Theorie öffentlicher Güter

Die Deutsche Bahn – oder was öffentliche Güter bedeuten

| 18. Juli 2024
IMAGO / Rene Schulz

Fast alle Parteien befürworten die Verkehrswende und eine Verlagerung des Güterverkehrs auf die Schiene. Trotzdem passiert fast nichts. Warum ist das so?

Überfüllte Züge, Chaos, Verspätungen – selbst die New York Times berichtete während der Fußball-EM 2024 über den Zustand der Deutschen Bahn. Probleme, die aber nicht nur, wie die Times und viele andere Kommentatoren meinen, an fehlenden Finanzmitteln liegen. Was fehlt, ist auch der Gemeinwille überhaupt. Von dem ehemaligen Bahnchef Hartmut Mehdorn existiert ein Interview aus dem Jahr 1999, in dem er sagt: „(…) wir werden hier mit spitzer Feder rechnen, und nur Dinge machen, die sich wirklich rechnen“.

Vielleicht hätte Mehdorn mehr Adam Smith lesen sollen; in seinem berühmten Werk Wohlstand der Nationen definiert der schottische Moralphilosoph nämlich die Aufgaben des Staates: dazu zählen zum einem Polizei, Justiz und Militär. Zum anderen hat der Souverän „die Pflicht, bestimmte Anstalten und Einrichtungen zu gründen und zu unterhalten, die ein einzelner oder eine kleine Gruppe aus eigenem Interesse nicht betreiben kann, weil der Gewinn ihre Kosten niemals decken könnte, obwohl er häufig höher sein mag als die Kosten für das ganze Gemeinwesen.“

Die gesellschaftlichen Vorteile – ÖPNV und Regionalbahnen  

Dass der Staat den Bau der Verkehrsinfrastruktur koordinieren muss, ist offenkundig. Doch gerade der ÖPNV und die Regionalbahnen bieten mehrere Vorteile gegenüber dem Straßen- und Autoverkehr. Zumal über die Kosten der Gemeinde- und Kreisstraßen, „die etwa 75 % des deutschen Straßennetzes ausmachen, seit 2012 keine Zahlen mehr statistisch erhoben“ werden, wie es in einer Studie von Professor Christian Böttger der HTW Berlin heißt. Dieselbe Studie, erschienen im Auftrag des Netzwerks Europäischer Eisenbahnen, kommt zum Schluss: KFZ-Steuer, Mineralölsteuer und Mautabgaben können die Kosten des Autoverkehrs nicht decken – insbesondere, wenn man die externen Kosten wie Unfälle und den Klimawandel berücksichtigt.

Zu den externen Kosten des Straßenverkehrsgehört auch das Problem des Platzverbrauches. Typischerweise liegt die Kapazität einer Straße bei 1.500 bis 2.500 Fahrzeugen pro Stunde und Spur. Zum Vergleich: Die bestehende Stammstrecke der S-Bahn München hat eine theoretische Kapazität von 18.360 Passagieren die Stunde pro Richtung. Geht man von 1,2 Passagieren pro Auto aus, dann ersetzt die Stammstrecke eine Autobahn mit 12 Spuren (6 pro Richtung).

In Deutschland gibt es solche monströsen Stadtautobahnen bislang nicht; die A5 bei Frankfurt soll allerdings nach dem Willen der Autobahn GmbH auf 10 Spuren ausgebaut werden. Negativbespiele gibt es insbesondere aus Nordamerika, unter anderem den Katy Freeway in Houston mit 26 Spuren oder der Highway 401 in Toronto mit 18 Spuren. Hinzu kommen noch der Flächenverbrauch für die Parkplätze und die Kosten für den Bau von Tiefgaragen.

Der Kritik der New York Times an der Deutschen Bahn liegt also auch ein spezifisch amerikanischer Blick zugrunde aus einem Land, dessen Großstädte keinen angemessenen ÖPNV haben. New York hat zwar eine mit einer S-Bahn vergleichbare Commuter Rail, aber eine der wichtigsten Strecken für Pendler, die North River Tunnels, sind über 110 Jahre alt und wurden 2012 durch Hurrikan Sandy überflutet. Dessen zwei Tunnelröhren müssten eigentlich nacheinander für eine Grundsanierung gesperrt werden. Weil sich das bei laufendem Betrieb nicht machen lässt, ist zunächst ein neuer Tunnel geplant. Pläne dafür gibt es seit den 1990ern, aber der Baubeginn wurde jahrelang durch republikanische Politiker (Chris Christie und Donald Trump) verzögert. Der neue Tunnel soll bis 2035 fertiggestellt sein.

In Europa wollen die meisten Menschen eine Innenstadt, in der man als Fußgänger gut zurechtkommt. Wenn aber eine moderne Großstadt keine Beton- oder Asphaltwüste sein soll, dann ist sie auf einen gut ausgebauten ÖPNV angewiesen. Das Verkehrsaufkommen zur Hauptverkehrszeit ließe sich allein durch den Autoverkehr nie bewältigen. Die bei weitem größte Kapazität bieten U-Bahnen und S-Bahnen. Denn auch für Busse und Stadtbahnen braucht es eigene Fahrspuren und Vorrangschaltungen an den Ampeln, damit diese nicht wie Autos durch dichten Verkehr verlangsamt werden.

Ohne Subventionen ließe sich der ÖPNV aber nicht finanzieren, insbesondere, da auch der Autoverkehr subventioniert wird. Wenn also die Pendler im Stau stehen, weil sie, trotz Stau, mit dem Auto immer noch schneller auf der Arbeit sind als mit Bus und Bahn, dann liegt das auch daran, dass die Menschen die individualistische Logik des Marktes so sehr verinnerlicht haben, dass sie nicht in der Lage sind, sich für die Bereitstellung bestimmter öffentlicher Güter zu koordinieren.

Adam Smiths Theorie in Wohlstand der Nationen geht jedoch davon aus, dass Menschen zu dieser Koordination zumindest grundsätzlich in der Lage sind. Zumal ein gut ausgebauter ÖPNV auch eine Sache der Solidarität ist. Viele Menschen können aus verschiedenen Gründen nicht Autofahren; andere entscheiden sich wegen der Kosten dafür, auf ein Auto zu verzichten. Deswegen braucht man nicht nur ein ausgebautes S-Bahn-Netz in den Großstädten, sondern auch ein ausgebautes Netz von Regionalbahnen, durch das im Idealfall zumindest alle Kreisstädte zu erreichen sind. Regionalbahnen ermöglichen außerdem das Pendeln mit dem ÖPNV auch über längere Strecken.

Die gesellschaftlichen Vorteile: Hochgeschwindigkeitszüge und Güterbahnen

Die höhere Bequemlichkeit des Zugfahren ist auch ein Grund für das höhere Prestige von Hochgeschwindigkeitszügen. Wer es sich leisten kann, nimmt den ICE. Deswegen lassen sich Hochgeschwindigkeitszüge auch grundsätzlich kostendeckend betreiben: die Nutzer zählen zu den Besserverdienenden, die nicht darauf angewiesen sind, dass ihre Mobilität durch die Gesellschaft subventioniert wird.

Allerdings braucht die Bahn zunächst einmal das Geld, um die Investitionskosten für Hochgeschwindigkeitstrassen aufzubringen. In Thomas Pikettys Kapital und Ideologie findet man die Anmerkung, dass der französische TGV, der aufgrund seiner Fahrpreise nur für begüterte, großstädtische Klassen erschwinglich ist, durch die Stilllegung kleiner lokaler Strecken zwischen weniger wichtigen Städten finanziert wurde.

Zumindest in Deutschland gibt es jedoch einen zusätzlichen Grund, Hochgeschwindigkeitstrassen zu bauen. Die deutschen Hochgeschwindigkeitszüge teilen sich (anders als in Frankreich) oft die Gleise mit anderen, langsam fahrenden Zügen. Züge mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten auf den gleichen Gleisen fahren zu lassen, erfordert jedoch deutlich mehr Kapazität. Die zusätzlichen Kapazitäten, die durch den Bau einer Neubaustrecke frei werden können, sind insbesondere für den Güterverkehr erforderlich.

Ein gutes Beispiel dafür ist die Hinterlandanbindung der Nordseehäfen. Die Deutsche Bahn plant seit 30 Jahren die sogenannte Y-Trasse Bremen/Hamburg – Hannover. Die Folge dieser Trasse wäre jedoch, dass wohlhabende Hamburger Vororte wie Seevetal wesentlich stärker vom Schienenverkehr betroffen sind. Dies dürfte ein Hauptgrund dafür gewesen sein, dass diese Variante 2015 auf einem ‚Dialogforum‘ mit umfassender Bürgerbeteiligung abgelehnt wurde. Stattdessen präferierte das Dialogforum das sogenannte Alpha-E, welches aber keine signifikanten Kapazitätssteigerungen bewirken würde.

Im Allgemeinen befürworten fast alle Parteien die Verkehrswende und eine Verlagerung des Güterverkehrs auf die Schiene. Mit guten Gründen: Ein Güterzug kann 52 LKWs ersetzen; das heißt auch, dass ein Lokführer 52 Berufskraftfahrer ersetzen kann. Angesichts des Fachkräftemangels im Güterverkehr ein entscheidender Vorteil. Güterzüge sind außerdem deutlich klimafreundlicher als LKWs, und ohne weitere Fortschritte bei der Batterietechnologie bleibt fraglich, ob E-LKWs die nötige Nutzlast und Reichweite haben, um die Energiewende voranzubringen. 

Das gleiche Argument, das für den Ausbau des ÖPNV in den Großstädten spricht, gilt also auch für den Ausbau des Schienennetzes für den Güterverkehr. Der beste Weg, die Zahl der Autos zur Hauptverkehrszeit zu reduzieren, ist der Ausbau des ÖPNV. Der beste Weg, die Zahl der LKWs auf der Autobahn zu reduzieren, die Verlagerung des Güterverkehrs auf die Schiene.

Nimbyismus – Partikularinteresse versus Gemeinwille

Doch was in der Sache überzeugend klingt, scheitert allzu oft an den Mühen der langen Ebene. Angenommen, die Y-Trasse ist in der Tat die beste Variante – dann müssen die Eigenheimbesitzer aus Seevetal diese im Sinne des Gemeinwohls akzeptieren. Tun sie das nicht, dann liegt hier ein politisches Problem vor, das als Nimbyismus bezeichnet wird (vom englischen Akronym: N.I.M.B.Y – not in my backyard): Die Vorteile des Ausbaues der Schieneninfrastruktur können noch so deutlich sein – führt er dazu, dass der Blick auf die Landschaft durch eine neue Eisenbahntrasse versperrt wird, dann werden die wohlhabenden Bürger in den Vororten dies ablehnen.

Dieser Widerspruch betrifft natürlich nicht nur die Schieneninfrastruktur, sondern auch die Energiewende. Der Bau von Windkraftanlagen und Stromtrassen stößt bei Anliegern oft auf erbitterten Widerstand – selbst dann, wenn diese allgemein die Energiewende befürworten.

Das dem Nimbyismus zu Grunde liegende politische Problem war bereits der politischen Philosophie des 18. Jahrhunderts bekannt. Jean-Jaques Rousseau beschreibt es durch den Gegensatz von Partikularinteresse und Gemeininteresse:

„Jedes Individuum kann als Mensch einen Sonderwillen haben, der dem Gemeinwillen, den er als Bürger hat, zuwiderläuft oder sich von diesem unterscheidet. Sein Partikularinteresse kann ihm anderes sagen als das Gemeininteresse; sein selbstständiges und natürlicherweise unabhängiges Dasein kann ihn das, was er der gemeinsamen Sache schuldig ist, als eine unnütze Abgabe betrachten lassen, deren Einbuße den anderen weniger schadet, als ihn ihre Leistung belastet“.

So gesehen wäre es legitim, den Bürgerinnen und Bürgern eine Einschränkung des freien Blicks auf die Landschaft zuzumuten – oder sogar eine Enteignung ihres Grundstückes, wenn dort die beste Strecke für eine Neubautrasse ist. Tatsächlich soll die Deutsche Bahn aber nur einmal in den letzten 30 Jahren ein Enteignungsverfahren durchgezogen haben. Für den Bau von Bundesstraßen und Autobahnen wird hingegen regelmäßig enteignet.

Der Konflikt zwischen Autoverkehr und Schiene ist ein politisches Problem, das erst in der Moderne auftritt. Die nötigen Begriffe, um derartige Probleme zu beschreiben, finden sich jedoch nicht nur in der modernen Wirtschaftstheorie und Politikwissenschaft, sondern bereits in der politischen Philosophie des 18. Jahrhunderts. Adam Smiths Wohlstand der Nationen hat nicht nur eine herausragende Stellung für die Wirtschaftstheorie – es bietet auch eine Theorie öffentlicher Güter, mit der sich heute zum Beispiel für den Ausbau der Bahn argumentieren lässt.