Zwischen Ego und Gemeinwohl
Liebe Leserinnen und Leser,
der Zeitgeist meint es nicht gut mit den hehren Idealen der Kooperation und Solidarität. Zwei Texte dieser Ausgabe bringen das sowohl analytisch als auch philosophisch auf den Punkt: Markus Knauffs Kritik der Verhaltensökonomie und Justus J. Seuferles Auseinandersetzung mit dem Libertarismus. Letzterer feiert – befeuert durch die Tech-Oligarchen in den USA – auch in Deutschland fröhliche Urständ; und bekommt scheinbar wissenschaftliche Legitimation durch Erstere.
Knauff widerspricht der Auffassung, dass Kooperation per se irrational sei – wie es vielfach in der Verhaltensökonomie behauptet wird: ein Fehler im Spiel individueller Nutzenmaximierung, ein soziales Luxusproblem in der Theorie rationaler Agenten. Doch in realen Gesellschaften, so Knauff, ist Kooperation keine Ausnahme von der Regel, sondern das Fundament menschlichen Zusammenlebens – eine notwendige Praxis, nicht ein optionales Extra. Wer behauptet, alle handelten rein eigennützig, übersieht die Macht der Normen, die Rolle von Vertrauen und Verantwortung sowie die Tatsache, dass wir oft weniger „rational kalkulierend“ als eher „situationsrational“ agieren – im Sinne von Anpassung und wechselseitiger Erwartung.
Seuferle erweitert diese Perspektive um die politische Philosophie: Freiheit ist kein einzeln definierbares Recht, das in einer Leerstelle, einem Naturzustand, existiert, sondern ein Verhältnis – stets zwischen Menschen, stets politisch. Der Libertarismus verklärt Freiheit als Abwesenheit von Regeln, als Minimalstaat oder Nicht-Staat, als maximale individuelle Entfaltung und persönliche Nutzenoptimierung – ohne Rücksicht auf die Abhängigkeit des Einzelnen von der Gesellschaft, frei von dem Zwang ihrer Institutionen. Doch Freiheit ohne Ordnung, ohne Regeln der Gerechtigkeit, ohne Grenzen wird zur Freiheit der Stärkeren – eine despotische Freiheit, die die Freiheit der Anderen verletzt.
Hier schließt sich wieder der Kreis zur Verhaltensökonomie: Das Buch Nudge von Richard Thaler und Cass Sunstein propagiert den sogenannten libertären Paternalismus, nach dem freie Menschen allein durch eine kluge Gestaltung der Entscheidungssituation in eine bestimmte Richtung „geschubst“ werden dürfen. So als ob alle Probleme die Summe falscher individueller Entscheidungen wären.
Beide Texte sind eine Einladung, Ökonomie wieder als politisches Projekt zu begreifen. Wenn Kooperation keine irrationale Abweichung ist, wenn Freiheit nicht ohne Verantwortung existieren kann, dann muss das Politische zurück in den Mittelpunkt rücken – bei der Regulierung von Märkten oder im Verhältnis zwischen Staat und Individuum: Was heißt Verantwortung in ökonomischen Beziehungen? Welche Rolle spielen Normen und Institutionen? Und welchen Freiheitsbegriff wollen wir leben?
Alle Artikel dieser Ausgabe:
- Mehr als Mankiw: Michael Paetz schließt die Lücke in der Geldtheorie Von den Grundlagen des modernen Finanzsystems bis zu unkonventionellen Maßnahmen in Krisenzeiten: Michael Paetz liefert ein Lehrbuch, das endlich die Realität der Geldschöpfung ernst nimmt. Günther Grunert
- Ist Kooperation irrational? Eine Kritik der Verhaltensökonomie Warum die Verhaltenswissenschaften uns so gerne als irrational und egoistisch darstellen. Und was daran falsch ist. Markus Knauff
- Der Libertarismus und die Freiheit der Anderen Libertäre definieren Freiheit als unpolitischen, absolut zu gelten habenden Zustand. Sie übersehen, dass Freiheit ein gesellschaftlicher Ressourcenkonflikt ist – ein interdependentes Gut, das nicht jeder gleichzeitig in Fülle halten kann. Justus J. Seuferle
- Die Wohnungspolitik muss umdenken In Großstädten spitzt sich die Wohnungsnot weiter zu: Lange Schlangen vor Wohnungsbesichtigungen gehören zu Berlins Stadtbild ebenso wie der Fernsehturm und blau gefärbte Haare. Bund, Länder und Kommunen sollten posthum auf den ehemaligen SPD-Vorsitzenden Hans-Jochen Vogel hören. Nikita Hollmann
- Nullrunde beim Bürgergeld: Sparen auf Kosten von Kaufkraft und Konjunktur Mit den Bürgergeld-Nullrunden 2025 und 2026 drohen reale Kürzungen – was Folgen für Kaufkraft, Konsum und Konjunktur hat. Als Sparmaßnahme verkauft, sind es am Ende negative Impulse für das Wirtschaftswachstum. Malte Kornfeld
- Die blinden Flecken beim Streit um den Sozialstaat Der Streit ums Bürgergeld betrifft nicht nur sozialpolitische Kontroversen, er zeigt auch eine Unfähigkeit der herrschenden Wirtschaftspolitik, den Wandel von der Industrie- zur Dienstleistungsökonomie zu begreifen. Hartmut Reiners
- Der wirtschaftliche Aufstieg Europas lässt sich nicht allein mit dem Kolonialismus erklären Was hat die industrielle Revolution ausgelöst? Die Historiker Friedrich Lenger, Maxine Berg und Pat Hudson widerlegen verbreitete Erklärungsmodelle. Tobas Straumann
- Rüstung als Jobmotor? Deutschlands Wirtschaft stagniert: Forschungsinstitute senken Prognosen, Arbeitslosigkeit steigt über drei Millionen, die Industrie baut Jobs ab. Hoffnungsträger sind Bau, Dienstleistungen und steigende Reallöhne – doch die Regierung setzt vor allem auf die Rüstungsindustrie als Job- und Wachstumsmotor. Hans-Peter Roll
- Frankreich: Mit Kürzungen in die Krise Frankreichs Premierminister Bayrou hat in der Nationalversammlung die Vertrauensfrage gestellt – und erwartungsgemäß verloren. Sein radikales Kürzungsprogramm stieß nicht nur im Unterhaus des Parlaments auf Ablehnung, sondern entfachte Proteste auf den Straßen der Republik. Die Redaktion
- Energiewende kann nur der Staat Der grüne Umbau funktioniert nur, wenn der Staat die Führung übernimmt – und gleichzeitig die Bevölkerung mitnimmt. Julien Niemann