Genial daneben

Mehr arbeiten, sonst …

| 14. August 2024
IMAGO / imagebroker/theissen

Deutschland verliert an Wettbewerbsfähigkeit, ruft Kassandra. Doch die Lösung soll nicht darin bestehen, Unternehmen mit zukunftsfähigen Schlüsseltechnologien zu stärken, oder die insgesamt zu knappen Investitionen zu steigern, sondern die Sozialstandards zu senken.

Der sozialpolitische Wind weht in Deutschland wieder kälter. Das Werben um die knappen Beschäftigten mit attraktiven Arbeitsbedingungen wird zunehmend durch andere Stimmen abgelöst, die meinen, es müsse wieder mehr gearbeitet werden. Manchmal werden dazu Daten des Statistischen Bundesamtes zitiert, wonach 2023 in Deutschland 34,4 Wochenarbeitsstunden geleistet wurden, in der EU27 dagegen 36,9. Der Untergang des Abendlandes in den Grenzen des deutschen Freizeitparks, von wirtschaftsnahen Stimmen gefühlt und statistisch belegt.

Dass das Statistische Bundesamt ausdrücklich darauf hinweist, dass die durchschnittliche Wochenarbeitszeit maßgeblich durch die Teilzeitquote mitbestimmt wird und die Wochenarbeitszeit der Vollzeitbeschäftigten seit 30 Jahren recht unverändert ist, fällt dann schnell unter den Tisch. Ebenso, dass die Gesamtzahl der Arbeitsstunden in Deutschland 2023 mit fast 62 Millionen Stunden sogar etwas höher lag als vor 30 Jahren mit gut 60 Millionen Stunden. Die Arbeitsproduktivität ist in dieser Zeit auch gestiegen. Das Jahr 2015 als statistische Basis genommen, ist der Index der Arbeitsproduktivität je Erwerbstätigem von 95,14 im Jahr 2005 auf 101,30 im Jahr 2023 gestiegen. Aber auch hier gibt es Alarmrufe, 2022 lag der Index nämlich bei 102,23 – ein Allzeithoch.

Die höchste Wochenarbeitszeit unter den vom Statistischen Bundesamt gelisteten europäischen Ländern hatte übrigens Serbien mit 42,5 Stunden, die niedrigste die Niederlande mit 31,3 Stunden. Ob die Niederlande damit gegenüber Serbien noch wettbewerbsfähig sind?

In der Süddeutschen Zeitung war am 14. August ein Interview mit dem Chef der Munich-Re, dem weltgrößten Rückversicherer. Joachim Wenning hat sich dort vehement dafür ausgesprochen, mehr zu arbeiten. Man müsse „Arbeits- und Leistungsanreize“ stärken. Und wie geschieht das? Nach Wenning zum Beispiel durch längere Arbeitszeiten, weniger Feiertage und einen späteren Renteneintritt. Außerdem solle der Kündigungsschutz für Ältere gelockert werden:

„De facto zwingt er Unternehmen, Mitarbeiter weiterzubeschäftigen, mit denen es nicht weiterarbeiten möchte. Wie absurd ist das?“

Die älteren Beschäftigten sollen also zur Not eine geringer entlohnte Arbeit oder Arbeitslosigkeit akzeptieren, und zugleich später in Rente gehen. Damit lassen sich vielleicht Sozialausgaben zu Lasten der Beschäftigten senken, aber solche „Anreize“ sind doch etwas einseitig an den Interessen der Unternehmen orientiert.

Natürlich gibt es auch hier Länder, die es aus Sicht der Unternehmen besser machen. Wenning verweist auf die Schweiz, die keinen Kündigungsschutz für Ältere kenne. Immerhin hat er nicht Länder wie den Sudan oder den Kongo angeführt, dort besteht gewiss noch mehr unternehmerische Freiheit.

Joachim Wenning nennt noch einen anderen Grund, warum wir mehr arbeiten müssen:

„Weil uns die Demografie ansonsten noch mehr Wettbewerbsfähigkeit und Lebensstandard kostet. In der Vergangenheit haben wir uns Minderarbeit durch überlegene Technologie und höhere Produktivität verdient. Die Schlüsseltechnologie von heute ist die Datentechnologie. In dieser sind Deutschland und Europa den USA und China weit unterlegen. Deshalb müssen wir wieder mehr arbeiten und leisten. Sonst gehen die Produktionsstätten ins Ausland.“

Die Lösung besteht also nicht darin, Unternehmen mit zukunftsfähigen Schlüsseltechnologien zu stärken, die nach Einschätzung vieler Ökonomen insgesamt zu knappen öffentlichen und privaten Investitionen in Deutschland zu steigern, sondern die Sozialstandards zu senken? Und indem man Sozialstandards senkt, bleibt der Lebensstandard erhalten? Wessen Lebensstandard genau? Die Logik wird hier etwas holprig.

Zudem mangelt es Deutschland bisher nicht wirklich an Wettbewerbsfähigkeit. Deutschland hat viele Jahre durch niedrige Löhne und damit Verzicht auf Binnennachfrage, billige russische Energie und die Erschließung des chinesischen Marktes hohe Leistungsbilanzüberschüsse erzielt und andere Länder unter erheblichen Wettbewerbsdruck gesetzt. Dieses Modell ist in der Krise, aber ob Deutschland nun nicht mehr wettbewerbsfähig ist? Dem Monatsbericht März 2024 der Deutschen Bundesbank zufolge ist der deutsche Leistungsbilanz-Überschuss 2023 deutlich gestiegen, um 78,5 Milliarden auf 243 Milliarden Euro. Der Anstieg bewegt sich in der Größenordnung des Bruttoinlandsprodukts Thüringens.

Mehr öffentliche Aufmerksamkeit hatte jedoch eine Meldung erfahren, Deutschlands Wettbewerbsfähigkeit habe sich dem Ranking einer Schweizer Hochschule zufolge gegenüber dem Vorjahr um zwei Rangplätze verschlechtert. Es läge jetzt nur noch auf Platz 24, vor 10 Jahren sei es Platz 6 gewesen. Kassandra lässt grüßen, aber schon die mittelalterlichen Scholastiker wussten, dass es auf der Spitze einer Nadel eng zugeht und die Frage, wie viele Engel dort Platz haben, nicht einfach zu beantworten ist. Wenn alle Länder nach den ersten Rängen streben, spiegelt das zwar Wettbewerbsgeist wider, aber es können einfach nicht alle ganz vorne sein. Die Logik gestattet es nicht. Warum ist eigentlich Platz 24 nicht ausreichend?

Nicht, dass die Wettbewerbsfähigkeit keine Rolle spielen würde oder Trends der Wettbewerbsfähigkeit irrelevant wären, das wäre sicher falsch, aber vielleicht braucht man als gesellschaftliche Zielvorstellung doch etwas mehr als einen vorderen Rangplatz im Ranking einer Schweizer Hochschule. Nachhaltigkeit, Lebensqualität, Familienzeit, gute Schulen, bezahlbarer Wohnraum und solche Dinge gehören dazu. Dafür lohnt es sich dann auch, mehr zu arbeiten, falls es nötig ist.