Editorial

Die Mystik des Finanzkapitalismus

| 26. September 2024
@midjourney

Liebe Leserinnen und Leser,

just am Tag der zweiten Zinssenkung durch die EZB – dem 18. September – kündigte auch die Fed ihre Zinswende an. Dem voraus gegangen war eine längere Episode der Zinserhöhungen, die mit wenigen Ausnahmen alle Zentralbanken weltweit tätigten. Doch mit welcher Begründung? Ist Zinspolitik überhaupt das richtige Rezept, um die Inflation zu bekämpfen?

Obwohl die US-Notenbank laut Jörg Bibow sehr wohl verstand, dass „Geldpolitik kein angemessenes Mittel bereithält, um Angebotsstörungen zu beheben“, hat sie diesen geldpolitischen Weg dennoch beschritten. Um die Inflationserwartungen bei Geschäftsbanken, Unternehmen, Staaten und Verbrauchern einzudämmen, wollten EZB und Fed den Preisschocks begegnen, die von coronabedingten Störungen im internationalen Handel und der Energiekrise aufgrund des Ukraine-Kriegs ausgingen.

Auf den ersten Blick mit Erfolg: Die Inflation ging weltweit zurück und zumindest in den USA wuchs die Wirtschaft trotz Zinserhöhungen ununterbrochen weiter. Allerdings hat diese Geschichte einen wesentlichen Haken: Wie kann es sein, dass die Preissteigerungen in den USA bereits im Juni 2022 ihren Höhepunkt erreichten, nachdem die Fed ihre Zinssätze erst drei Monate zuvor um 0,75 Prozent erhöht hatte? Der US-Ökonom James K. Galbraith konstatiert auf MAKROSKOP sarkastisch: Der Vorsitzende der Fed, James Powell, hätte „2022 ‚seinen Zauberstab geschwungen‘ und seinen Schamanen erlaubt, ihm die Lorbeeren für Entwicklungen zu überreichen, die längst im Gange waren.“

Vielleicht ist es in der Finanzwelt so, wie mit der Astrologie: Man schreibt den Entwicklungen eine „vermeintlich tiefere Bedeutung“ zu, konstatiert Dirk Bezemer in Anlehnung an den Philosophen Slavoj Žižek: „Selbst wenn Beobachtungen oder Symptome an sich klar sind, verbergen sie (so glaubt man) einen dunklen und tiefen Inhalt, den der Analytiker – der Psychoanalytiker, der Fußballexperte, der Astrologe und sogar der Finanzkommentator – entdecken muss.“

Anscheinend ist den Schamanen und Astrologen der Finanzwelt die naheliegende Erklärung, es handele sich um einmalige angebotsseitige Preisschocks, die wieder abgeklungen sind, nicht tiefgründig und mystisch genug.

Diese und weitere Artikel finden Sie in unserer neuen Ausgabe:

  • Federal Reserve lockert ihren Kurs Die Federal Reserve, Amerikas Zentralbank und Hüterin der Weltwährung US-Dollar, hat ihren Leitzins gesenkt – und eine geldpolitische Zeitenwende für Amerika und die Welt eingeleitet. Doch wohin geht die Reise jetzt? Jörg Bibow
  • Die Schamanen der Inflation Die Zinssenkung der US-Notenbank erntet das Lob der Ökonomen: Sie hätte nicht nur die Inflation eingedämmt, sondern auch Wachstum und das hohe Beschäftigungsniveau erhalten. Die Daten zeigen jedoch, dass die Geldpolitik weitgehend bedeutungslos war. James K. Galbraith
  • Ein neuer Werkzeugkasten gegen die Inflation In Zeiten, in denen Klimawandel und geopolitische Auseinandersetzungen globalen Lieferketten zusetzen, kann der Zinshammer sein Ziel verfehlen. Wie es besser gehen kann, zeigt Isabella Weber mit ihrer Arbeit zu Preisschocks. Leonhard Ipsen
  • Aktien und Astrologie Das Kapital fließt in alle Richtungen – aber nicht unbedingt zu den besten Unternehmen. Und so behindert es die produzierende Wirtschaft oft mehr, als dass es sie unterstützt. Dirk Bezemer
  • Der Untergang von Keynes‘ Vermächtnis Der Versuch, ein völlig unrealistisches Wachstumsziel bei Vollbeschäftigung zu erreichen, führte zum Untergang von Keynes‘ Vermächtnis: dem "goldenen Zeitalter" des Kapitalismus. Ann Pettifor
  • Erzwungene Deindustrialisierung? Schwächte die Klimapolitik der Ampel die deutsche Industrie? Was gegen die Thesen Hans-Werner Sinns spricht. Lukas Poths
  • Alles wird gut Die USA werden wieder Vereinigte Staaten: Wie und warum die Polarisierung überwunden wird. Werner Polster
  • Soll der Sozialstaat nur für die Bedürftigen sorgen? Ex-Caritas-Chef Georg Cremer fordert eine Rückbesinnung der Sozialpolitik auf ihre Kernaufgaben: die Unterstützung von Bedürftigen und Hilfe zur Selbsthilfe. Sein Vorschlag geht an den Strukturproblemen des Sozialstaats vorbei – und würde die Absicherung sozialer Risiken verteuern. Hartmut Reiners
  • MMT-Kritik unter Vorbehalt Der Politologe Ingo Stützle bemüht sich um eine marxistische Kritik an der Modern Monetary Theory. Zwar stellt er einige valide Kritikpunkt heraus – etwa die mangelnde Berücksichtigung von Machtverhältnissen. Doch ist seine Gegendarstellung kaum weniger machtblind. Malte Kornfeld