„Was geht mich das Kind im Kongo an?“
Gibt es internationale Hilfspflichten? Wenn ja, wie weit gehen sie? Die meistdiskutierte Antwort stammt von Peter Singer.
Im letzten Artikel hat Sophie Lukas eine minimale Forderung globaler Gerechtigkeit erläutert: Wir dürfen Menschen anderer Nationen keinen Schaden zufügen. Als weitere basale Norm gilt die Pflicht zur Hilfe in existenzieller Not.
„Peter Singers Antwort beginnt mit einem einfachen Beispiel: Stelle dir vor, du kommst auf dem Weg zur Schule an einem Teich vorbei. Aus dem Teich hörst du ein Kind schreien. Du gehst an den Teich heran und stellst fest: das Kind ist am Ertrinken. Niemand anders ist zu sehen. Du bist der Einzige, der helfen kann. Das Kind ist glücklicherweise leicht zu retten, denn es befindet sich immer noch nahe am Ufer. Du musst nur ein paar Schritte in den Teich gehen und das Kind herausziehen. Deine Kleidung wird nass werden und du wirst zu spät kommen. Aber steht das in einem Verhältnis zu einem toten Kind?“
„Ganz bestimmt nicht!“
„Ich denke, die moralische Verpflichtung ist klar und ich bin mir sicher, du würdest das Kind retten. Ich glaube, die meisten Menschen würden so reagieren.“
„Das denke ich auch. Aber was hat das mit armen Ländern zu tun?“
„Ganz einfach: Peter Singer nimmt an, dass es zwischen dem Kind im Teich und einem verhungernden Kind in der dritten Welt moralisch keinen wesentlichen Unterschied gibt. Die Verpflichtung, zu helfen, ist in beiden Fällen gleich groß.“
„Da werden viele einwenden, dass es hier doch ein paar Unterschiede gibt. Zum Beispiel gibt es nicht nur ein verhungerndes Kind, sondern tausende. Und die kann ein Einzelner nicht alle retten.“
„Das ist der erste einer Reihe von verbreiteten Einwänden. Zu engagierten Menschen wird manchmal gesagt: ‚Spar dir doch die Mühe. Du kannst nicht die ganze Welt retten.‘ Dieser Einwand ist aber offensichtlich sehr schwach. Stellen wir uns vor, in dem Teich wäre nicht nur ein Kind, sondern fünfzig ertrinkende Kinder. Es wäre unmöglich für dich, alle fünfzig zu retten. Aber wäre es deshalb in Ordnung, einfach vorbei zu gehen? Für Singer ist klar, dass dies nicht der Fall ist. Wenn noch mehr Kinder im Teich sind, bedeutet dies nicht, dass ich mit einem Mal kein Kind mehr retten sollte.“
„Dann wird man Singer entgegnen: Während ich alleine vor dem Teich stehe, gibt sehr viele Menschen, die dem hungernden Kind in der dritten Welt auch helfen könnten. Warum soll ich helfen, wenn andere es nicht tun?“
„Auch das ist eine verbreitete Reaktion. Ändern wir das Teichbeispiel noch einmal etwas ab: In dem Teich sind nicht nur fünfzig ertrinkende Kinder, sondern auf der Wiese an dem Teich spielt eine Gruppe von Hooligans Fußball. Kräftige Männer in kurzen Hosen und T-Shirts. Sie könnten die Kinder leicht retten. Jeder von ihnen fischt drei heraus. Aber die Kinder interessieren sie nicht. Du rufst sie zur Hilfe aber sie winken ab und zeigen dir den Stinkefinger. Ignoranten von der schlimmsten Sorte. Wäre es jetzt in Ordnung, vorbeizugehen und die Kinder ertrinken zu lassen? Singer sagt nein. Die Pflicht, zu helfen, bleibt bestehen. Auch dann, wenn andere nicht helfen, für die das viel einfacher wäre.“
„Dann wird man antworten, dass das verhungernde Kind tausende Kilometer entfernt ist. Man wird zu Singer sagen: Mit diesem Kind in der dritten Welt habe ich nichts zu tun.“
„Das ist der dritte Standardeinwand. Macht räumliche Entfernung moralisch einen Unterschied? Auch dies verneint Singer. Er begründet dies mit der Universalität von moralischen Verpflichtungen. Wenn wir annehmen, dass die Menschenrechte überall auf der Welt gelten oder wenn wir glauben, dass alle Menschen gleichwertig sind, dann spielt räumliche Distanz moralisch keine Rolle.“
„Aber es ist doch viel komplizierter für einen Einzelnen, jemandem Hilfe zu leisten, der in weiter Entfernung lebt, als ein paar Schritte in den Teich zu gehen!“
„Das ist ohne frage richtig. Wenn ich dem Kind gar nicht helfen kann, ist die Pflicht, zu helfen, hinfällig. Die Antwort hängt also auch davon ab, ob ich dem hungernden Kind überhaupt helfen kann oder nicht. Doch dies ist nach Singer sehr wohl möglich, wenn ich meine Hilfe mit der Hilfe anderer verbinde: Was für einen Einzelnen unmöglich ist, ist für eine organisierte Gruppe sehr wohl möglich. Zu solchen Gruppen gehören Hilfsorganisationen. Man kann sich an der Hilfe beteiligen, indem man ihnen Geld spendet, über sie informiert oder für eine Hilfsorganisation arbeitet.“
„Ich habe gehört, dass Hilfsorganisationen hohe Verwaltungskosten haben. Von dem gespendeten Geld bekommt zuerst einmal eine Sekretärin etwas.“
„Auch dieser Einwand ist offenbar nicht sehr stark: Verwaltungskosten sind bei der Hilfe unausweichlich. Das Einsammeln und Verteilen von Geld muss organisiert werden. Entscheidender als die Verwaltungskosten ist nach Singer, wie viel effektiv geholfen wird. Auch wenn die Verwaltungskosten einer Hilfsorganisation relativ hoch sind, bedeutet dies nicht, dass sie keine wirksame Hilfe leistet. Worauf es ankommt, ist, wie sehr das Leben wie vieler Menschen verbessert wird. Hier führt Singer folgenden Vergleich an: Die Ausbildung eines Blindenhundes kostet ca. 40.000 Dollar. Damit kann einem blinden Menschen der Alltag erleichtert werden. Eine Hilfsorganisation, die Medikamente gegen Trachome verteilt, kann einen Blinden mit 25 bis 50 Dollar heilen. Mit 40.000 Dollar kann diese Hilfsorganisation also zwischen 400 und 2000 Menschen wirksam helfen. Es ist demnach gut möglich, dass eine Organisation mit hohen Verwaltungskosten mehr Menschen helfen kann als eine Organisation mit geringen Verwaltungskosten. Es kommt demnach nicht auf die Höhe der Verwaltungskosten an, sondern darauf, was diese Organisation effektiv leistet.“
„Und woher soll ich wissen, ob die Organisation überhaupt Hilfe leistet und das Geld nicht veruntreut wird?“
„Auch diese Frage ist verständlich und wichtig, weil es zweifellos Veruntreuung gegeben hat – auch von Menschen, die mit Singers Ethik geworben haben.
Natürlich kann man ein solches Risiko nie restlos ausschließen. Singer verweist hier auf Organisationen, die Hilfsorganisationen überprüfen wie Give Well. Give Well bewertet Hilfsorganisationen nicht nach den Verwaltungskosten, sondern primär nach der effektiven Hilfe, die für einen bestimmten Betrag geleistet wird: Die Anzahl von verteilten Medikamenten gegen Wurmbefall oder Netzen zur Prävention von Malaria. Laut Give Well retten 5.500 Dollar statistisch ein Menschenleben durch Malarianetze, die von der Against Malaria Foundation verteilt werden. Diese Organisation wird von Give Well seit vielen Jahren begutachtet.“
„Gut, nehmen wir an, Singer hat Recht: Jeder, der kann, ist verpflichtet, zu helfen. Dann bleibt noch die Frage, wie viel er helfen sollte. Hin und wieder ein bisschen Kleingeld in die Spendendose oder mehr?“
„Jetzt lasse ich Peter Singer mal persönlich zu Wort kommen. Ich zitiere seine zentrale These: ‚Wenn es in unserer Macht steht, etwas sehr Schlechtes zu verhindern, ohne dabei etwas anderes von vergleichbarer moralischer Bedeutung zu opfern, so sollten wir dies, moralisch gesehen, tun.‘“
„Das klingt sehr allgemein. Was meint Singer mit ‚vergleichbarer moralischer Bedeutung‘?“
„Von vergleichbarer moralischer Bedeutung wäre, wenn ich mich bei der Rettung des Kindes im Teich in Lebensgefahr begebe. Das muss ich nach dieser These nicht tun. Nicht von vergleichbarer moralischer Bedeutung wäre natürlich meine schmutzige Kleidung oder dass ich zu spät komme. Ebenfalls nicht von moralisch vergleichbarer Bedeutung wäre für Singer, dass ich meinen Flug in den Urlaub verpasse, wenn ich das Kind aus dem Teich ziehe. Das Leben, das das Kind noch vor sich hat, ist von größerer moralischer Bedeutung als meine nächste Urlaubsreise. Hier wird deutlich, dass Singers These für Menschen, die im Wohlstand leben, sehr weitreichende Konsequenzen hat. Je mehr ein Mensch besitzt, um so größer sind die finanziellen Konsequenzen: Er sollte ein wesentlich bescheideneres Leben führen. Die teure Urlaubsreise steht in direkter Konkurrenz zur Rettung eines Kinds durch Spenden für eine effektive Hilfsorganisation. Ihm zu helfen ist seine Pflicht.“
„Das klingt für viele sicher sehr ungewohnt. Spenden ist für sie keine Pflicht, sondern etwas Freiwilliges.“
„Das ist eine zentrale Schlussfolgerung Singers: Wohltätigkeit ist nicht freiwillig, sondern eine Pflicht. Die Hilfe für Arme als moralische Pflicht ist in den religiösen Traditionen der Welt aber nicht ungewohnt, sondern eine verbreitete Norm. Singer, der selbst Atheist ist, führt als Beleg das Christentum und den Kirchenlehrer Thomas von Aquin an, der dazu schrieb:
‚Nach der Ordnung der Natur ist aber von der göttlichen Vorsehung her bestimmt, dass die niederen Dinge dazu da sind, der menschlichen Bedürftigkeit aufzuhelfen. […] Daher ist der Überfluss, den einige haben, auf Grund des Naturrechtes dem Unterhalt der Armen geschuldet.‘
So sagt Ambrosius – und das Wort ist auch in den Dekreten zu finden:
‚Es ist das Brot der Hungrigen, das du festhälst; das Kleid der Nackten, das du verschließest; der Loskauf der Elenden und ihre Befreiung ist das Geld, das du in der Erde vergräbst.‘
Thomas geht so weit, zu sagen, dass es moralisch kein Diebstahl ist, wenn sich ein Notleidender Eigentum eines anderen nimmt. Die Solidarität mit den Armen war auch für Franziskus und die Franziskanermönche eine zentrale Norm. Leider haben die Kirchen aber auch oft genau das Gegenteil getan und große Reichtümer angehäuft.“
„Ich habe noch einen weiteren Einwand: Wenn die Bevölkerungen der reichen Länder so viel spenden würden, würde dies ihrer eigenen Wirtschaft schaden. Dann hätten die reichen Länder aber weniger Ressourcen, anderen zu helfen.“
„Das ist für Singer ein Trugschluss. Denn je mehr Menschen spenden, desto weniger Spenden sind notwendig. Wenn sich alle an der Hilfe beteiligen würden, bräuchte man nur noch einen geringen Teil des Einkommens der Industrienationen, um der extremen Armut, dem Hunger und leicht heilbaren Krankheiten in der Welt ein Ende zu setzen. Wenn so viele Menschen bereit wären, zu helfen, würde sich auch die Politik ändern. Staaten haben aber viel mehr Möglichkeiten, zu helfen, als kleine Hilfsorganisationen.“
„Reicht es dann nicht, den Anteil zu geben, der notwendig ist, wenn alle spenden würden?“
„Nicht für Singer. Das Problem ist, dass das nicht alle tun. Und solange ich mir nicht selbst schade, ist es nun mal so, dass mein Verzicht für andere eine existenzielle Hilfe bedeutet.“
„Das klingt sehr lobenswert. Mir scheint aber auch, dass eine solche Ethik für viele Menschen abschreckend ist. Sie fühlen sich vielleicht auch überfordert.“
„Singer ist sich darüber im Klaren, dass das schwer ist. Doch dass es schwer ist, ein moralisch gutes Leben zu führen, ändert für ihn nichts an dem, was moralisch richtig ist. Um von seiner Ethik nicht abzuschrecken, hat er manchmal empfohlen, einen Anteil von 10 Prozent zu spenden. Damit richtet er sich natürlich nicht an Sozialhilfeempfänger. Bei großen Einkommen sind 10 Prozent für ihn hingegen moralisch eigentlich deutlich zu wenig.
Anderen zu helfen sollte nach Singer aber auch nicht als eine Last empfunden werden. Er sieht darin vielmehr eine Bereicherung und eine Möglichkeit, seinem Leben einen tieferen Sinn zu geben. Er verdeutlicht dies an Menschen, die diese Ethik für sich in Anspruch nehmen. Sie nennen sich effektive Altruisten. Sie verdienen häufig sehr gut und geben an, 20, 30 oder 50 Prozent ihres Einkommens zu spenden. Toby Ord, ein englischer Philosoph, hat ausgerechnet, dass er im Laufe seiner Karriere als Wissenschaftler achzigtausend Menschen von der Blindheit heilen kann. Das sei ihm wichtiger als ein luxuriöses Leben und dafür müsse er keineswegs wie ein Mönch leben.“
„Das finde ich sehr beachtlich. Dennoch würde ich gerne noch etwas tiefer darüber nachdenken. Liegt es nicht vielleicht auch an einem berechtigten Gefühl sozialer Verunsicherung, dass Menschen Vorbehalte gegen Singers Altruismus haben? Zumindest was den Umfang der geforderten Hilfspflichten betrifft?“
„Wir werden uns als nächstes mit Reaktionen anderer Philosophen auf Singers Position befassen. Wie versprochen aber auch auf die Position Pogges, über den wir letztes Mal gesprochen hatten. Für Pogge hat die Hilfe noch eine andere Dimension, weil wir dem Kind im Kongo bis heute nicht nur nicht helfen, sondern auch Schaden zufügen. Danach sollten wir den Kosmopolitismus und den Kommunitarismus angehen.“
„Darauf bin ich gespannt.“
Im nächsten Artikel werden Gegenpositionen zu Pogge und Singer diskutiert.
Für den 1. Oktober ist das Buch zu Lukas im Promedia-Verlag vorangekündigt: „Die blinden Flecken der Demokratie. Eine Entdeckungsreise in die politische Ideengeschichte.“