Menschenbild

Ist Kooperation irrational? Eine Kritik der Verhaltensökonomie

| 09. September 2025

Warum die Verhaltenswissenschaften uns so gerne als irrational und egoistisch darstellen. Und was daran falsch ist.

Stellen Sie sich vor, Sie befinden sich in einem kargen Verhörzimmer. Sie wurden zusammen mit einer anderen Person festgenommen – unter Verdacht, gemeinsam ein Verbrechen begangen zu haben. Die Ermittler haben nicht genügend Beweise, um Ihnen die Tat nachzuweisen. Also unterbreiten sie Ihnen ein Angebot: Wenn Sie gestehen und die andere Person schweigt, kommen Sie sofort frei, während Ihr Komplize zehn Jahre Gefängnis bekommt. Wenn Sie beide gestehen, erhalten Sie jeweils sechs Jahre. Und wenn beide schweigen, gibt es nur eine Verurteilung wegen eines kleineren Delikts – ein Jahr Haft für jede Person.

Sie wissen: Die andere Person hat genau das gleiche Angebot erhalten – in einem anderen Raum, ohne Möglichkeit zur Absprache. Was tun? Schweigen – in der Hoffnung, dass auch die andere Person schweigt? Oder gestehen – aus Furcht, für die Loyalität mit zehn Jahren Haft bestraft zu werden?

Dieses Szenario – bekannt als Gefangenendilemma – ist weit mehr als ein Gedankenexperiment. Es ist das Lieblingsspiel der Verhaltensökonomie, einem Teil der Wirtschaftswissenschaften, das sich mit menschlichem Verhalten in ökonomischen Situationen beschäftigt. Verhaltensökonomen sitzen im Wissenschaftlichen Beirats des Bundesministeriums für Wirtschaft und im Vorstand des Vereins für Socialpolitik (VfS). Das ist die zentrale ökonomischen Fachgesellschaft im deutschsprachigen Raum, mit über 4.000 Mitgliedern, darunter fast alle deutschsprachigen Volkswirtschaftsprofessoren.

Das Ergebnis des Experiments ist meist: beide gestehen. Nicht, weil sie bösartig sind, sondern weil sie sich gegen das schlechteste mögliche Ergebnis absichern. Oder anders gesagt: Sie versuche ihren individuellen Nutzen zu maximieren und gehen davon aus, dass auch die andere Person sich so verhält. Deshalb scheint es rationaler zu defektieren als zu kooperieren.

Abertausende von Studierenden der Wirtschaftswissenschaften und Psychologie wurden bereits mit diesem Experiment sozialisiert. Es passt einfach ideal in das neoliberale Wirtschafts- und Menschenbild: rational ist, wer seine eigenen Interessen verfolgt, seine Gewinne maximiert – auch auf Kosten anderer. Denn: auch die anderen denken so. Solidarität Fehlanzeige. Kooperation als Risiko.

Es ist nichts daran auszusetzen, komplexe soziale Probleme mit Hilfe ökonomischer Modelle verständlich zu machen. Im Gegenteil. Was aber problematisch ist: Ausgerechnet jene Konzepte, die für das Zusammenleben in einer nicht nur auf Konkurrenz basierenden Gesellschaft zentral wären – Vertrauen, Solidarität, moralische Verantwortung – kommen in vielen dieser Modelle kaum vor. Dabei zeigen empirische Studien seit Jahrzehnten, dass genau diese Faktoren einen enormen Unterschied machen. Bereits minimale Veränderungen in der Versuchsanordnung führen zu deutlich höheren Kooperationsraten im Gefangenendilemma und vielen ähnlichen Paradigmen, die in der Verhaltensökonomie so beliebt sind.

So kann nur ein kurzes Gespräch zwischen den Probanden die Kooperationsrate deutlich erhöhen. Menschen, die miteinander sprechen, bauen Vertrauen auf, und dies verändert ihr Entscheidungsverhalten messbar. Auch wenn sie wissen, dass sie sich anschließend eventuell ein weiteres Mal treffen, steigt die Kooperationsbereitschaft. Sie steigt auch beim wiederholten spielen. Dann kann sich Vertrauen entwickeln. In Versuchsanordnungen, in denen Entscheidungen nicht anonym sind oder in denen andere anwesend sind, kooperieren Menschen ebenfalls häufiger. Selbst subtile Hinweise auf moralische Begriffe, wie „Fairness“, „Gemeinwohl“ oder „Verantwortung“ erhöhen die Kooperationsbereitschaft.

Im gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang sind noch andere Befunde wichtig: In Studien zur deliberativen Demokratie zeigt sich, dass Menschen in gemeinschaftlichen Gesprächssituationen zu differenzierten, wohlbegründeten und oft kooperativen Urteilen gelangen – gerade dann, wenn sie unterschiedliche Perspektiven hören und reflektieren können.

Auch andere Befunde der Verhaltensökonomie werden in Vorlesungen und Lehrbüchern häufig stark vereinfacht dargestellt. So zum Beispiel die vielen Befunde zu „kognitiven Verzerrungen“ und „Biases“. Angeblich zeigen diese, dass Menschen von Grund auf irrational denken und entscheiden. Dafür wurden zunächst Herbert Simon und später Daniel Kahneman mit dem Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften ausgezeichnet. Hier das normative Ideal der Rationalität, dort die realen Menschen, die immer wieder davon abweichen. Der Mensch wird als mangelhaftes Wesen dargestellt, das systematisch irrational denkt und deshalb korrigiert werden muss.

Den Höhepunkt dieses negativen Menschenbildes wurde mit der Auszeichnung des Ökonomen Richard Thaler im Jahr 2017 erreicht. Thaler, einer der einflussreichsten Vertreter der Verhaltensökonomie, wurde für seine Beiträge zur Integration psychologischer Einsichten in die ökonomische Theorie mit dem Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften geehrt und beriet den ehemaligen US-Präsidenten Barack Obama.

Seine bekanntesten Arbeiten drehen sich um systematische Verzerrungen, irrationale Präferenzen und die Möglichkeit, Menschen durch gezielte Verhaltenssteuerung zu „besseren“ Entscheidungen zu bringen. In seinem Buch Nudge – gemeinsam mit Cass Sunstein veröffentlicht – propagiert er den sogenannten libertären Paternalismus: Die Idee, dass Menschen frei bleiben sollen, aber durch kluge Gestaltung der Entscheidungssituation in eine bestimmte Richtung „geschubst“ werden dürfen.

An diesem Ansatz zeigt sich exemplarisch, wie ein negatives Menschenbild in politische Praxis übersetzt wird. Menschen sind nicht nur egoistisch, sondern auch dumm. Deshalb müssen sie vom Staat gelenkt werden. Gesellschaftliche Probleme können so individualisiert und damit entpolitisiert werden. Die Welt wird nicht deshalb ungerecht, unsicher oder krisenhaft erlebt, weil sie es objektiv ist, sondern weil Menschen systematisch „falsch“ denken. Nicht ökonomische und politische Machtverhältnisse sind verantwortlich, sondern unser Egoismus und unsere Irrationalität. Gesellschaftlich Produziertes wird als individuell Verschuldetes dargestellt.

Man könnte auch anders darüber nachdenken: Die Forschung könnte auch untersuchen, unter welchen Bedingungen vernünftiges und solidarisches Denken und Handeln überhaupt möglich ist, wie reflektiertes Denken gefördert und Denkfehler vermieden werden können. Sie könnte sich nicht darauf beschränken, individuelles Verhalten zu analysieren, sondern fragen, wie gesellschaftliche Strukturen manchmal vernünftigem Denken und solidarisches Handeln geradezu verhindern. Es ginge also genau um das Wechselspiel zwischen psychologischen und gesellschaftlichen Prozessen – darum, wie kollektive Deliberation funktionieren kann und unter welchen Bedingungen sich individuelle und kollektive Rationalität entwickeln. Auch darüber wird in der Psychologie und Verhaltensökonomie geforscht – aber weit seltener als im Rahmen der Idee von der menschlichen Irrationalität und des Egoismus. Leider.