Bullshit in der Sozialpolitik
In der Gesundheits- und Sozialpolitik herrscht allgemeine Perspektivlosigkeit. Der Reformbedarf wächst, aber die in der öffentlichen Debatte diskutierten Konzepte betreten ausgelatschte Pfade.
Als Makroskop-Autor hat man ein ständiges Problem. Immer wieder werden politische Leichen ausgegraben und als effektive wirtschafts- und sozialpolitische Instrumente verkauft, deren Unsinn man schon mehrfach belegt hat. Diese Faktenresistenz zeigt sich mal wieder bei der aktuellen Phrasendrescherei über einen angeblich nicht mehr bezahlbaren Sozialstaat.
Die Frankfurter Allgemeine hat Mordanzeige erstattet: „Der Sozialstaat erwürgt das Wachstum“ (1.9. 2025). Friedrich Merz verkündete auf dem Landesparteitag der CDU Niedersachsen am 24. August: „Der Sozialstaat, wie wir ihn heute haben, ist mit dem, was wir volkswirtschaftlich leisten, nicht mehr finanzierbar.“
Die Arbeitsministerin Bärbel Bas hat diese Behauptung auf einer Juso-Konferenz am vergangenen Wochenende in Gelsenkirchen zu Recht als „Bullshit“ bezeichnet, ein Wort, für das sie sich gleich entschuldigte, wohl um des Koalitionsfriedens willen. Aber was wie eine Beleidigung klingt, ist ein durchaus ernsthafter Begriff, dem der US-Philosophen Harry Frankfurt einen Essay gewidmet hat. Demnach ist Bullshit eine Methode, mit scheinbaren Fakten Unsinn zu verbreiten: „Der Bullshitter fälscht Dinge. Aber das heißt nicht, dass sie zwangsläufig falsch sind.“[1]
Richtig ist, dass unser Sozialversicherungssystem in einer Finanzkrise steckt und seine Ressourcen aktuell an Grenzen stoßen. Aber es ist ein Holzweg, diese Entwicklung mit Leistungskürzungen zu bekämpfen, wie sie von Unionspolitikern und den wirtschaftspolitischen Leitmedien gefordert werden. Es sind seit Jahrzehnten wiedergekäute Rezepte, die sich nicht nur als unsozial, sondern auch als kostentreibend erwiesen haben:
- Kürzung des Bürgergelds,
- Umstellung der Rentenversicherung auf Kapitaldeckung,
- Einführung eines Primärarztsystems und Zuzahlungen bei der Inanspruchnahme ärztlicher Leistungen etwa durch eine Praxisgebühr.
Bürgergeld und Lohnabstandsgebot
Das Bürgergeld steht im Fokus der aktuellen sozialpolitischen Debatte, in der auch rassistische Akzente gesetzt werden. Die Kleine Anfrage der AfD im Bundestag zu den Vornamen von Bürgergeldempfängern ist dafür ein Beispiel. Das Bürgergeld steht im Mittelpunkt von demagogischen Kampagnen, obwohl es nur 4,2 Prozent des Sozialbudgets ausmacht. Im Mittelpunkt steht die Behauptung, die im Bürgergeldgesetz der Ampel-Koalition festgelegten Leistungen seien viel zu hoch und führten dazu, dass sich die Aufnahme einer Arbeit nicht lohne. Die Sanktionen bei der Ablehnung eines vom Jobcenter angebotenen Arbeitsplatzes müssten verschärft und die Leistungen gekürzt werden.
Zunächst ein paar Fakten zu den im Sozialgesetzbuch II festgelegten Leistungen des Bürgergelds.[2] Der Regelbedarf liegt aktuell bei 563 Euro pro Monat für Einzelpersonen. Paare erhalten jeweils 506 Euro. Für Kinder bis 6 Jahre werden jeweils 357 Euro gezahlt, für die Altersgruppe von 7 bis 14 bzw. 17 Jahre sind es 390 bzw. 471 Euro. Mieten einschließlich der Heiz- und Betriebskosten werden in „angemessener Höhe“ übernommen, die sich nach den lokalen Gegebenheiten richtet. Das Jobcenter kann ggf. den Umzug in eine andere Wohnung anordnen, sofern der lokale Wohnungsmarkt das hergibt. Bürgergeldempfänger werden zudem von den GEZ-Gebühren von 18,36 Euro pro Monat befreit.
Die Behauptung, mit diesen Leistungen werde das Lohnabstandsgebot verletzt, hat keine Substanz. Eine alleinstehende Person in Vollzeitarbeit kommt nach Berechnungen des WSI mit dem Mindestlohn gegenwärtig auf ein Nettoeinkommen von 1572 Euro. Das Bürgergeld würde bei 1015 Euro liegen, also über 500 Euro niedriger. Bei einer alleinerziehenden Frau mit einem Kind beträgt diese Differenz 750 Euro. Es gibt also einen deutlichen finanziellen Anreiz zur Aufnahme einer Arbeit.
Das Bürgergeldgesetz vom Dezember 2022 wurde von der Ampelkoalition nicht aus freien Stücken eingebracht, sondern entstand auf Druck des Bundesverfassungsgerichts. In einem Urteil vom November 2019 hatte es die in den Hartz-Gesetzen der rot-grünen Koalition festgelegten Leistungen zur Grundsicherung als in Teilen verfassungswidrig erklärt.
Man darf gespannt sein, wie die jetzige Bundesregierung mit den in diesem Urteil enthaltenen Vorgaben zur Gestaltung menschenwürdiger Mindestleistungen umgeht. Die vor allem von Unionspolitikern verbreiteten Parole, man müsse die soziale Grundsicherung wieder auf das Niveau der Hartz-Gesetze zurückschrauben, bewegt sich verfassungsrechtlich auf sehr dünnem Eis.
Kapitaldeckung in der Rentenversicherung
In der Rentenpolitik konnten sich die Union und die SPD in ihrem Regierungsprogramm nur auf einen Minimalkompromiss einigen. Die SPD setzte beim allgemeinen Rentenniveau die „Haltelinie“ von 48 Prozent des durchschnittlichen Grundlohns durch. Außerdem soll eine „Aktivrente“ die Weiterbeschäftigung im Rentenalter erleichtern, die Betriebsrenten sollen gefördert werden. Bislang gibt es noch keine Präzisierungen dieser Projekte.
Die CDU fordert in ihrem Parteiprogramm die Umstellung der Rentenversicherung von einem Umlage- auf ein Kapitaldeckungsverfahren. Die Versicherten sollen in einem Anlagefonds einzahlen, aus dessen Erträgen die Renten finanziert werden. Nur so könne man die durch die Babyboomer der Jahrgänge 1955 bis 1965 auf uns zukommende „Rentnerlawine“ bewältigen.
Das ist schon deshalb Unsinn, weil man damit schon viel früher hätte anfangen müssen, um die jetzt steigenden Rentenzahlungen damit zu finanzieren. Aber die Umstellung der Rentenversicherung vom Umlageverfahren auf Kapitaldeckung bringt generell keine allgemeine Sicherung der Altersrenten, sondern bereitet den Weg zu wachsender Altersarmut.
Die von etlichen Ökonomen wie Bernd Raffelhüschen und der Versicherungswirtschaft verbreitete Behauptung, mit dem Kapitaldeckungsverfahren gehe man den demografischen Risiken aus dem Weg, ist purer Unsinn. Sie dient den Geschäftsinteressen der Finanzwirtschaft und sonst niemandem. Die Altersvorsorge wird damit an den politisch kaum beeinflussbaren internationalen Kapitalmarkt ausgeliefert, in dem die Renditeerwartungen der Anleger dominieren und die Vermeidung von Altersarmut niemanden interessiert.
Die Kapitaldeckung der Renten hat zudem sozialökonomische Kollateralschäden vor allem auf dem Wohnungsmarkt als einem Hauptanlagefeld von Pensionsfonds. Die in den vergangenen Jahren in unseren Metropolregionen rasant gestiegenen Mieten und Immobilienpreise sind nicht zuletzt auf das wachsende Interesse von Pensionsfonds an der Wohnungswirtschaft zurückzuführen.
Auch die Behauptung, die Umstellung auf eine kapitalgedeckte Rente senke die Arbeitskosten, ist falsch. Die Sozialabgaben verschwinden nicht als Kostenfaktor mit einer Verlagerung der Rentenversicherung in eine private Zusatzversicherung oder Betriebsrenten. Auch die fließen in die Lohnkosten als Lebenshaltungskosten ein, die bei den Tarifverhandlungen geltend gemacht werden.
Der wohl wichtigste Vorteil der solidarischen Umlagefinanzierung besteht in der regelmäßigen Anpassung der Renten an die Löhne und Lebenshaltungskosten. Eine solche „dynamische Rente“ können kapitalgedeckte Rentenversicherungen grundsätzlich nicht bieten, weil deren Parameter nicht kalkuliert werden können. Altersarmut kann nur mit einer Umlagefinanzierung verhindert werden.
Gesundheitswesen: Abgeschmackte Rezepte zur Kostendämpfung
Zur Sicherstellung der gesundheitlichen Versorgung und Sanierung der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) schweigt sich die schwarz-rote Koalition aus. Auf der Klausur ihrer Bundestagsfraktionen am vergangenen Wochenende in Würzburg wurde darüber nicht gesprochen, jedenfalls taucht dieses Thema im Ergebnisbericht der Tagung nicht auf.
Gesundheitsministerin Nina Warken scheint von Friedrich Merz die Anweisung erhalten zu haben, sich auf die Überarbeitung des von der Ampelregierung durchgesetzten Krankenhausreformgesetzes zu beschränken und ansonsten die Füße still zu halten. Aber das wird schon deshalb nicht funktionieren, weil die erst Anfang dieses Jahres um durchschnittlich 0,8 Prozentpunkte angehobenen Zusatzbeiträge in der GKV zum kommenden Jahreswechsel erneut angehoben werden müssen.
In den Medien werden Maßnahmen zur Bekämpfung dieser Entwicklung diskutiert, die sich schon lange als komplett wirkungslos erwiesen haben: Einführung einer Praxisgebühr und eines Primärarztsystems sowie weitere Leistungskürzungen. Alle bisherigen Versuche, die GKV-Ausgaben mit solchen Maßnahmen in den Griff zu bekommen, sind gescheitert.
Die 2004 auf Druck der Union eingeführte Praxisgebühr für Arztbesuche wurde zehn Jahre später von Jens Spahn als Gesundheitsminister wieder abgeschafft, weil der damit verbundene bürokratische Aufwand der Arztpraxen größer war als die Einspareffekte der Krankenkassen. Auch andere Zuzahlungen der Patientinnen und Patienten hatten unterm Strich keinen positiven Effekt.
Langzeituntersuchungen über die Auswirkungen von Selbstbeteiligungen können zwar kurzfristige Kostensenkungen nachweisen, aber sie zeigten auch deutliche Zusammenhänge zwischen der Höhe der Zuzahlungen und einer Verschlechterung des Gesundheitszustandes vor allem bei chronisch Kranken und den unteren Einkommensgruppen.
Die Einbildung, über finanzielle Anreize für die Versicherten die GKV-Ausgaben in den Griff bekommen zu können, ignorieren den grundlegenden Sachverhalt, dass es im Gesundheitswesen keine Konsumentensouveränität als Voraussetzung für eine solche Politik gibt. Dadurch wird mehr Geld in ein System gepumpt, das damit nicht besser, sondern nur teurer wird.
Trübe Aussichten
Die schwarz-rote Koalition verhält sich in der Gesundheits- und Sozialpolitik suizidal und lässt den Karren weitgehend ungebremst in den Dreck fahren. Lediglich die Arbeitsministerin Bärbel Bas hat offenbar den Ernst der Lage begriffen und weist darauf hin, dass man unser Sozialversicherungssystem auf neue Füße stellen und zu einer modernen Volksversicherung unter Einbeziehung von Beamten und selbständigen umbauen muss, wie es sie zum Beispiel in Österreich gibt. Aber eine politische Mehrheit für eine Bewegung in diese Richtung ist nicht in Sicht.
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