ihre internationale „agency“ (um diesen oft für die Ukraine reservierten Begriff zu verallgemeinern) nicht vergrößert, sondern verkleinert haben, indem sie eine wechselseitige Abhängigkeit gegenüber Russland gegen eine verschärfte und alternativlose Abhängigkeit gegenüber den USA eingetauscht haben. Einige EU-Mitgliedsstaaten in Osteuropa mögen sich über ihre neue Stellung als beste Freunde Amerikas und besonders die
(Selbst-)Abwertung Deutschlands freuen. Gerade letztere sollte sie jedoch an Henry Kissingers Warnung erinnern, dass Freundschaft mit den USA noch gefährlicher als ihre Feindschaft ist.
Einigkeit hat natürlich auch eine innenpolitische Seite. In der EU könnte die derzeitige Politik zu populistisch-nationalistischen Reaktionen führen. Der Aufschwung der rechtsextremen AfD in Deutschland zum Beispiel hat viele Ursachen. Es wäre aber borniert, die sozialen Folgen des Wirtschaftskriegs gegen Russland und die berechtigte Angst vor weiterer Eskalation, möglicherweise bis zur direkten NATO-Intervention und zum Einsatz von Nuklearwaffen, auszuschließen. Im symbolischen Bereich bietet eine Regierung, die sich an der Verschleierung des Nord Stream Angriffs durch „Freunde“ beteiligt, natürlich ohnehin eine Steilvorlage für Nationalisten. Und das ist nicht die Schuld der Nationalisten, sondern der Regierung.
In den USA deutet die hohe Wahrscheinlichkeit einer erneuten Kandidatur Donald Trumps auf ein vielfältiges Versagen des politischen Systems. Aber auch hier spielt die Politik gegenüber Russland eine besondere Rolle. Trump hat schon begonnen, sie als verschwenderisch und amerikanischen Interessen zuwiderlaufend anzugreifen. Falls der Krieg nicht bald endet, wird er dieses Narrativ weiter ausbeuten. Wie ironisch: Einst zu Unrecht als Putins Kandidat karikiert, könnte ein russischer Faktor dann tatsächlich seine Wiederwahl begünstigen. Aber eben nicht über eine Einflussnahme Russlands, sondern aufgrund des Scheiterns amerikanischer Versuche, Russland als Großmacht auszuschalten.
Vielleicht wäre es heilsam, wenn wir alle in den lächerlich selbst-destruktiven Zügen der Prigoschinaffäre mehr als nur das immer so bequem andere Russland, sondern auch uns selbst erkennen lernen könnten.