Tod von Gorbatschow

Wie der Westen Gorbatschow verriet und den Ukraine-Konflikt schürte

| 06. September 2022

Die Lobeshymnen unserer Politiker auf Michail Gorbatschow sind wohlfeil. Es war der Westen, der Gorbatschows Vision letztlich verraten hat. Die große Verliererin ist Europa.

Seit dem Tod von Michail Gorbatschow am 30. August überschlagen sich die Lobeshymnen der westlichen Staats- und Regierungschefs. Doch die Lobpreisungen verschleiern, wie der Westen Gorbatschow nach seinem Sturz verraten hat – und wie dieser Verrat den Ukraine-Konflikt auslöste.

Die Geschichte ist kompliziert. Hinter dem Sturz Gorbatschows stehen Hardliner der Kommunistischen Partei, so dass die Probleme, die Russland in der Folgezeit zu schaffen machten, auch in erheblichem Maße auf russisches Handeln zurückzuführen sind. Gorbatschow selbst strebte eine europäisch-russische Partnerschaft für Frieden, Wohlstand und Demokratie an. Doch nach seinem Sturz brach der Westen das Handschlag-Abkommen mit Gorbatschow.

Hommage an Gorbatschows inspirierende Vision

Bevor wir uns den Einzelheiten dieses Verrats zuwenden, ist eine Würdigung Gorbatschows gerechtfertigt. Gorbatschow wollte die Sowjetunion von einem geschlossenen, repressiven in ein offenes, beratendes sozialistisches System verwandeln, das Teil der europäischen Familie sein sollte. Dieses Bestreben wurde als Glasnost (Offenheit) bezeichnet und durch die Reformbewegung Perestroika vorangetrieben.

Diese Vision ist in seiner historischen Rede vor dem Europarat im Jahr 1989 dokumentiert. Dort forderte er Westeuropa auf, sich mit der Sowjetunion zusammenzuschließen, um ein offenes, brüderliches und wohlhabendes Europa zu schaffen, das die Feindseligkeiten des Kalten Krieges überwindet:

"Wir sind davon überzeugt, dass sie ein Europa brauchen, das friedlich und demokratisch ist, ein Europa, das seine ganze Vielfalt und seine gemeinsamen humanistischen Ideen bewahrt, ein wohlhabendes Europa, das seine Hände nach der übrigen Welt ausstreckt. Ein Europa, das zuversichtlich in die Zukunft schreitet. In einem solchen Europa sehen wir unsere eigene Zukunft".

Tragischerweise sollte seine Vision nicht Wirklichkeit werden. Stattdessen wurde sie durch die Spirale der Ereignisse zunichte gemacht, die durch den Staatsstreich von 1991, die Feindseligkeit der USA und die Naivität der westeuropäischen Staatschefs in Gang gesetzt wurde.

Der kommunistische Staatsstreich von 1991

Der Untergang von Gorbatschows Vision begann mit dem Putsch vom 19. August 1991. Die Hardliner der Kommunistischen Partei wollten den Reformprozess der Perestroika stoppen. Obgleich sie scheiterten, setzte der Putsch Kräfte frei, die die Sowjetunion auseinanderrissen und Gorbatschows politischen Untergang einleiteten.

Schon am 24. August verkündete die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik ihre Unabhängigkeit, gefolgt von einer ähnlichen Erklärung der Weißrussischen Republik am 25. August. Am 27. August erklärte der moldawische Oberste Sowjet seine Unabhängigkeit, am 30. August spaltete sich der aserbaidschanische Oberste Sowjet ab und am 31. August der kirgisische Sowjet. Es gab fünfzehn Räterepubliken. Bis November hatten mit Russland, Kasachstan und Usbekistan nur drei von ihnen noch nicht ihre Unabhängigkeit erklärt. Gorbatschow hatte fortan keine Sowjetunion mehr zu leiten und trat am 25. Dezember 1991 als Präsident zurück. Am nächsten Tag erklärte der Oberste Sowjet sich selbst und die Sowjetunion für nicht mehr existent.

Der gescheiterte Putsch wirkte insofern wie ein Brandbeschleuniger, als die Führer der kommunistischen Republiken nun die Gelegenheit sahen, sich über den Weg der Unabhängigkeit an den lukrativen Staatskonzernen zu bereichern. In Russland gewann Boris Jelzin, der Präsident der Russischen Sowjetrepublik war, das Rennen.

Osterweiterung der NATO

Selbst nach der Auflösung der Sowjetunion, dem Desaster der wirtschaftlichen Schocktherapie und der Ausplünderung Russlands hätte die Vision Gorbatschows noch verwirklicht werden können. Der finale Schlag folgte in Gestalt der NATO-Osterweiterung.

Der letzte US-Botschafter in der Sowjetunion Jack Matlock Junior hatte ein entscheidendes Detail dokumentiert, dass das Ende des Kalten Krieges durch Gorbatschow überhaupt erst ermöglicht hatte: die Vereinbarung, dass es keine Osterweiterung der NATO über die Einbindung Ostdeutschlands hinaus geben sollte. Diese per Handschlag getroffene Abmachung war für das nationale Sicherheitsempfinden Russlands zentral.

Doch nach dem Zerfall der Sowjetunion nutzte der Westen die Schwäche Russlands aus, um die NATO bis an seine Westgrenzen zu erweitern. Das Ergebnis war die Zerstörung der Vertrauensbasis und die Schaffung eines dauerhaften Anlasses für russische Sicherheitsbedenken.

Die NATO war als Verteidigungsbündnis ein Kind des Kalten Krieges. Es ist nachvollziehbar, dass sie auch nach dem Zerfall der Sowjetunion weiter Bestand hatte. Die Osterweiterung aber war ein eindeutig aggressiver Akt, der die Sicherheitslage der ursprünglichen NATO-Mitgliedstaaten lediglich verschlechtert hat. Die neuen Mitglieder verfügten nur über geringfügige militärische Mittel, brachten aber alle ein massives Konfliktrisiko mit sich. Fast alle hatten keine demokratischen Traditionen, eine lange Geschichte politischer Intoleranz, eine Geschichte von Konflikten mit Russland und waren intolerant gegenüber ethnischen Russen innerhalb ihrer Grenzen. Ihr Beitritt zur NATO bedeutete, dass sich die ursprünglichen Mitgliedstaaten verpflichteten, Länder zu verteidigen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit in einen Konflikt mit Russland geraten würden.

Feindselige USA

Dennoch war die Osterweiterung der NATO vom Standpunkt der USA aus gesehen stets zweckmäßig. Vor allem unter der neokonservativen Doktrin, die besagt, dass die USA eine globale Hegemonie ausüben sollten: kein Land sollte mehr in der Lage sein, die USA herauszufordern, wie es einst die Sowjetunion konnte. Russland hatte diese Macht immer noch, was es in den Augen der Neokonservativen zu einer ständigen Bedrohung werden lässt.

Des weiteren sind die USA durch den Atlantischen und den Pazifischen Ozean geschützt. Folglich erleiden sie nie direkte Schäden oder Rückwirkungen von Konflikten, die sie selbst auslösen. In Anbetracht dessen war die Osterweiterung der NATO für die USA nahezu kostenneutral.

Und schließlich stellte Gorbatschows Vision eines europäisierten Russlands eine fundamentale Bedrohung für die (militärische und wirtschaftliche) Hegemonie der USA dar, denn sie versprach, Westeuropa und Russland zu einer gemeinsamen Sache zu machen. Das machte Gorbatschows Vision strategisch subversiv.

Europäische Naivität

Auf der anderen Seite hat Europa durch die unverwirklichte Vision Gorbatschows viel verloren. Erstens leidet Europa unter den direkten Schäden und Rückwirkungen von Konflikten. Das haben die Konflikte in Bosnien, Serbien, Irak, Libyen, Syrien und Afghanistan gezeigt, und der Ukraine-Konflikt zeigt es erneut.

Zweitens hat Europa eine große wirtschaftliche Chance ausgeschlagen, indem es der strategischen Führung der USA gefolgt ist. Russland und Westeuropa sind eine geradezu himmlische wirtschaftliche Liaison. Russland hat natürliche Ressourcen und braucht Kapital. Europa hat Kapital und braucht natürliche Ressourcen. Beide verfügen über wissenschaftliches Know-how und gebildete Bevölkerungen.

Drittens hat die NATO-Osterweiterung ein trojanisches Pferd der USA geschaffen, das Europa im 21. Jahrhundert zu destabilisieren verspricht. Die neuen Mitgliedstaaten sind den USA gegenüber loyaler als gegenüber Westeuropa. Polen hat das wiederholt unter Beweis gestellt. Es hat US-Militär- und Zivilflugzeuge anstelle von europäischen Flugzeugen gekauft und hat nun eine autonome US-Militärbasis in großem Ausmaß in Polen eingerichtet.

Vor allem Frankreich und Deutschland, die an der Spitze Europas stehen, sind für das Scheitern Europas verantwortlich. Sie haben es versäumt, ein unabhängiges europäisches geopolitisches Projekt zu entwickeln. Dieses Scheitern könnte auch auf die Vereinnahmung der europäischen Führung durch die USA zurückzuführen sein – eine Art " Manchurian Candidate"-Effekt – der sich in den Karrierewegen und Lebensläufen der führenden Politiker widerspiegelt.

Epitaph

Michail Gorbatschow wollte nie den Zusammenbruch der Sowjetunion oder das Ende des Sozialismus. Er wollte ein neues Kapitel für Russland aufschlagen und die Schrecken des 20. Jahrhunderts hinter sich lassen. Er ritt auf dem Bären in der Hoffnung eines hehren gesellschaftlichen Wandels, doch der Bär warf ihn ab.

Selbst nachdem er abgeworfen wurde und die Sowjetunion untergegangen war, wäre seine Vision eines in ein friedliches und demokratisches Europa eingebetteten Russlands vielleicht noch möglich gewesen. Dazu bedurfte es jedoch des guten Willens der USA und einer intelligenten europäischen Führung - beides war (und ist) nicht vorhanden.

Deshalb sind die Lobeshymnen der amerikanischen und europäischen Politiker wohlfeil. Diese Staatschefs repräsentieren das politische Establishment, das Gorbatschows Vision letztlich verraten hat, und dieser Verrat erklärt, warum er heute in seinem Heimatland ein gemiedener Mann ist.