Ein Lohn zum Leben – oder nur zum Überleben?
Muss der Lohn zum Leben reichen? Wenn ja, wer soll das bezahlen? Der Arbeitgeber? Der Staat? Oder vielleicht doch der Konsument? Und warum müssen wir uns diese Frage überhaupt stellen?
Was ist geschehen? Roland Müller, Direktor des Schweizerischen Arbeitgeberverbands hat in einem öffentlich gewordenen internen Dokument diesen Satz gesagt. „Ein rein existenzsichernder Lohn ist nicht die Aufgabe der Arbeitgeber.“ Es könne nicht die Aufgabe der Unternehmen sein, für existenzsichernde Löhne zu sorgen, das sei Sache des Staates bzw. des Sozialamts.
Hintergrund der Aussage ist ein Streit um die Einführung von kantonalen und kommunalen Mindestlöhnen von bis zu 24,50 Franken in Genf und 23,90 Franken in Zürich. Die Arbeitgeber halten kantonale Mindestlöhne für rechtswidrig, weil damit die (tieferen) sozialpartnerschaftlich ausgehandelten Niedriglöhne untergraben würden.
Müllers Aussage hat eine heftige Kontroverse und ein überwiegend negatives Echo ausgelöst: „Arbeitgeber empört mit Aussage“, „Schlag ins Gesicht der Arbeitnehmenden, die dieses Land täglich am Laufen halten“, „Wer so denkt, reduziert Mitarbeitende auf Produktionsfaktoren.“
Der Zuspruch kam vor allem von der rechten Seite. Hansueli Schöchli, der „Chefökonom“ der NZZ, unterstützte Müller mit diesem Argument: „Aus ökonomischer Sicht müssen Löhne in erster Linie die Wertschöpfung der betroffenen Arbeitnehmer spiegeln.“
Was ist dazu zu sagen? Erstens: Falsche Fragestellung! In einer gut funktionierenden Marktwirtschaft sollte sich das Verursacherprinzip durchsetzen. Letztlich zahlt nicht der Arbeitgeber den Lohn, sondern der Endkonsument, der die entsprechende Leistung in Anspruch nimmt. Zweitens: Falscher Begriff. Die Wertschöpfung kann nicht gemessen werden. Die Ökonomen können nicht ermitteln, wieviel jemand mit seiner Stunde Arbeit zum BIP beigetragen hat. Stattdessen beobachten sie die Wertabschöpfung, also wieviel dieser jemand für seine Arbeit kassiert hat. Schöchlis Forderung, die Löhne müssten der Wertschöpfung entsprechen, ist deshalb ein Zirkelschluss. Das, was er „Wertschöpfung“ nennt, ist per Definition der Lohn. Und umgekehrt.
Reicht es, wenn ein Lohn nur „existenzsichernd“ ist?
Nicht, oder nur ganz am Rande wurde die Frage diskutiert, ob es denn reicht, wenn ein Lohn nur gerade „existenzsichernd“ ist. Und ob die angepeilten rund 24 Franken pro Stunde ausreichen, um wenigstens dieses bescheidene Ziel zu erreichen. Rechnen wir: Die durchschnittliche jährliche Arbeitszeit pro Erwerbstätigen beträgt 1550 Stunden. 1700 Stunden wären somit ein ehrgeiziges Ziel. Bei 24 Franken Stundenlohn ergibt das ein monatliches Einkommen von 3400 Franken brutto oder knapp 3000 Franken netto. Davon kann man bei den aktuellen Mieten (1000 Franken, wenn man sich eine kleine Wohnung teilt) und den hohen Krankenkassenprämien (mindestes 400 Franken) bestenfalls überleben.
Wie hoch müsste ein Stundenlohn sein, von dem man richtig leben, sprich sozial mithalten und – als Paar – zwei Kinder aufziehen und damit das Überleben der Schweiz sichern kann?
Gemäß der Statistik der Haushaltseinkommen benötigte das ärmste Fünftel der Haushalte mit (im Schnitt 1,7) Kindern vor vier Jahren ein Einkommen von 6860 Franken. Mit zwei statt 1,7 Kindern – zu aktuellen Preisen und bei einer für Zürich und Genf wenigstens halbwegs realistischen Miete von 2000 Franken (statt 1400) – kommen wir auf rund 8000 Franken. Zwei Kinder erfordern pro Elternteil einen wöchentlichen Arbeitsaufwand von 53 Stunden. Mehr als insgesamt 150 Stellenprozente, sprich 3000 jährliche bezahlte Arbeitsstunden, sind deshalb kaum zumutbar. Auf dieser Weise errechnet sich ein notwendiger Stundenlohn von mindestens 32 Franken.
Kann sich die Schweiz das überhaupt leisten? Sehen wir uns die einschlägigen Daten an: Mit rund 8 Milliarden Arbeitsstunden wird eine Lohnsumme von 490 Milliarden erwirtschaftet, was einem mittleren Stundenlohn von rund 61 Franken entspricht. Dazu kommen – immer auf die Arbeitsstunde umgerechnet – noch rund 15 Franken Gewinn bzw. Entlohnung für das eingesetzte Kapital. Die Zahlen verstehen sich nach Abschreibungen. Im Schnitt stehen dem Schweizer pro Stunde bezahlte Arbeit somit 76 Franken allein für den Konsum zur Verfügung. (In Deutschland kommt man mit analogen Überlegungen auf einen mittleren Stundenlohn von etwa 40 Euro plus 12 Euro Gewinnanteil.)
Bei einer gleichmäßigen Verteilung (und wenn alle gleich viel Produktionskapital besäßen) müssten alle, die sich an der Erarbeitung des BIP beteiligt haben, 76 Franken Stundenlohn kassieren. Nun verlangt niemand eine gleichmäßige Verteilung. Aber halbwegs gerecht müsste sie schon sein. Wenn nun eine Person 20 Franken pro Stunde verdient, fallen für eine andere – rein rechnerisch – 132 Franken ab. (zweimal 76 minus 20) Eine solche Einkommensverteilung ist extrem ungerecht und gefährdet den sozialen Frieden. Und auch ein Lohn von 32 Franken bedeutet, – immer rein rechnerisch – dass ein anderer immer noch rund das Vierfache, nämlich 120 Franken kassiert.
Rechnen wir noch ein wenig weiter: Angenommen, wir haben eine Unterschicht von 35 Prozent, die von einem Stundenlohn von den besagten 32 Franken lebt. Die nächsten 60 Prozent bilden die Mittelschicht mit (verteilungsneutralen) Einnahmen von 76 Franken pro Arbeitsstunde. Dann bleiben für die oberen 5 Prozent 384 Franken pro Stunde. Um die Produktions- bzw. Konsumkapazitäten des Landes auszuschöpfen, müssten diese 5 Prozent rund einen Viertel des gesamten Konsums bestreiten.
Oder anders formuliert: Je tiefer die Mindestlöhne, desto mehr wird die Wirtschaftskraft des Landes darauf verschwendet, den Luxusbedarf dieser Oberschicht zu decken. Dazu gehört nicht zuletzt die Vermögensverwaltung, die Bitcoins und alle Versuche, die Werthaltigkeit der stetig steigenden Finanzvermögen zu sichern.
Produktivität ist, was Kunden zu zahlen bereit sind
Dem steht allerdings die These gegenüber, dass Arbeitslosigkeit entsteht, sobald die Löhne höher sind als die „Produktivität“. Das ist nicht falsch. Das, was Ökonomen „Produktivität“ nennen, zeigt an, wieviel die Kunden für eine Leistung oder ein Produkt zu zahlen bereit sind. Liegt der Preis höher, wird die Leistung nicht mehr nachgefragt. Das ist kein volkswirtschaftlicher Schaden, denn für eine Leistung, die niemand dringend braucht, soll auch keine Arbeitskraft verbraucht werden. Doch gehen dabei nicht Jobs verloren? Klar. In einer Wettbewerbswirtschaft gewinnt, wer ein Produkt mit möglichst wenig Arbeit(skosten) herstellt – und damit Arbeit „vernichtet“.
Damit daraus nicht Arbeitslosigkeit, sondern Freizeit entsteht, müssen die Arbeitszeiten an die steigende Produktivität angepasst werden.
Genau das ist in den ersten rund 50 Jahren der Nachkriegszeit geschehen. In der Schweiz ist die durchschnittliche Arbeitszeit je Vollzeitstelle bis 1990 um rund sieben und in Deutschland um rund 10 Stunden gesunken. Seither hinkt der Rückgang der Arbeitszeiten deutlich hinter Steigerung der Produktivität hinterher.
Um mehr Jobs zu schaffen, hat man versucht, die Arbeit zu verbilligen und unbezahlte in bezahlte Arbeit umzuwandeln. Mit üblen Folgen: In den ersten Nachkriegsjahrzehnten war es selbstverständlich, dass eine einziger Vollzeitlohn ausreichte, um eine Familie mit zwei oder drei Kindern zu ernähren. Inzwischen hat sich die gemessene Arbeitsproduktivität verdoppelt. Dennoch kann ein Arbeitgeberpräsident heute drüber philosophieren, ob die Löhne wenigstens zur Sicherung der nackten Existenz reichen sollen.
Beschäftigung durch Export?
Wie konnte das kommen? Der entscheidende Punkt liegt wohl darin, dass die Exportindustrie und deren Ökonomen die Deutungshoheit in der Wirtschaftspolitik errungen haben. Sie vertreten die Meinung, dass die Beschäftigung durch den Export gesichert werden musste, und dass der Wohlstand eines Landes vom Sieg im globalen Standortwettbewerb abhängt. Das bedeutet einerseits, dass die Löhne im Vergleich zu jenen des Auslands tief bleiben mussten. Tiefe Löhne, gleich tiefe Exportpreise, gleich mehr Export, gleich mehr Beschäftigung.
Standortwettbewerb wiederum bedeutet, dass man die Unternehmen und deren Angestellte anlocken musste, die in den globalen Wertschöpfungsketten die fetten Glieder besetzten – Forschung, Entwicklung, Werbung, Finanzen und Unternehmenszentralen. Den Standortwettbewerb kann man als eine Art Arbitrage der Lebenshaltungskosten verstehen: Man produziert dort, wo die Lebenshaltungskosten und damit die Löhne am tiefsten sind und verkauft seine Produkte dort, wo die Kaufkraft am höchsten ist. Kleines Rechenbespiel: Wenn 90 Prozent der für ein Produkt nötigen Arbeit gegen 6 Franken pro Stunde geleistet wird, das Produkt aber an Kunden mit einer zehnmal höheren Kaufkraft verkauft wird, dann kann das Unternehmen die übrigen 10 Prozent der Arbeit mit gut 500 Franken entlohnen.
Sieger im Standortwettbewerb ist, wer diese dünne aber finanziell potente Oberschicht anlocken kann. Dazu braucht es tiefe Steuern und eine gut ausgebaute Infrastruktur. Es braucht aber auch eine Einwanderungspolitik, die es der Oberschicht erlaubt, das Heer von Dienstleistern zu rekrutieren, die ihnen ihre Luxuswohnungen baut, ihre Kinder hüten, sie in schicken Lokalen bedienen usw. Diese Leute wandern meist aus Ländern mit tiefen Lebenshaltungskosten ein und können entsprechend schlecht bezahlt werden.
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Das drückt aber auch die Löhne der Einheimischen, die in diesen Sektoren tätig sind. Daneben beschäftigen die Großverdiener aus der Exportbranche auch noch eine kleinere gutverdienende Gruppe von Edelhelfern – Steueranwälte, Anlageberater, Immobilienagenten etc.
Der Standortwettbewerb bewirkt somit, dass trotz generell sinkenden Geburtenraten die Bevölkerung in den Ballungszentren stark wächst. Dies führt zu einer zunehmend einseitigen Verteilung der Einkommen und der Vermögen: Ganz oben die Sieger, die Profiteure der globalen Wertabschöpfungsketten bzw. der Exportindustrie. Ganz unten die Angestellten der Dienstleistungsbranchen. Dazwischen die Arbeitskräfte der traditionellen Binnenwirtschaft mit einem Lohnniveau, das um die 60 Franken pro Stunde schwankt.
Doch weil die geballte Kaufkraft der Oberschicht alle Mieten nach oben treibt, muss auch der Mittelstand den Gürtel enger schnallen und die Unterschicht wird in die Armut getrieben. Auf der anderen Seite sind die Bodenbesitzer die großen Gewinner. Sie kassieren – über die übersetzten Mieten und Bodenpreise – jährlich gut 80 Milliarden allein dafür, dass sie ihr Bauland zur Verfügung stellen oder verkaufen. Auf die Arbeitsstunde umgerechnet sind das rund 10 Franken, die sehr viele zahlen und nur wenige kassieren.
Was lässt sich daraus lernen? Erstens: Gut verdienende Leute ins Land zu locken, um so im Standortwettbewerb bestehen zu können, ist nicht im Interesse des ganzen Landes. Zweitens: Die Marktwirtschaft funktioniert – sofern man sie intelligent reguliert. Das kann wieder gelingen. Ein erster Schritt dazu sind Mindestlöhne, die der Ertragskraft der Gesamtwirtschaft angemessen sind. Ob das durch staatliche Dekrete gelingt oder dank einer guten Sozialpartnerschaft – oder einer Mischung von beiden – ist Nebensache.
Sicher ist nur, dass dieses Ziel mit hohen Löhnen viel effizienter erreicht werden kann als mit Hilfe einer aufwändigen und für die Almosenempfänger entwürdigenden staatlichen Rückverteilungs-Bürokratie.