Die deutsche Seele – lost im Binnenmarkt?
Über Binnenmarkt- und Exportorientierung – oder: das deutsche Streben nach der Exportmeisterschaft.
Ein gelegentlicher Blick in die Berliner Zeitung (BZ) lohnt sich. So öffnet sie den Horizont, wenn sie zur Geopolitik diametral entgegengesetzte Positionen zulässt. Sie kämpft für die Meinungsfreiheit und will die Leserschaft für die Verengung des öffentlichen Diskurses sensibilisieren. Dies alles hebt das Blatt wohltuend vom Blätterwaldeinerlei ab. Umso erstaunlicher ist es, dass in Fragen der Ökonomie wenig aus neuen und frischen Quellen serviert wird, sondern vorwiegend abgestandenes und lauwarmes Wasser aus dem Mainstream, sprich: ein konservativer Wirtschaftsliberalismus herrscht vor, auch wenn gelegentlich Maurice Höfgen vorbeischaut.
Das führt dann manchmal zu Argumentationsblüten, wenn zum Beispiel die Ressortleiterin Wirtschaft Liudmila Kotlyarova Merz davor warnt, das Leitbild des Exportweltmeisters zugunsten einer stärkerem Binnenmarktorientierung aufzugeben. Für die Autorin gehört die Exportorientierung, das Streben nach Exportmeisterschaft, zur deutschen Identität: „Wirtschaftliche Modelle prägen nationale Identitäten tief. Kanzler Merz riskiert mit seinem Kurs, einen essenziellen Anker deutscher Identität und nationalen Stolzes zu verlieren.“
Kotlyarova sieht Deutschland in der Krise. Diese Krise wird ihrer Meinung nach verstärkt, wenn wir auf den Binnenmarkt setzen. Orientierungslosigkeit droht. Der Deutsche ist es gewohnt für den Export zu produzieren. Wenn wir das hinter uns lassen, „wofür stehen wir dann noch, für mehr Konsum?“. Das führt die deutsche Seele ins trostlose Nichts. Der export- und werteorientierte Deutsche produziert gerne – aber nur für den Konsum der anderen.
Ich hatte eine Zeitlang für die Badische Zeitung Gastkommentare geschrieben. Ich konnte viel veröffentlichen. Aber mein Artikel zum Exportismus, angeregt durch das Buch des MAKROSKOP-Autors Andreas Nölke, wurde mit fadenscheinigen Argumenten abgelehnt. War das die Abwehrhandlung eines Zeitungsredakteurs, der die Identität seiner Leser bedroht sah? Oder hatte der Redakteur eher die potenziellen Beschwerdebriefe der südbadischen Autozulieferer im Sinn, als er sich gegen eine Veröffentlichung entschied? Die Abwehr ist wohl ausgelöst von einem fest verbackenen Amalgam aus Interessen (der deutschen Exportindustrie) und Werten, die in den Herzen vieler Deutscher verwurzelt sein mögen.
Wie diese Werte und diese Identität genau aussehen, ob die Werte zuerst und dann die dazu passende Industrie kamen oder ob es umgekehrt war, das sollen Wirtschaftshistoriker und Kultursoziologen erforschen.
Aber was uns heute beschäftigen muss: Dieses Amalgam macht Veränderung so schwierig. Der Text in der BZ ist interessant – nicht weil er ein Problem benennt („Merz wendet sich dem Binnenmarkt zu.“), sondern weil er ein Ausdruck des Problems ist: Deutschland wehrt sich gegen eine stärkere Binnenmarktorientierung, selbst wenn es ökonomisch sinnvoll ist.
Hat das deutsche Wirtschaftsmodell eine Zukunft?
Kotlyarova argumentiert kulturalistisch und nicht ökonomisch. Sie will eine nationale Identität retten. Sie fragt sich aber nicht, ob diese Identität vernünftig und im Interesse der Deutschen ist. Sie fragt sich nicht, ob das deutsche Wirtschaftsmodell eine Zukunft hat.
Selbst wenn Trump mit seinen Brachialmethoden scheitert, so kann man nicht ignorieren, dass die USA bereits seit Biden keine exorbitanten Defizite mehr akzeptieren (das Spiegelbild zu unseren Überschüssen). Und China ist auf einmal auf dem Weg zur Autonation Nummer 1. Die Welt ändert sich, da kann man seine Identität nicht zum sakrosankten Kulturgut erklären.
Wenn ich es recht sehe, kann ein Leistungsbilanzüberschuss entstehen, wenn (a) die Währung des Überschusslandes (künstlich) unterbewertet ist, wenn (b) innerhalb eines Währungsverbundes die Löhne im Verhältnis zur Produktivität eines Landes zu niedrig sind oder wenn (c) ein Land über innovative Produkte verfügt, für die es auf dem Weltmarkt keine oder nur eine geringe Konkurrenz gibt.
Laut Martin Höpner hat die Bundesrepublik bereits zu Zeiten von Bretton Woods ein Unterbewertungsregime betrieben. Die Deutschen mussten immer gedrängt werden, den Wechselkurs anzupassen, um einen unfairen Wettbewerbsvorteil zu beseitigen. Innerhalb des Euroraums hat sich der Vorteil Deutschlands zu Lasten anderer Staaten noch einmal gesteigert. Verhältnismäßig niedrige Lohnstückkosten Deutschlands konnten und können die anderen Euro-Mitglieder nicht durch eine Abwertung ihrer Währungen ausgleichen. Darüber ist auf MAKROSKOP oft geschrieben worden.
Lesen Sie auch:
Exportregime sind Biester eigener Art
Martin Höpner | 15. Januar 2021
Die kulturelle Hegemonie des Exportismus
Andreas Nölke | 15. Januar 2021
Eine spannende Forschungsfrage wäre, ob das Unterbewertungsregime der Bundesrepublik und die Exportorientierung anfänglich zu Produktivitätssteigerungen geführt haben, die es in einer ausschließlich binnenmarktorientierten Ökonomie nicht gibt. Man bot hohe Qualität zu günstigen Preisen. Exportorientierung forderte die Produktivitäts- und Innovationskraft heraus. Irgendwann scheint es aber gekippt zu sein und die Exportorientierung kannte nur noch niedrige Preise, sprich: niedrige Löhne.
Exportüberschuss bedeutet, dass Deutschland per Saldo ins Ausland mehr verkauft, als es im Ausland einkauft. Die Konsequenz ist, dass unsere Forderungen gegenüber dem Ausland zunehmen, während das Ausland über ein Plus an Waren und Dienstleistungen verfügt.
Wie unsinnig dieses Spiel ist, wird deutlich, wenn es in Permanenz geschieht: Wir häufen immer mehr Forderungen an, die wir nicht einlösen, während das Ausland sich an unseren Waren erfreut. Die Gesellschaft ist materiell (an Dingen im Land) ärmer als das Ausland, monetär aber reich (natürlich profitieren von diesem Reichtum nicht alle Inländer gleichermaßen).
Man muss wohl Kotlyarova so verstehen, dass in Deutschland das Lotterleben ausbricht („mehr Konsum“), wenn wir in Richtung Binnenmarktorientierung umschwenken. Vielleicht kann man den Ängsten hinter dieser Sorge um das deutsche Wesen entgegenkommen:
- Wir sollten nicht von Binnenmarktorientierung, sondern vom Ziel einer ausgeglichenen Leistungsbilanz reden.
- Dazu gehören starke Exporte, Exporte also, die ein Beleg für eine innovative und produktive deutsche Wirtschaft sind. In diesem Sinne behalten wir unsere Exportorientierung bei und stärken sie sogar. Und dazu gehört, dass wir unsere Leistung nicht nur in Form von Exporterfolgen goutieren, sondern auch durch im Ausland eingekaufte Waren, damit wir materiell nicht verarmen.
Die BZ-Autorin hat Recht, dass Nationen sich nicht einfach neu erfinden können. Gesellschaften haben trotz aller kapitalistischen Dynamik ein großes Beharrungsvermögen. Aber wie wäre es, wenn wir im Gleichschritt uns auf unsere Tradition besinnen (uns also treu bleiben) und Neues hinzulernen.
Hinter der angeblichen Identität des Exportweltmeisters steckt etwas anderes, das „wesentlicher“ (wenn ich dieses Wort einmal raunen darf) ist: Wir halten uns für die Nation der Tüftler und Denker. Das ist german exceptionalism. Wie wäre es, wenn wir uns darauf besinnen? Der Staat könnte zum Beispiel eine Forschungslandschaft aufbauen oder stärken, deren KnowHow unsere hidden champions verwerten.
Der Weltmarktführer für Maschinen, mit denen überall in der Welt Zahnbürsten produziert werden (Zahoransky), sitzt in einem Dorf im Schwarzwald. Er sitzt dort nicht, weil es dort weniger Bürokratie gibt oder eine geringere Gewerbesteuer. Er sitzt dort, weil er an eine lange Tradition der Bürstenmacherei anschließt. Diese Pfadabhängigkeit und -treue gilt es zu stärken. Und wenn wir gleichzeitig begreifen, dass wir als Nation uns selbst schaden, wenn wir nicht im Ausland ausreichend einkaufen, dann werden wir Deutschen sehen, dass alles, alles gut ist.
Produktiv sein und die Früchte genießen – das wäre doch mal was.