Rentenalarm: Ein Täuschungsversuch
Wer Rentenfragen nach Bauchgefühl betrachtet, mag Thomas Mayer. Doch sein Rentenalarm beruht auf einem katastrophalen Fehler.
Unter dem Titel „Deutschlands Renten-Krise führt zum Wohlstands-Verlust für alle Generationen“ hat der Ökonom Thomas Mayer in der Welt einen in gewisser Hinsicht bemerkenswerten Beitrag veröffentlicht. Mayer steht in der Phalanx derer, die der gesetzlichen Rente stereotyp ein düsteres Schicksal prophezeien. Das ist leider schon Routine und keine Nachricht wert. Doch in seinem Beitrag gibt es ein unfassbar krachendes Scheitern an den einfachen Regeln der Mathematik zu bestaunen.
Thomas Mayer ist nicht irgendwer. Der ständige Kommentator auf den Seiten der Welt ist promovierter Volkswirt, war Chef-Volkswirt der Deutschen Bank, hatte bis 2019 eine Artikelserie bei der FAZ („Mayers Weltwirtschaft“), ist Honorarprofessor der Universität Witten-Herdecke, Jury-Mitglied des Ludwig-Erhard-Preises für Wirtschaftspublizistik und betätigt sich in der Vermögensverwaltung.
Mayer also beschäftigt sich mit der Rentensituation der Babyboomer und thematisiert dazu die schlechter werdende Relation zwischen Beitragszahlern und Rentnern zwischen 2020 und 2030. In dieser Zeit verläuft die demographische Entwicklung tatsächlich besonders ungünstig. Nach den Prognosen des Statistischen Bundesamtes werden spätere Dekaden wieder moderater verlaufen. Der Kern von Mayers Beitrag lautet:
„Die deutsche Renten-Illusion tritt mehr und mehr zutage. (…) Da die Zahl der Ruheständler, die von jeweils hundert Erwerbspersonen versorgt werden müssen, von rund 34 im Jahr 2020 auf 44 im Jahr 2030 wachsen wird, müsste die Produktivität der Erwerbstätigen um 29 Prozent steigen. Denn mehr und länger arbeiten wollen weder Junge noch Alte.“
Das unterbietet jede Milchmädchenrechnung
Doch zunächst das Positive: anzuerkennen ist, dass der Autor sich überhaupt mit der Produktivitätsentwicklung im Rahmen der Altersvorsorgedebatte befasst. Denn häufig gehen „Rentenalarme“ über diesen wichtigen Faktor einfach hinweg. Zwar schwankt die Produktivitätsentwicklung im Lauf der Zeit. In der langen Frist steigt sie jedoch, weil Erfindungen, Prozessoptimierungen, steigendes Wissen und Können und ein steigender Kapitaleinsatz sie nach oben treiben. Von Jahr zu Jahr fällt sie freilich unterschiedlich aus und kann auch einmal sinken. Das geschieht mit logischer Notwendigkeit zum Beispiel dann, wenn Unternehmen in Krisen trotz sinkender Absätze (einstweilen) an ihrem Personal festhalten. Umgekehrt wird die Produktivitätsentwicklung durch Technologieschübe begünstigt.[1]
Nun zu Mayers atemberaubender Rechnung. Er hat errechnet, dass der Anstieg der von je hundert Beitragszahlern zu finanzierenden Rentenempfänger von 34 auf 44 einem Zuwachs von gerundet 29 Prozent entspricht. Diesen Zuwachs setzt er nun offenbar ganz unbefangen mit einem nötigen Produktivitätszuwachs gleich, der zwischen 2020 und 2030 erzielt werden müsse, um die steigende Zahl der Rentner ohne Wohlstandsverlust finanzieren zu können. Die besagten 29 Prozent. Und ein solcher Zuwachs sei schlicht nicht erreichbar.
Zum Vergleich: Ein realistischer durchschnittlicher Zuwachs um 1 Prozent pro Jahr würde nach 10 Jahren zu einem Produktivitätsgewinn von 10,46 Prozent führen.
Viele unaufmerksame Leser, die Rentenfragen nach ihrem Bauchgefühl betrachten, scheint Mayers Ansatz nicht zu stören. Mayers Rentenalarm ist beim Publikum auf höchst positive Resonanz gestoßen.[2] Und doch ist der Fehler katastrophal.
Rechnen wir nach. Dabei nehmen wir zunächst sogar einmal an, die Bezüge eines Rentners lägen genauso hoch wie die eines aktiven Beitragszahlers, was natürlich fern jeder Realität ist. Wir tun dies aber zunächst, um zu zeigen, dass Mayer an der Mathematik scheitert, und es nicht um womöglich divergierende Grundannahmen geht. Jeder Beitragszahler und jeder Rentner soll eine Einheit 1 vom „Kuchen“ erhalten. Für 100 Aktive und 34 Rentner brauchen wir dann im Jahr 2020 134 Einheiten. Das bedeutet, dass jeder Aktive 1,34 Einheiten erarbeiten muss.
Im Jahr 2030 werden für 100 Aktive und nun 44 Rentner 144 Einheiten benötigt. Diese sind wieder von den 100 Aktiven zu erarbeiten. Jeder Aktive muss nun 1,44 Einheiten produzieren. Gegenüber 2020 bedeutet das eine Steigerung von 7,46 Prozent.
Es wird schnell klar: Mayer durfte als Basis seiner Rechnung für die erforderliche Produktivitätssteigerung nicht die 34 Rentner des Jahres 2020, sondern musste die Produktivität des Jahres 2020 in Höhe von 134 Einheiten nehmen.
Berücksichtigt man jetzt, dass Rentner deutlich weniger bekommen als Aktive, entfernt sich der erforderliche Produktivitätszuwachs noch weiter von den von Mayer behaupteten 29 Prozent. Nehmen wir für Rentner ein Einkommen von 60 Prozent an (jeder mag einen anderen Wert einsetzen, je nachdem, was er berücksichtigt und was nicht), so kommen wir auf einen erforderlichen Produktivitätsanstieg von nur 4,98 Prozent. Das alles liegt deutlich unter dem Produktivitätszuwachs von 10,46 Prozent, der sich bei einem Wachstum von 1 Prozent pro Jahr ergibt.
Mensch Meier…
Wie kann es nur zu einem solchen Fehler kommen? Mayer ist ein, wenn man so will, hochdekorierter Ökonom, der sich seit Jahren mit der Materie beschäftigt. Ein solcher Fehler muss doch auffallen! Innerlich sträube ich mich, an Vorsatz zu glauben, auch wenn die Rentendiskussion seit Jahren voller Tücke ist. Wer will schon für einen kurzfristigen Überrumpelungseffekt seine Reputation verlieren. Oder kommt es auf Reputation am Ende gar nicht mehr an?
Testen wir noch einen Rettungsversuch. Debattenteilnehmer, die ein Rentendebakel heraufbeschwören, erklären steigende Beitragssätze regelmäßig zum Tabu, selbst wenn die Beiträge aus gestiegenen Einkommen gezahlt werden können und den Zahlern trotzdem noch mehr Geld als zuvor im Portemonnaie bleibt. Dasselbe soll für höhere Steuerzuschüsse gelten – horribile dictu vielleicht sogar finanziert aus höheren Steuern auf Kapitalerträge. Natürlich sieht auch Mayer die Steuerbelastung an der Grenze der Tragfähigkeit. Dahinter steht das Gespenst eines Scheiterns im internationalen Wettbewerb[3], ungeachtet systematischer Einwände und der Tatsache, dass alle Industrienationen kräftig altern.
Ja, es trifft zu: Die Beitragssätze in Form von Arbeitgeber-, Arbeitnehmer- oder Steuerbeiträgen müssen steigen, wenn bei einem verschlechterten Zahlenverhältnis zwischen Beitragszahlern und Rentnern der Versorgungsgrad der Rentner beibehalten werden soll. Aber mit den Beitragssätzen hat Mayers Milchmädchenrechnung gar nichts zu tun. Sie kommen in seiner Rechnung – insoweit richtigerweise – ja auch gar nicht vor.
Eine Vergrößerung der Zahl der Rentner je Beitragszahler führt bei einem gleichbleibenden Versorgungsgrad mit mathematischer Notwendigkeit immer zu einer Erhöhung der Beiträge, wie niedrig dieser Versorgungsgrad und wie hoch die Steigerung der Produktivität auch angenommen werden mag. Die Produktivitätsentwickung schlägt sich nicht bei den Prozentsätzen, sondern nur bei der Berechnung der absoluten Beträge nieder.[4] Auch aus dieser Richtung gibt es für Mayers Rechnung also keine Rettung.
Im Gegenteil. Mit der Aussage zur von der Bundesregierung proklamierten „doppelten Haltelinie“ eines Rentenniveaus nicht unter 48 Prozent und von Beiträgen nicht über 20 Prozent: „Sie funktioniert ohne Bundeszuschüsse jedoch nur dann, wenn die Einkommen der schrumpfenden Zahl der Beitragszahler so stark steigen, dass sie den Unterhalt der zunehmenden Rentnerschar bezahlen können“, gibt er zu erkennen, dass er die Irrelevanz der Einkommensentwicklung für die Höhe der Beitragssätze bei konstantem Versorgungsgrad (Haltelinie) schlicht nicht erkennt.
Da geht alles durcheinander, Wohlstandsverlust, Beitragssätze, Produktivitätsentwicklung. Es ist ein Artikel, der schlicht ratlos macht. Wenn ich weitere Mängel und Fragwürdigkeiten hier nicht anspreche, bedeutet das nicht, dass sie nicht vorhanden wären. Ich muss mich nur erstmal erholen. Sie vielleicht auch.
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