Bürgergeldreform

Sozialstaat: Unter den Rädern des marktlibertären Populismus

| 01. Juli 2025
IMAGO / Bernd Elmenthaler

CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann will eine „große Bürgergeldreform“, die „an die Substanz“ geht – genauer: an die Grundfesten des Sozialstaats.

Eine im Auftrag des Vereins Sanktionsfrei in Auftrag gegebene Studie hat unter anderem zu Tage gefördert, dass 54 Prozent der Eltern, die Bürgergeld beziehen, angeben, auf Essen zu verzichten, damit ihre Kinder genug zu essen haben.

Darauf während einer von Phoenix TV festgehaltenen Pressekonferenz angesprochen, reagierte CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann mit dem Hinweis, er wolle sich nicht zu einzelnen Regelsätzen äußern – und damit auch nicht zur Situation der von Armut Betroffenen. Er möchte vielmehr festhalten, dass er eine „große Bürgergeldreform“ anstrebe, eine, die, wie er einige Tage zuvor meinte, „an die Substanz gehe“.

Offenbar also noch mehr als heute. Der Bürgergeldbezug soll nämlich, wie Linnemann zuvor bekundet hatte, auch ganz entfallen können. Was bislang allerdings am Grundgesetz scheitert, jedenfalls an der Auslegung des Ewigkeitsartikels 20 des Grundgesetzes durch das Bundesverfassungsgericht; dieser bestimmt die Bundesrepublik Deutschland als einen „sozialen Bundesstaat“. 

Solidarität erster und zweiter Ordnung

Diese Reform soll auf einer eigentümlichen Auslegung des Gedankens gesamtgesellschaftlicher „Solidarität“ basieren. Einerseits Solidarität mit denjenigen, „die aus welchen Gründen auch immer nicht arbeiten können“. Andererseits Solidarität der Armutsbetroffenen mit den aktuell Beschäftigten, die ja mit ihren Steuerbeiträgen das Bürgergeldsystem ja überhaupt erst ermöglichten.

Die damit implizierte „Solidarität“ mit den Kapitaleinkommensbeziehern, die – bei erhöhter Kapital- oder je nachdem: Abschöpfungsquote – ja ohnehin kaum und in gewollt sinkendem Maße zur Finanzierung des Sozialstaates herangezogen und somit geschont werden, verschweigt Linnemann. Diese scheint ihm eine Selbstverständlichkeit zu sein. Und sie zu benennen, könnte unangenehme Fragen auslösen.

Diese zweite Dimension der Solidarität – also der am unteren Rand mit denjenigen oben und in der Mitte, die die erste, die originäre Dimension der Solidarität mindestens relativiert, wenn nicht komplett neutralisiert – bedeute, dass der Bürgergeldbezug auf dem Prinzip zu basieren habe, dass „derjenige, der arbeiten kann, auch arbeiten gehen muss.“ Egal, zu welchen Bedingungen. Jedenfalls zu den Bedingungen, die der Markt gerade hergibt.

Das sagt Linnemann natürlich nicht, er muss es aber meinen. Und an diesen Bedingungen soll keineswegs gerüttelt werden. Eine Erhöhung des Mindestlohns etwa lehnt Linnemanns CDU ab. Und eine Abkehr vom Exportismus, der Lohnmoderation impliziert, zugunsten der Stärkung der Binnennachfrage, die das Gegenteil erfordern müsste, ebenso.

Linnemann meint, für seinen Solidaritätscoup, der echte Solidarität offenbar letztlich beseitigen soll, könne er sich auf „Millionen Deutsche“ berufen, die das gegenwärtige System der Grundsicherung „nicht als gerecht“ empfänden – weil es (immer noch) zu großzügig ausgestaltet sei oder vielleicht auch grundsätzlich. Zwar wären „ein paar Millionen Deutsche“ bei 72 Millionen Staatsbürgern möglicherweise nur eine kleine Minderheit. Doch in der Tat empfinden dies viele derjenigen, die „arbeiten gehen müssen“ – zu den Bedingungen, die sie eben ergattern konnten – so.

So ergab eine Umfrage des MDR aus dem Jahre 2023, dass 62 Prozent der Befragten aus Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen eine damals im Raum stehende Bürgergelderhöhung als zu hoch empfinden. 73 Prozent wünschen sich überdies „härtere Sanktionen“. Ein Befragter meinte, eine Bürgergelderhöhung (oder überhaupt Bürgergeld?) sei „ein Schlag ins Gesicht für diejenigen, die für wenig Geld einer Arbeit nachgehen“.

Benennbare und unbenennbare Instanzen

Diejenigen, die „arbeiten gehen müssen“ (Linnemann), zu den gerade bestehenden Bedingungen, weil sie sonst einkommenslos wären, und (worauf Linnemann abstellt) weil der Sozialstaat sie nicht würdevoll, sondern entwürdigend auffangen würde, falls sie ihre Einkommensquelle verlieren, was den Druck weiter erhöht, adressieren nur „den Sozialstaat“, nicht den Markt. Denn nur jener ist als benennbare Instanz greifbar: Da gibt es Politiker und Politikerinnen, Parteien, politische Kommentatoren, die für oder gegen die Etablierung eines würdigen Sozialstaates votieren, was je nach Mehrheitsverhältnissen dazu führt, dass dieser aus- oder eben abgebaut wird.

Sie adressieren nicht die Bedingungen, die sie zur Annahme eben dieser ihrer Beschäftigung – gegebenenfalls „für wenig Geld“ – zwingen. Ebenso wenig die Marktbedingungen, die die Betroffenen zu Bürgergeldempfängern gemacht haben. Denn diese Bedingungen sind im wettbewerblichen Markt als einer „herrenlosen Sklaverei“ (Max Weber) letztlich nicht personal identifizierbar.

Da sind die vielen unbekannten Käufer, die nun nicht mehr kaufen oder bald nicht mehr kaufen könnten (latenter Wettbewerb). Die bekannten oder auch die aus dem Nichts hinzutretenden, bislang unbekannten Konkurrenten, aus der eigenen oder auch aus ganz anderen Branchen (wenn die eigene Branche insgesamt schrumpft), zu denen die Kundschaft abwandert. Ohne dass man wüsste, wer „die Konkurrenten“ eigentlich sind. Deren Management, deren Beschäftigte, deren häufig wechselnden Kapitalgeber? Ihr Zulieferer, die günstige und hochqualitative Vorprodukte liefern, und dort wiederum diese drei Gruppen. Dies alles in einem hochkomplexen Feld langer, schwer überschaubarer Lieferketten?

Die Instanz- und Adressatenlosigkeit des Marktnexus, der über die „unsichtbare“ (Smith) bzw. die „verbergende Hand“ (Bhagwati) des Wettbewerbs hergestellt wird, führt dazu, dass Verantwortung (für sinkende oder ausfallende Einkommen, oder auch für den Stress, dies zu verhindern) in „Eigenverantwortung“ umgemünzt wird. Und viele Leute denken: „Mir hilft auch niemand. Warum wird diesen Faulpelzen geholfen? Das ist ungerecht.“ Wenn sie Wut empfinden über die herrschenden ökonomischen Zustände, dann ist es „adressatenlose Wut“.[1] Oder natürlich Wut auf Sündenböcke, die man zu identifizieren meint: Ausländer, Woke.

Dass Typen wie Linnemann mit seiner als Solidarität getarnten Solidaritätsverweigerung durchkommt, das war nicht immer so. Bis vor kurzem, so meine ich, gab es noch eine Solidarität der aktiv Beschäftigen mit denjenigen, die aus dem System fallen. Der Gutverdiener ebenso und wohl erst recht derjenigen eher am unteren Ende der Lohnskala. (Dies bestätigt das Politbarometer, das 2010 eine Ablehnungsquote von 66 Prozent für Kürzungen bei der Grundsicherung verzeichnete, 2023 hingeben dafür eine Zustimmungsquote von 64 Prozent.)

Und vielleicht gab es auch ein elementares Verständnis dafür, dass ein auskömmlicher „Reservationslohn“, den sozialstaatliche Sicherungsnetze gewähren, einen positiven Einfluss auf die Lohnquote hat und Einkommensdisparitäten dämpft. Und ein sinkender Reservationslohn das Gegenteil bewirkt, weil die Angst abzustürzen steigt und die Verhandlungsmacht sinkt. Was neoklassische Ökonomen in der Regel begrüßen, weil dadurch verhindert werde, dass „das Risiko der Arbeitslosigkeit viel von seinem Schrecken einbüßt“.[2] Das sei zu vermeiden, damit der Druck zur Steigerung „der Effizienz“ (für wen?) nicht nachlässt.

Erziehung zum Marktgehorsam

Doch wirkt der Marktnexus offenbar unnachgiebig als eine Erziehungsanstalt, was Marktlibertäre wie Hayek und seine Nachfolger schon immer bejubelt haben. Er erzieht zum „Marktgehorsam“ (Nell-Breuning) und vor allem dazu, den Markt als Ausdruck von „Freiheit“ zu deuten, den demokratisch-egalisierenden Rechtsstaat hingegen als freiheitszersetzende Kraft. In seiner sozialpolitischen Dimension, die darauf abstellt, den Marktdruck – in übrigens unvermeidlich partikularistischer Weise – zu dämpfen, erscheint er den neuen Marktpopulisten, die ihre Helden in den Linnemanns, Musks, Thiels und Mileis dieser Welt erblicken, nur als eine diskriminierende, also Ungerechtigkeit erzeugende Kraft. 

So stellt der neue Marktpopulismus sicher, dass wir dem „stahlharten Gehäuse“ (Max Weber) fortgesetzter Ökonomisierung aller Lebensumstände nie werden entrinnen können – „bis der letzte Zentner fossilen Brennstoffs verglüht ist“, wie Max Weber vor über hundert Jahren festhielt. Und so tragen auch viele Kleinbürger, so sie der offenbar unwiderstehlichen Anziehungskraft des Marktpopulismus erliegen, zur „Stilllegung“ der ja doch vor allem für sie bestimmten „redistributiv-protektionistischen“, der „sozialen Demokratie“[3] bei.

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[1] Vgl. Sauer, D., u.a. (2018) Rechtspopulismus und Gewerkschaften. Eine arbeitsweltliche Spurensuche, Hamburg, S. 13 f., 89 ff.
[2] Blanchard, O./Illing, G.: Makroökonomie, 6. Aufl., München 2014, S. 235.
[3] Streeck, W.: Zwischen Globalismus und Demokratie. Politische Ökonomie im ausgehenden Neoliberalismus, Frankfurt a.M. 2021, S. 27, 31f., 38-41.