Pogge, Singer und ihre Kritiker
Stehen wir in der Schuld armer Länder? Dem liberalen Nationalisten David Miller und anderen Philosophen gehen Pogges und Singers Forderungen zu weit. Ist eine solidarische Gesellschaft nicht die beste internationale Hilfe?
In den letzten beiden Artikeln hat Sophie Lukas in zwei einflussreiche Philosophen globaler Verantwortung vorgestellt: Thomas Pogge und Peter Singer. Heute diskutiert sie Einwände auf deren Thesen.
„Ein prominenter Philosoph, der Pogge und Singer kritisch reflektiert, ist David Lesie Miller, der eine Art von ‚liberalem Nationalismus‘ vertritt. Miller bestreitet nicht, dass unsere Weltordnung den Armen schadet. Für ihn ist die große Armut auf der Welt ebenfalls untragbar. Er wehrt sich aber gegen Pogges These, dass wir die Hauptverantwortung dafür tragen.“
„Wie begrünet er das?“
„Wie Pogge verwendet auch Miller einen anschaulichen Vergleich: Stellen wir uns eine Kreuzung in einer Stadt mit einem Kreisverkehr vor. In dem Kreisverkehr passieren immer wieder Unfälle. Wer trägt die Verantwortung für diese Unfälle? Eine Möglichkeit wäre: die Fahrer der Autos, die die Unfälle produzieren. Sie waren unkonzentriert und haben das andere Auto übersehen oder sie haben versehentlich falsch geblinkt. Die andere Möglichkeit wäre die Ingenieure der Kreuzung, die sich für einen Kreisverkehr entschieden haben. Sie hätten sich auch ein Ampelsystem wählen können, von dem sie wussten, dass dadurch viele Unfälle vermieden würden.
Doch diese Möglichkeit hält Miller für unplausibel. Die Ingenieure konnten davon ausgehen, dass Fahrer, die sich ihrer Verantwortung als Verkehrsteilnehmer bewusst sind, in der Lage sind, das Auto gefahrlos durch den Kreisverkehr zu lenken. Die Ingenieure haben damit ohnehin nicht die Hauptverantwortung für die Unfälle.“
„Er will also damit sagen, dass es nicht unsere Verantwortung ist, wenn korrupte Diktaturen die Schwächen der vom Westen geschaffenen Weltordnung ausnutzen.“
„Richtig. Er stellt die Frage, ob es in unserer Weltordnung verantwortlichen Politikern in der dritten Welt möglich ist, ihr Armutsproblem selbst zu lösen. Ein Beleg für ihn sind Länder wie Malaysia, die das im Gegensatz zu vielen anderen geschafft haben. Während Malaysia und Ghana am Ende der Kolonialzeit noch gleich arm waren, war das Prokopfeinkommen in Malaysia fünfzig Jahre später zehnmal höher als in Ghana. Miller behauptet nicht, dass wir eine weiße Weste haben und die Weltordnung einwandfrei konstruiert haben. Er bestreitet aber, dass wir die Hauptverantwortung tragen.“
„Miller würde also sagen, dass unser ‚Kreisverkehr‘ immer noch genug Chancen bietet, gut durch den Verkehr zu kommen. Pogge würde dem wohl entgegenhalten, dass unser ‚Kreisverkehr‘ so unverantwortlich riskant konstruiert wurde, dass die Chancen für ein unfallfreies Fahren sehr gering sind. Länder wie Malaysia wären glückliche Ausnahmen.“
„So könnte man den Unterschied zwischen den beiden vielleicht formulieren. Um zu beurteilen, was eher zutrifft, muss man sich unter anderem die Weltwirtschaftsordnung genauer ansehen. Vertreter des Freihandels behaupten, dass die Welthandelsordnung für die Entwicklung sogar förderlich ist, Kritiker des Neoliberalismus nehmen hingegen an, dass die vom Westen auferlegte Wirtschaftspolitik eine Entwicklung faktisch blockiert. Mit so einer Politik hätte sich auch der Westen nicht entwickeln können.“
„Wie reagiert Miller auf Singers Position?“
„Miller lehnt internationale Hilfspflichten nicht grundsätzlich ab, stellt sich aber die Frage, ob Singers Teichbeispiel wirklich ein guter Vergleich für unsere Verantwortung für die Weltarmut ist. Er sieht vor allem drei wesentliche Unterschiede:
- Für Miller stehen die Menschen in den reichen Gesellschaften in ganz unterschiedlichen Lebenssituationen, bei denen man fragen müsste, wer für wie viel der Hilfe aufkommen soll. Für ihn ist die Hilfe eine kollektive Angelegenheit der Gesellschaft und nicht eine individuelle wie bei Singer. Wenn es eine kollektive Angelegenheit ist, spielt die Frage, wer wie viel beizutragen hat eine entscheidende Rolle.
- Wer ein Kind aus dem Teich rettet, kann damit rechnen, dass das Kind ein glückliches Leben mit einer hohen Lebenserwartung haben wird. Wenn wir Hilfsorganisationen Geld spenden, ist dies wesentlich unsicherer. Das von uns gerettete Kind könnte kurze Zeit später an einer anderen Krankheit sterben. Die Verbesserung der Situation der Armen ist wesentlich schwerer durchzusetzen, weil es ein Makroebenen-Problem ist. Das Problem liegt vor allem in den ökonomischen und politischen Rahmenbedingungen.
- Für Miller geht Singer zu wenig auf die Frage ein, ob die Notlage von den Menschen in der dritten Welt unverschuldet ist oder ob sie selbst dafür verantwortlich sind. Er fragt zum Beispiel: ‚Wenn sie wegen Missernten sterben, hätten sie andere Pflanzen setzen sollen? Wenn sie an Aids erkranken, hätten sie ihr sexuelles Verhalten ändern sollen?‘ Obwohl Miller Hilfe für selbstverschuldete Notlagen nicht grundsätzlich ablehnt, hält er diesen Aspekt doch für wichtig: ‚Wir können sicherlich davon ausgehen, dass jene, die die Armut verursacht haben, auch für deren Beseitigung zuständig sind.‘“
„Bei den letzten beiden Punkten würde ich Miller fragen: Würde er ein Kind in seiner Heimat nicht aus dem Teich retten, wenn ihm bekannt ist, dass es bald an Krebs sterben wird? Würde er einen Schwerverletzten im Graben liegen lassen, weil dieser unvorsichtigerweise im Dunkeln Rad gefahren ist und stattdessen einem nur Leichtverletzten helfen? Ich weiß nicht, ob diese Argumente den Vorbehalt treffen, den einige gegen Singer verspüren.“
„Es gibt eine Reihe anderer Kritikpunkte, die Singer entgegengehalten werden. Eine zentrale Frage ist, ob es überhaupt Hilfspflichten und internationale Hilfspflichten gibt. Für einen Kontraktualisten hängt die Gültigkeit von Verpflichtungen von seiner Zustimmung ab. Einer Verpflichtung zur Hilfe gegenüber anderen würde er nicht zustimmen, wenn es unrealistisch ist, dass sie ihm je helfen werden können. Das ist gerade bei armen Ländern kaum zu erwarten.“
„Sicher gibt es Menschen, die so denken. Anderen wird das aber sicherlich Unbehagen bereiten. Wenn ich irgendwo in der Wildnis unterwegs bin, kann ich einen ärmlichen Verletzen, der mir nie helfen können wird, folglich liegen lassen, auch wenn mich diese Hilfe wenig Anstrengung kostet.“
„Oder unsere Politik kann untätig bleiben, wenn ein armes Land von einem Tsunami überschwemmt wird. Aus der Intuition, dass dies nicht richtig ist, folgt zunächst, dass alle Menschen moralisch relevant sind. Es folgt aber noch nicht, dass wir allen Menschen in gleicher Weise verpflichtet sind. Dies wird beispielsweise von Vertretern des Kommunitarismus angenommen, auf den wir noch zu sprechen kommen. Laut der Philosophin Frances Myrna Kamm ist räumliche Distanz moralisch von Bedeutung: Hätten wir Arme, die bis nach Afrika reichen, dann wäre unsere Verantwortung, zu helfen, größer.
Nach dem moralischen Universalismus ist jeder Mensch moralisch von gleicher Relevanz. Auch unter dieser Voraussetzung empfinden manche Singers Forderungen als zu weitgehend. Gegen die intuitive Überzeugung des Teichbeispiels hat der deutsche Philosoph Valentin Beck eingewandt: Das Teichbeispiel wird als einmalige Aktion beschrieben. Unsere Situation gegenüber der Weltarmut ist aber eher damit zu vergleichen, dass wir jeden Tag mehrmals an einem Teich mit einem ertrinkenden Kind vorbeikommen. Im Unterschied zu dem einfachen Fall ist für Beck hier aber nicht mehr offensichtlich, was uns unsere moralische Intuition uns sagt.
Auch Singers zentrales Argument – die Verpflichtung, etwas sehr Schlechtes zu verhindern, wenn ich dabei nichts von vergleichbarer moralischer Relevanz opfern muss – ist nach Beck zu stark. Menschen müsse die Möglichkeit offenstehen, individuelle Lebenspläne zu verfolgen. Diese Lebenspläne ‚sollten zwar als moralisch imprägniert, aber nicht als derart umfassend durch die Moral bestimmt angesehen werden.‘ Was wir gegenüber armen Menschen anderer Nationen tun sollen, dabei geht Beck aber immer noch deutlich über die verbreitete Alltagsmoral hinaus.
Auch auf der Basis einer universalistischen Moral werden Einschränkung auf Grund strategischer Überlegungen geltend gemacht: Zum Beispiel könnte die schnelle Einwanderung von Millionen Flüchtlingen dazu führen, dass Gemeinwesen an ihre Belastungsgrenzen kommen und nationalistische Parteien die Oberhand gewinnen. Oder Menschen fühlen sich von Singers Ansprüchen so überfordert, dass sie ablehnend reagieren und gar nichts tun. Wie gesagt, sieht Singer Letzteres allerdings auch so.“
„Das Gefühl von Überforderung scheint mir ein generelles Problem unserer Gesellschaft zu sein.“
„Hier kommen wir unabhängig von der Frage nach der moralischen Forderung zu einem anderen wichtigen Gesichtspunkt, der für die fehlende Motivation zur Hilfe – ob national oder international – bedeutend ist: dem bei uns verbreiteten, radikalen Besitzindividualismus. In der liberalen Tradition wird der Mensch oft wie ein Atom beschrieben, das ungebunden von anderen existiert. Darüber hinaus definieren sich Menschen heute sehr über Leistung und Besitz. Wer nichts hat, ist auch nichts – nicht zuletzt deshalb, weil er sich hätte anstrengen können, zu Geld und Besitz zu kommen.
Aber das entspricht, so die Kritik des Holismus, nicht der Realität: Wir sind keine ungebundenen Atome, sondern was uns zu einem erheblichen Maß ausmacht, ist, Teil einer Gemeinschaft zu sein. Außerdem kommt es auf uns nicht deshalb an, weil wir etwas geleistet haben, sondern schlicht, weil wir sind. Wenn man dem Menschen das aber abspricht und den Besitzindividualismus zur Norm erhebt, wirkt die Forderung, Besitz zu opfern, absurd. Warum sollte ich das hergeben, was mir überhaupt noch Respekt und Anerkennung verleiht?
Wenn in der Gesellschaft lediglich Forderungen nach individueller internationaler Hilfe betont werden, lenkt das von Wesentlichem ab: Dass wir eine Gemeinschaft sind und dass es auf uns ankommt, weil wir sind. Würden wir hingegen leben was wir sind, wären wir eine solidarische Gesellschaft, in der niemand Angst vor einem sozialen Abstieg haben muss und davor, sich wie der Abschaum der Gesellschaft zu fühlen.“
„Ist das denn möglich?“
„Dass dies möglich ist, liegt aus dieser Sicht eben darin begründet, dass wir Teile von Gemeinschaften sind. Aus individualistischer Perspektive ist es schwer verständlich, warum Menschen in der Lage sein sollen, wirklich altruistisch zu handeln. Aber wenn wir nicht nur Individuen, sondern auch Teile von Gemeinschaften sind, fallen Egoismus und Altruismus zusammen. Das können wir auch in unserer individualistischen Gesellschaft beispielsweise immer noch bei Naturkatastrophen spüren, in denen Menschen zu großem Einsatz für die Gemeinschaft bereit sind. Eine solche Gesellschaft würde aber auch dazu beitragen, dass arme Länder nicht daran gehindert werden, ebenfalls diesen Weg einzuschlagen. Denn ihnen wurde gleiche Individualismus auferlegt und sie wurden zu Werkbanken für Konzerne degradiert.
Wer in einer Gemeinschaft lebt, in der er sich getragen fühlt, dem wird es auch leichter fallen, an die Gemeinschaft in einem weiteren Sinne zu denken, die wir durch die Menschheitsgeschichte mit allen Menschen teilen. Ein Land, das für seine hervorstechende internationale Hilfe bekannt ist, ist Kuba. Dessen Hilfsbereitschaft wird oft als egoistisch kritisiert, weil es Kuba, das sehr umfassenden Sanktionen ausgesetzt ist, an Devisen fehlt. Aber vielleicht ist dies ein Vorurteil, das darauf beruht, dass wir uns eine Gesellschaft, die auf etwas anderem als Besitzindividualismus beruht, kaum noch vorstellen können.“
„Wenn wir also in Deutschland an einer solidarischen Gesellschaft arbeiten, wird das auch die Situation in armen Ländern verbessern?“
„Das ist die Theorie. Auch deshalb setzten Menschen ihr Engagement und auch ihr Geld dafür ein. Natürlich ist dieser Weg unsicherer als einer effektiven Hilfsorganisation Geld zu spenden. Auch ist es natürlich keineswegs ausgeschlossen, beides zu tun. Eine solidarische Gesellschaft und eine solidarische Ökonomie ist aber gerade für die Entwicklungsländer aus dieser Sicht viel effektiver als jede Hilfsorganisation. Abgesehen von Naturkatastrophen bräuchten sie eigentlich keine Hilfsorganisationen. Sie haben selbst genug Potential.“
„Dann kommen wir als nächstes auf die Frage nach globaler Gerechtigkeit im Kosmopolitismus und im Kommunitarismus zu sprechen?“
„Ja. Zuvor stelle ich dir aber noch die Position von Iris Marion Young zu internationaler Verantwortung vor.“
Der nächste Artikel behandelt Iris Marion Youngs Theorie internationaler Verantwortung.
Hinweis: Am ersten Oktober erscheint das Buch zu Lukas und Sophie im Promedia-Verlag: „Die blinden Flecken der Demokratie. Eine Entdeckungsreise in die politische Ideengeschichte.“