KLIMAWANDEL

Bewusstseinskultur in der Klimakrise

| 03. Oktober 2023
IMAGO / Panama Pictures

Der Philosoph Thomas Metzinger glaubt nicht, dass wir die Klimakrise abwenden können. Er plädiert für Lösungen, die auch in einer historischen Periode des Scheiterns funktionieren.

„Was uns fehlt, ist ein neues Leitbild, ein kultureller Kontext für die sich beschleunigende planetare Krise.“ – Thomas Metzinger: Bewußtseinskultur. Berlin Verlag, Kapitel 1

Seit Anbeginn ihrer Geschichte sind die Menschen darauf orientiert, ihr Leben und das ihrer Gemeinschaft, Familie und Sippe zu erhalten. Krisen müssen bewältigt werden und das Leben muss weitergehen. In der Moderne kommt etwas Wesentliches hinzu: Veränderung und Entwicklung.

Moderne Gesellschaften funktionieren, indem sie ihre Reproduktionsprobleme durch Evolution lösen. Stillstand wäre Krise. Jede Generation muss Neues kreieren und sich mit Neuem auseinandersetzen: neuen Produkten, neuen Verfahren, veränderten Institutionen, anderen Sozialstrukturen und Milieus. Dabei gab es die übergreifende Erwartung, dass es durch das Neue besser wird. Produktivere Verfahren und Produktionsmittel, neue und zusätzliche wissenschaftliche Erkenntnisse, neue Bedürfnisse und Erfahrungen, gegebenenfalls steigende Einkommen und eine wachsende Bevölkerung.  

Entbehrungen gab es, sie waren auf soziale Ungleichheit zurückzuführen, gegen die durch Reformen, Klassenkampf und Revolutionen gekämpft werden konnte ‒ mal mit mehr, mal mit weniger Erfolg. Entwicklung schien der Weg, um Entbehrung und Verelendung zu überwinden oder doch in Grenzen zu halten. Moderne Gesellschaften sind Aufstiegsgesellschaften, die sich durch Evolution stabilisieren; das ist ihr Narrativ und der Unterschied zur Vormoderne.

Nun aber steckt die Zivilisation in einer existenziellen Krise. Es fehlt nicht nur die Fortschrittszuversicht, es droht der Abstieg. Der mit der globalen Klimakrise verbundene Perspektivwechsel ist gravierend. Noch ist nicht ausgemacht, wie es ausgeht. Wird es durch eine Zeit sinkenden Lebensstandards, erhöhter Sterblichkeit und sinkender Lebenserwartung hindurch zu einer Stabilisierung kommen? Das wäre der günstigste Fall. Aber wie viele Menschen werden danach noch existieren? Oder wird es zu Klimakriegen und zum Tod vieler Menschen durch Hunger, Vertreibung, Hitze und Krankheit kommen? Wie viele werden dann noch überleben und wie?[1]

Das Aussterben des homo Sapiens ist eine weitere Möglichkeit. Wird die Menschheit gänzlich untergehen, bis in einigen Millionen Jahren das Artensterben aufhört und aus den verbliebenen Lebensformen eine neue biologische Evolution mit ganz neuen Arten einsetzt – was auch die Möglichkeit eines anderen intelligenten Lebens einschließen kann? Man kann nicht ausschließen, dass bislang unbekannte Faktoren oder auch kosmische Ereignisse als „Schwarze Schwäne“ zu unerwarteten Wendungen führen ‒ zum Guten oder zum Schlechten.

Sich mit dem eigenen Niedergang oder sogar Untergang ohne Ausweg auseinandersetzen zu müssen, ist eine für die Zivilisation ganz neue und ungewohnte Perspektive. Über viele Jahrtausende reprodozierte sich die Menschheit qualitativ und quantitativ auf etwa gleichbleibenden Niveau. Vor etwa 12.000 Jahren gab es weniger als zwei Millionen Menschen. Mit den agrarischen Produktionsweisen erweiterte sich der Lebensraum und die Zahl der Menschen, die auf einer Fläche leben konnten, stieg. Im Jahre Null unserer Zeit betrug die Zahl weniger als 200 Millionen, zu Beginn der industriellen Revolution waren es etwa 600 Millionen.

Mit der industriellen Revolution und dem Kapitalismus entstand die Moderne. Hier ist die permanente Evolution institutionell verankert: Wirtschaftlich mit Innovationen, Unternehmertum, Märkten, Regulierung der Entwicklung. Politisch durch die Evolution von Institutionen und kulturell in Form von Wissenschaft, Bildung und Kunst. Dabei verändern sich auch die Lebensweisen. Das mag anfangs noch langsam erfolgt sein. Aber nach 1950 beschleunigte sich diese Entwicklung. Die Veränderung der Gesellschaft wie auch der Lebensweisen verliefen schneller als der Generationswechsel. Innerhalb einer Generation mussten sich Menschen an eine sich verändernde Welt anpassen und deren Veränderung nicht nur erleiden, sondern auch erfahren und lernen, sie zu ihrem Vorteil zu gestalten.

Zwischen 1950 und 1970 bzw. 1980 entstanden in den entwickelten Ländern der Moderne ein Wirtschaftssystem und eine Kultur, die die permanente Verbesserung des Lebens zur Normalität werden ließen – nicht für alle, aber für die überwiegende Mehrheit. Den Kindern wird es einmal besser gehen als den Eltern und den Enkeln noch mehr. Die Weltbevölkerung stieg in 300 Jahren von 600 Millionen auf etwa 8 Milliarden Menschen an. Bildung, Genüsse, steigende Lebenserwartung, größere Wohnungen oder Fernreisen – heute erweisen sich viele dieser Errungenschaften als problematisch, prekär und nicht mehr haltbar: Mobilität, täglich Fleisch, große Wohnungen, Heizung und Kühlung und vieles mehr. Für den Umgang damit, für den Übergang aus der Erwartung von Fortschritt und Entwicklung hin zu Niedergang oder sogar Untergang ergibt sich eine dramatische Identitätskrise.

Dass es ein gesellschaftliches Bewusstsein für diese Situation nicht gibt, ist das Thema des Philosophen Thomas Metzinger. Er hält ein neues kulturelles Leitbild, eine „Bewusstseinskultur“ für nötig. Was Metzinger meint ist etwas, „das im tatsächlichen Leben einzelner Menschen und Länder auch dann trägt, wenn die Menschheit als ganze scheitert.“

Von dem Scheitern geht Metzinger aus. Auch wenn die Erderwärmung aus physikalischer Perspektive noch unter 1,5 °C oder vielleicht 2 °C zu halten ist, „aus psychologischer, aus kognitions- und politikwissenschaftlicher Sicht ist es das eben nicht“, sagt er. Auf politischer Ebene hätten wir „unsere eigene Selbsttäuschung (…) erfolgreich organisiert.“ Um überhaupt noch zu retten, was zu retten ist, brauche es einen „Realismus, der auf eine neue Ebene gehoben werden muss.“ Und weiter: „Die Lösung, die es zu entwickeln gilt, muss auch in einer historischen Periode des Scheiterns funktionieren. (…) Man kann das Richtige tun, einfach weil es das Richtige ist. Das nenne ich das ‚Prinzip Selbstachtung‘.“

Die Trisolaris-Trilogie von Liu Cixin

Die psychologischen und kognitiven Folgen des Scheiterns thematisiert in Form der Science-Fiction auch die Trisolaris-Trilogie des chinesischen Schriftstellers Liu Cixin. Die Trilogie erzählt von einer außerirdischen Zivilisation auf der Suche nach einem neuen Planeten. Ihr Heimatplanet in vier Lichtjahren Entfernung bietet zunehmend unwirtliche Lebensbedingungen. Zudem steht dessen Vernichtung durch eine Umwandlung einer der drei Sonnen in einen Roten Riesen innerhalb der nächsten Jahrhunderte bevor. Die Trisolarier, eine den Menschen technisch weit überlegene Zivilisation, haben die Erde als mögliche neue Heimat im Visier und wollen dort in etwa 400 Jahren (so lange dauert die Reise) mit einer Invasionsraumflotte landen. Sie kündigen dies der Erde an, weil sie aufgrund der Konstruktion ihres Gehirns nicht lügen können. Die Menschheit als die weniger entwickelte Zivilisation soll ihnen freiwillig Platz machen, das finden sie selbstverständlich. Die zum Zeitpunkt des Eintreffens der Trisolarier lebenden Menschen bleiben am Leben, aber sie werden keinen Nachwuchs mehr bekommen, so dass die Trisolarier nach 75 bis 100 Jahren die Erde für sich allein haben.

Natürlich rüstet die Erde zur Verteidigung, aber die Trisolarier schaffen es mit technischen Mitteln und durch aus der Menschheit rekrutierte Spione den technischen Fortschritt auf der Erde zu hemmen und Verteidigungsvorhaben zu unterlaufen.

Das für uns hier Relevante: Im Angesicht der zu erwartenden Invasion spaltet sich die Menschheit. Der größte Teil will sich verteidigen, auch wenn die Chancen gering sind. Ein zweite Gruppe resigniert, ergibt sich in das Schicksal und bereitet sich auf den Untergang vor. Ein dritte Gruppe begrüßt den Untergang der Menschheit und ihre Ablösung durch eine neue Zivilisation, die technologisch überlegen ist und von der man meint, sie sei auch kulturell und moralisch überlegen. Die Motivation wird mit der Lebensgeschichte von zwei Personen erzählt.

Die chinesische Astrophysikerin Ye Wenhjie musste als Studentin während der Kulturrevolution erleben, wie ihr Vater, ein berühmter Physikprofessor, von den Roten Garden massakriert und schließlich zu Tode gequält wurde, weil er an der Einsteinschen Relativitätstheorie festhielt, die angeblich dem dialektischen Materialismus widersprach. Seitdem sieht Wenhjie die Menschheit als niedere und hässliche Zivilisation, deren Untergang sie wünscht. Sie hat den Trisolariern die Position der Erde in der Galaxis verraten und sie über die dort klimatisch günstigen Verhältnisse unterrichtet, als sie in einer Radioteleskopstation arbeitete. Unter Umgehung des chinesischen Geheim- und Sicherheitsdienstes verrät Wenhjie die Erde, bietet den Trisolariern ihre Unterstützung an und wird später zur Vorsitzenden einer Organisation, die die künftigen Invasoren unterstützen will und deren Ankunft vorbereitet.

Die zweite wichtige Person ist der Amerikaner Mike Evans, Sohn eines Multimilliardärs, der sein Geld mit der umweltschädlichen Ölindustrie gemacht hat. Mike ist Biologe, lehnt die umweltschädlichen Geschäfte seines Vaters ab und versucht, sich dem Artensterben entgegenzustemmen, indem er selten gewordenen Vögeln einen neuen Lebensraum schafft. Sein Kampf scheint aussichtslos. Als er von Wenhjie über die in 400 Jahren bevorstehende Invasion der Trisolarier hört, entschließt er sich, das ererbte Milliardenvermögen zur Organisation der Trisolaris-Rebellen einzusetzen, jener Organisation, die die Trisolarier unterstützt und deren Ankunft vorbereiten will.

Interessant in unserem Zusammenhang ist die Motivation der Trisolaris-Rebellen. Weil sich die Menschheit als unfähig erwiesen hat, die wachsenden ökologischen und sozialen Probleme zu lösen und im Einklang mit der Natur zu leben und weil sie keine moralisch wertvolle Zivilisation ist, soll sie untergehen und durch die Trisolarier ersetzt werden.

„Evans zeigte auf die hinter ihm stehende Menschenmenge. ‚Das sind die ersten Mitglieder unserer globalen Erde-Trisolaris-Organisation. Uns alle verbindet ein Ziel – dass die Trisolaris-Zivilisation die Menschheit erneuert. Dass sie die Idiotie und die Boshaftigkeit beendet, damit die Erde wieder eine harmonische, blühende Umwelt bekommt und kein Unrecht mehr herrscht.‘“ ‒ Cixin Liu: Die drei Sonnen. German Edition. Heyne Verlag. Kindle-Version.

Selbstachtung statt Selbsthass

Das Erschütterndste an der Erde-Trisolaris-Organisation beschreibt Liu Cixin im Roman selbst: „dass so viele Menschen ihren Glauben an die menschliche Zivilisation restlos verloren hatten, die eigene Art hassten und mit Freuden Verrat an ihr begingen. Und dass vielen die Vernichtung der menschlichen Spezies, eingeschlossen der eigenen Person, der eigenen Enkelkinder, als das höchste Ideal galt.“

Natürlich geht die Rechnung nicht auf. Jeder mag selbst und für sich herausfinden, ob der Schluss ein glücklicher ist oder nicht. Oder ob das Ende einfach „Jenseits der Zeit“ ist. Der Autor schreibt im Nachwort:

„Es gibt einen seltsamen Widerspruch, der in der Naivität und Gutherzigkeit der Menschheit dem Universum gegenüber zutage tritt: Auf der Erde kommen die Menschen auf einen fremden Kontinent und zerstören dort mit Krieg und Seuchen die verwandten Zivilisationen, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden. Aber wenn sie zu den Sternen emporblicken, werden sie sentimental und glauben, dass es sich bei außerirdischen Intelligenzen, wenn es sie gibt, um Zivilisationen handeln müsse, die an universelle, edle moralische Regeln gebunden sind, als wäre es Teil eines offensichtlichen allgemeinen Verhaltenskodex, verschiedenste Lebensformen zu lieben und zu schätzen. Ich finde, dass es eigentlich genau andersherum sein sollte: Wir sollten die Freundlichkeit, die wir den Sternen entgegenbringen, auf die Angehörigen der menschlichen Art auf der Erde richten und Vertrauen und Verständnis zwischen den verschiedenen Völkern und Zivilisationen der Menschheit aufbauen.“

Was sollten wir tun? Vielleicht dreigleisig fahren. Schellnhubers Transformation in Gang setzen, Metzingers „Bewusstseinskultur“ lesen und intellektuell redlich werden, mit der „Lauterkeit der Absicht, sich selbst gegenüber aufrichtig zu sein“ (Kant zitiert in Metzinger) – auch und gerade in der Krise und im möglichen Untergang. Aber drittens auch die Hoffnung auf die Möglichkeit moralischer Integrität nicht aufgeben.

Eine Kultur der Selbstachtung in der planetaren Krise könnte verhindern, dass Menschen übereinander herfallen. Um das letzte Brot oder die letzte kühle Behausung zu erobern oder einfach nur aus Rache und Verzweiflung. Könnte es gelingen?

---------------------

[1] Siehe auch Bruno Deiss (2022): Fermi Paradoxon, Intelligentes Leben im Universum, Kopernikanisches Prinzip. In Urknall, Weltall und das Leben. Es versteht sich, dass dies keine Prognose ist, sondern ein stochastisches Modell, das sich aus Möglichkeit aus der Wahrscheinlichkeitstheorie ergibt.