Friedensordnung

UN-Charta: Herz und Seele jeder neuen Friedensarchitektur

| 23. August 2023

Als sich im Juni 1945 in San Francisco 50 Repräsentanten der alliierten Siegernationen trafen, taten sie etwas Revolutionäres: Sie schufen ein auf gemeinsamen Prinzipien aufbauendes kollektives Sicherheitssystem. Heute ist es wichtiger denn je.

Dieser Artikel ist ein Beitrag für die deutsche Friedensbewegung zum diesjährigen Anti-Kriegstag am 1. September. An diesem Tag vor 84 Jahren überfiel das Deutsche Reich Adolf Hitlers Polen und entfachte damit den Zweiten Weltkrieg.

Die UN-Charta war der Versuch, den beiden schrecklichsten, zerstörerischsten und mörderischsten Kriegen der Menschheitsgeschichte seit der Aufklärung ein Friedenskonzept der Menschlichkeit entgegenzustellen. Erforderten der Erste und Zweite Weltkrieg in heutiger Währung Trilliarden an Dollar, um immer durchtriebenere Waffensysteme des millionenfachen Tötens zu produzieren und einzusetzen, bestand die UN-Charta gerade einmal aus zwanzig Seiten Papier. Damit stand die Kraft der Worte des Friedens den Arsenalen an Waffen des Krieges gegenüber – zwei höchst ungleiche Gegenspieler! Und doch stellen die Prinzipien der UN-Charta und nicht die Apologien der Kriege und militärischen Siege die wirklichen epochalen Errungenschaften der Menschheit dar.

Denn als sich im Juni 1945 in San Francisco 50 Repräsentanten der alliierten Siegernationen trafen, taten sie etwas unglaublich Revolutionäres. Die nach dem Zweiten Weltkrieg entstehende neue Weltordnung sollte nicht mehr, wie noch nach dem Ersten Weltkrieg, durch einen Siegfrieden bestimmt werden. Von nun an sollte ein auf gemeinsamen Prinzipien aufbauendes kollektives Sicherheitssystem den Weltfrieden bewahren.

Alle Nationen, unabhängig ihrer Größe oder ihrer politischen und wirtschaftlichen Systeme, würden daran teilnehmen. Der einigende Gedanke war: Nie wieder Krieg! So ging es in der UN-Charta auch nicht um Rache und Vergeltung – und es wurde nicht mehr zwischen gerechten und ungerechten Kriegen oder Siegern und Besiegten unterschieden. Konflikte zwischen Staaten sollten nur noch durch Verhandlungen und nicht mehr durch militärische Gewalt gelöst werden. Die UN-Charta nahm dadurch beide Seiten eines Konfliktes gleichermaßen in die Verantwortung, eine friedliche Lösung zu finden.

In der UN-Charta verpflichten sich die Mitgliedsstaaten auch zur Gleichberechtigung aller Nationen, der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten, der Einhaltung internationaler Vereinbarungen sowie zur internationalen Kooperation und gegenseitiger Toleranz. Herkömmliche Überlegungen, Kriege durch militärische Gleichgewichte zu verhindern, gibt es nicht mehr. Hingegen legt die UN-Charta das Hauptgewicht für den Erhalt eines Friedens auf fundamentale Menschenrechte und die unantastbare Würde eines jeden Menschen – unabhängig von seiner Herkunft, Geschlecht und Religion – sowie die Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau. Dazu zählt auch das Recht aller Menschen auf sozialen und wirtschaftlichen Fortschritt.

Bedrohung einer sich ‚gegenseitig zugesicherten Vernichtung‘

Und doch wurde die UN-Charta sofort in Frage gestellt. Nur 20 Tage nach der Unterzeichnung der Charta am 26. Juni 1945 und wenige hundert Kilometer vom Tagungsort San Francisco entfernt explodierte in der Wüste von New Mexico die erste Atombombe. Und noch vor dem Inkrafttreten der UN-Charta am 24. Oktober 1945 wurden durch den Abwurf von nur zwei Atombomben auf japanische Städte bis zu einer Viertelmillion Menschen getötet, fast ausschließlich Zivilisten.

Die Jahrtausende alte Überzeugung, dass nur eine militärische Überlegenheit Sicherheit garantieren könne, war so mit einer nie dagewesenen Zerstörungskraft wiedergeboren. Hatten bereits die vorhergegangenen Kriege Weltbrände verursacht, so bestand nun die Möglichkeit, in kürzester Zeit die gesamte Menschheit auszulöschen. Und so bestimmten im Kalten Krieg Atomwaffen und nicht die UN-Charta die internationalen Beziehungen. Die Hoffnung auf einen Frieden, der auf der Zusammenarbeit aller Nationen aufbaut, wurde durch die Bedrohung einer sich ‚gegenseitig zugesicherten Vernichtung‘ ersetzt.

Die große Tragödie unserer Zeit ist es, dass auch mit dem Ende des Kalten Krieges kein Frieden entstand. Dabei waren die Voraussetzungen dafür ausgesprochen gut: Mit der Auflösung des Warschauer Paktes und dem Zusammenbruch der Sowjetunion im Jahr 1991 gab es keine Feinde mehr. Der Weg zu einem in der UN-Charta vorgesehenen weltumspannenden Frieden war nun frei. Anfangs schien es auch so, als im Jahr 1990 die auf der UN-Charta aufbauende Charta von Paris für ein neues friedliches Europa feierlich beschlossen wurde. 

Nur sahen das die Strategen der USA ganz anders. Als Russland im Chaos versank und China geopolitisch noch keine Rolle spielte, waren die USA zur alleinigen globalen Supermacht aufgestiegen. Bereits 1992, also nur einem Jahr nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, wurde die Wolfowitz-Doktrin formuliert: kein kollektives Sicherheitssystem wie das der UN-Charta, sondern allein die USA, gestützt auf ihre militärische, wirtschaftliche und technologische Übermacht, solle die internationalen Regeln bestimmen und durchsetzen.

Die NATO ist kein Verteidigungsbündnis mehr

Die Idee einer ‚regelbasierten Weltordnung‘ war geboren. Es sollte ein neues ‚amerikanisches Jahrhundert‘ werden, wobei die europäischen Staaten durch die NATO in dieses Projekt eingebunden werden würden. So wuchs die NATO von vormals 16 auf heute 32 Mitgliedsstaaten an – und das, obwohl seit der Auflösung des Warschauer Paktes die USA und ihre Verbündeten keiner militärischen Bedrohung ausgesetzt waren. Der Zweck war ein anderer: „Unser erstes Ziel ist, das Wiederauftreten eines neuen Rivalen auf dem Territorium der ehemaligen Sowjetunion oder woanders zu verhindern…“, steht es in der Wolfowitz-Doktrin.  

Damit war auch die NATO kein Verteidigungsbündnis mehr, sondern hatte sich in ein Machtinstrument der Staaten des ‚weißen Nordens‘ unter Führung der USA entwickelt, eines ‚weißen Nordens‘ der heute mit gerade mal 11 Prozent der Weltbevölkerung (Tendenz abnehmend) eine Minderheit ist, aber dennoch das Recht für sich beansprucht, die Welt durch ein weltweites Netz von 700 bis 800 amerikanischen Militärbasen und über 60 Prozent der weltweiten Militärausgaben zu dominieren. Im Vergleich dazu betragen die Rüstungsausgaben Chinas 13 Prozent, die Russlands 4 Prozent und die Indiens 3,6 Prozent der Weltrüstungsausgaben.

War die NATO als Verteidigungsbündnis noch konform mit der UN-Charta, ist sie das heute als das einzig bestehende Militärbündnis der Welt zur Durchsetzung unilateraler Vormachtansprüche nicht mehr. Es nimmt daher nicht Wunder, dass sich gegen die NATO zunehmend Widerstand unter Nicht-NATO Staaten formiert. So gesehen ist auch der Ukrainekrieg, in dem es darum geht, eine weitere Ausweitung der NATO in die Ukraine und Georgien zu verhindern, ein Ausdruck dieses Widerstands. Das betrifft in erster Linie Russland. Es erklärt aber auch, warum es in Asien, in Afrika, dem Mittleren Osten und in Lateinamerika trotz Russlands illegaler Intervention keine Unterstützung für die westliche Ukrainepolitik einer NATO-Ausweitung gibt.

Die politisch-militärischen Spannungen zwischen den USA und der NATO einerseits und Russland und China anderseits scheinen heute einen Höhepunkt erreicht zu haben, den es so nicht einmal in den Zeiten des Kalten Krieges gab. Es gibt eine sich immer schneller drehende Spirale neuer Sanktionen und Wirtschaftsblockaden. Gleichzeitig haben die globalen Militärausgaben ein noch nie dagewesenes Niveau erreicht – und steigen weiter. Nuklearwaffen werden „modernisiert“, um „intelligenter“ zu werden. Neue Hyperschall-Raketensysteme und Tarnkappenkampfjets sollen sie „sicher“ ins Ziel bringen. Es gibt immer mehr autonome Waffensysteme, die ohne menschliches Zutun operieren und mit Stealth-Technologien und künstlicher Intelligenz ausgerüstet sind. Auch gibt es Vorbereitungen, zukünftig Cyber- und Weltraumkriege führen zu können. Eine Situation, in der der Mensch die Kontrolle über militärische Entscheidungen verliert, scheint immer realer zu werden.

Hin zu einer Weltordnung, für die die UN-Charta konzipiert ist

Dabei sind die drückenden Probleme der Menschheit ganz andere: die Erwärmung der Erdatmosphäre, der steigende Meeresspiegel, die Verwüstung riesiger Regionen, der Mangel an Wasser, und immer noch eine grassierende Armut und weit verbreitete Unterernährung. Hinzu kommen anschwellende Flüchtlings- und Migrantenströme, sich ausbreitende Slums, tödliche Epidemien, begrenzte Rohstoffe und innerstaatliche Konflikte. Keine dieser Probleme werden sich mit Panzern, Raketenwerfern oder gar Massenvernichtungswaffen lösen lassen.

Das Zerstörungspotential moderner Waffensysteme ist für eine immer enger zusammenrückende Welt viel zu groß geworden, als dass es noch eine rationale Wahl zwischen einer Sicherheit durch Waffen oder einem Frieden durch Zusammenarbeit gäbe. Vielleicht könnten das sinnlose Töten und Zerstören im Ukrainekrieges der Auslöser sein, um zu erkennen, dass es eine Friedensordnung braucht, die nicht auf militärische Überlegenheit und mächtige Militärblöcke baut, sondern die auf den Prinzipien der UN-Charta beruht.

Die UN-Charta ist und bleibt Ausdruck der Hoffnung auf Frieden. Sie ist inzwischen von einer Vielzahl an internationalen Konventionen und Vereinbarungen zu fast allen Aspekten des menschlichen Zusammenlebens umgeben, angefangen von Menschenrechten bis zum Klimaschutz sowie zu faireren humanitären, sozialen und wirtschaftlichen Beziehungen in der Welt. Ihnen ist gemein, dass sie auf die Gewaltlosigkeit zwischen Staaten, der souveränen Gleichheit aller ihrer Mitglieder und der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung aller Menschen setzen.

So ist das Problem auch nicht die UN-Charta, sondern der Umstand, dass vier der fünf Vetomächte im UN-Sicherheitsrat – und damit die eigentlichen Garanten der UN-Charta, die USA, Großbritannien, Frankreich und nun auch Russland – diese wiederholt verletzt und illegale Kriege geführt haben. Diese vier Vetomächte sind alle Staaten des ‚weißen Nordens‘, drei von ihnen sind sogar führende Staaten der NATO.

Um einen zukünftigen Weltfrieden zu sichern, wird sich das ändern müssen. Den Ländern des ‚globalen Südens‘ muss ein größeres Mitsprache- und Entscheidungsrecht im UN-Sicherheitsrat eingeräumt werden. Eine Konsequenz des Ukrainekrieg ist bereits, dass sich die globale Position des ‚Globalen Südens‘ verstärkt hat, während dem westlichen Drang nach einer von ihnen dominierten Weltordnung die Grundlage entzogen wird. Ein unvorhergesehenes positives Ergebnis des Ukrainekrieges könnte sein, dass er zu einer gerechteren multipolaren Weltordnung führen wird – einer Weltordnung, für die die UN-Charta ursprünglich konzipiert war.  

Auch der Ukrainekrieg wird eines Tages zu Ende gehen. Und wir werden uns wieder um eine neue Friedensordnung bemühen müssen, um „künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren“.  Eine friedliche und faire Welt für die bald 10 Milliarden Erdbewohner, von denen 9 Milliarden aus dem ‚Globalen Süden‘ kommen werden, muss auf den Prinzipien der UN-Charta aufgebaut werden.