Der Libertarismus und die Freiheit der Anderen
Libertäre definieren Freiheit als unpolitischen, absolut zu gelten habenden Zustand. Sie übersehen, dass Freiheit ein gesellschaftlicher Ressourcenkonflikt ist – ein interdependentes Gut, das nicht jeder gleichzeitig in Fülle halten kann.
Politische Ideologien leiten sich oft aus einer scheinbar selbstverständlichen Grundnorm ab, die nur selten kritisch hinterfragt wird. Im klassischen Liberalismus und seinem bösen Zwillingsbruder, dem Libertarismus, bleibt die Grundnorm Freiheit oft wenig mehr als ein politisches Gefühl. Gedanken darüber, was Freiheit eigentlich ist, kommen längst aus anderen Denktraditionen.
Umso heftiger überschwemmen Libertäre den Diskurs mit unbegründeten, emotionalen Freiheitsparolen. Rechte Stimmen aus der Springer-Presse, neureiche Tech-Oligarchen und lautstarke „Krypto-Bros“ verbreiten dabei eine besonders vulgäre Form des Libertarismus. Sie propagieren eine, so könnte man sagen, herrschaftstreue Idee von Freiheit. Die Herrschaftstreue wird eingefordert, indem Ordnung und Freiheit als Widerspruch gesetzt werden. Herrschaft verstanden als illegitime Machtfülle der Wenigen über die Vielen. Als Etablierung des ungleichen Verhältnisses von Herr und Knecht. So wird Freiheit vom gesellschaftlichen Ziel zum exklusiven Gut.
Der Staat erscheint in ihrer Erzählung als großer Gegenspieler der Freiheit, als die Macht, die unsere Autonomie, also Selbstgesetzgebung, verhindert. Doch sind Verbote und Vorschriften wirklich gegen die Freiheit gerichtet? Existiert der behauptete Zielkonflikt zwischen Freiheit und Ordnung?
A Power to limit Power
Die Frage nach der Legitimation staatlicher Ordnung und nach der Manifestation von Freiheit könnte man als die Grundfrage der politischen Theorie bezeichnen. Warum darf der Staat sein? Warum darf er handeln? Thomas Hobbes kehrt in seinem berühmten Werk Leviathan die Legitimationsfrage um: Was legitimiert eigentlich den Naturzustand? Das Leben im Naturzustand ist, so Hobbes, einsam, arm, hässlich, brutal und kurz. Ein solches Leben kann man wohl kaum als frei und selbstbestimmt bezeichnen, ohne dabei in einen absurden Relativismus zu verfallen.
Den Staat pauschal als Gegenspieler der Freiheit zu setzen, mag in einer Diktatur sinnvoll sein. In einer Demokratie reduziert sich das zu einer Ideologie der freiwilligen Unterwerfung. Die Macht im republikanischen Staat wird als bloße Repression gesehen; nicht gewürdigt werden die Strukturen, die im Sinne der res publica die Freiheit ordnen, etwa durch Arbeitsschutz und Menschenrecht. Es gibt keinen absoluten Zielkonflikt zwischen Freiheit und Ordnung. Der demokratische Staat und sein Gesetz sind nicht der Feind der Freiheit, sondern vielmehr der Versuch, sie für alle zu ermöglichen.
Viele Institutionen, die die Freiheit des Einzelnen einschränken, werden von den Libertären nicht problematisiert: der Arbeitgeber, die Familie, die Sitte und der Markt. Niklas Luhmann spricht von der Umwelt als allgemeinen Freiheits-Einschränker. Das Außen des Individuums, ob Markt oder Staat, gibt vor, was möglich ist. Wem etwas an der Freiheit liegt, der muss die Rolle aller Einschränker zurückdrängen. Ohne kritischen Blick auf die Macht der Arbeitgeber über ihre Angestellten, der Väter über ihre Kinder, der Sitte und des Marktes fordert man paradoxerweise nur die Befreiung von demjenigen Einschränker, der die anderen Einschränker im Zaum hält. Der Staat tritt hier als Metaeinschränker auf. Er verbietet idealerweise dem Vater, sein Kind zu züchtigen, und dem Arbeitgeber, seine Mitarbeiter auszubeuten. Am Ende der Regulierung steht hier ein Mehr an Freiheit – etwas, das Libertären durchaus klar ist, wenn es um den Schutz des Eigentums geht.
Der Staat tritt in einer Demokratie als Macht begrenzende Macht auf – als power to limit power. Diese Metamacht nimmt die notwendige Planung der Freiheit erst vor. Den Mächtigen die Ausübung ihrer auf Kosten anderer gehenden Freiheit zu verbieten, ist kein gegen die Freiheit gerichtetes Verbot. Im Grunde fasste es der französische Anarchist Pierre-Joseph Proudhon treffend zusammen: „Freiheit ist die Herstellung einer Ordnung ohne Herrschaft.“ Was der Libertarismus versucht, ist das Gegenteil.
Die libertäre Demokratieverachtung eines Peter Thiel will sagen, dass Ordnung im Sinne der Vielen den Mächtigen ihre Freiheit auf Herrschaft nimmt. Statt Emanzipation der Massen wird Freiheit zur Belohnung eines sozialdarwinistischen Wettbewerbs – die exklusive Ressource der Gewinner.
Die Freiheit der Anderen
Freiheit heißt für Libertäre, dass man auf X Antisemitismus und Rassismus verbreiten darf und damit ganze Bevölkerungsgruppen neuen (alten) Bedrohungslagen aussetzt. Die Freiheit der Juden auf Schutz wird am Altar der Freiheit auf Bedrohung und Diskriminierung geopfert.
Freiheit ist, und das negiert der Libertäre, inhärent widersprüchlich. Freiheit heißt gleichzeitig Handlungsoptionsvielfalt und Recht auf Nicht-Einmischung; die Handlungsoptionsvielfalt eines Einzelnen verletzt im Grunde dauernd das Recht auf Nicht-Einmischung eines anderen. Der Philosoph Isaiah Berlin spricht hier vom Unterschied der Freiheit zu und der Freiheit von. Freiheit ist so gesehen interdependent und dadurch politisch.
Im Diskurs der Libertären wird Freiheit als unpolitischer, im Grunde absolut zu gelten habender Zustand definiert. Dabei wird übersehen, dass Freiheit ein gesellschaftlicher Ressourcenkonflikt ist – ein interdependentes Gut, das nicht jeder gleichzeitig in Fülle halten kann. In einer Diktatur etwa ist der Diktator total frei, der Untertan gerade dadurch total unfrei. Eine freiheitliche Ordnung ist also eine, in der niemand auf Kosten anderer frei ist, in der die Freiheit der Anderen etwas zählt.
Ein anschauliches Beispiel ist der Straßenverkehr: Für Libertäre stellt jede Einschränkung für Autofahrer einen Angriff auf die Freiheit dar – ein Zielkonflikt zwischen Freiheit und Ordnung. Es handelt sich aber eigentlich um einen Zielkonflikt zwischen der Freiheit des Autofahrers und der Freiheit des Radfahrers oder des Fußgängers. Es geht um die Verteilung der endlichen Quadratmeter der Straße. Friedrich Ebert formulierte treffend: “Jede Freiheit, an der mehrere teilnehmen, braucht eine Ordnung”. Eine Freiheit, die nur für die Wenigen gedacht ist, braucht diese nicht.
Nur in Freiheit kann Freiheit Freiheit sein
Was hier als Freiheit verkauft werden soll, könnte man treffender als den ideologischen Überbau der Zurückeroberung der Herrschaft der Mächtigen bezeichnen. Rechte Ideologie ist im Kern die Verklärung der Geschichte in Natur. Die Vorstellung, Freiheit sei ein Naturzustand, verwechselt Sein mit Sollen — ein naturalistischer Fehlschluss. Freiheit entsteht nicht qua natura, sondern muss konstruiert werden. Sie als Gegensatz zur Ordnung zu definieren, ist ein Irrtum. Das Zebra im Maul des Löwen als frei zu betrachten, ist der große Denkfehler des Libertarismus.
Wer Freiheit ernst nimmt, muss anerkennen, dass sie politisch organisiert und verhandelt werden muss, dass Freiheit der Abwägung konkurrierender Freiheiten bedarf. Freiheit muss nicht weniger als die Emanzipation aus Herrschaft, Ausbeutung und struktureller Unterdrückung verwirklichen. Der Weg zur Knechtschaft ist nicht die Ordnung, sondern die Herrschaft, die sich als Freiheit tarnt.