Gesundheitspolitische Ignoranz
Dem wachsenden Defizit der Krankenkassen will Karl Lauterbach mit einem missratenen Gesetz begegnen. Schon wittert die FAZ die Gefahr einer „Bürgerversicherung durch die Hintertür“.
Die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) schiebt seit einiger Zeit ein riesiges Defizit vor sich her, das Gesundheitsminister Lauterbach mit einem GKV-Finanzstabilisierungsgesetz vorläufig beheben will. Doch ist das Gesetz, das am 23. September vom Bundestag in erster Lesung behandelt wurde, dafür wirklich geeignet? Die Zusatzbeiträge zur GKV sollen um durchschnittlich 0,3 Prozentpunkte angehoben werden, womit aber bestenfalls ein Drittel des Defizits von über 17 Milliarden Euro abgedeckt werden kann. Der Rest soll mit verschiedenen Sparmaßnahmen zusammengekratzt werden, die meist reine Luftbuchungen sind.
Dass Karl Lauterbach keinen durchdachten Sanierungsplan hat, zeigt sich schon daran, dass erst im kommenden Frühjahr weitere Schritte folgen sollen. Wie die aussehen könnten, weiß Lauterbach offenbar selbst nicht, sonst hätte er schon jetzt entsprechende Maßnahmen eingeleitet. Der für Gesundheitspolitik zuständige Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) Christian Gleinitz hat völlig Recht, wenn er in diesem Gesetzentwurf einen Akt der „Hilflosigkeit“ sieht.
Bürgerversicherung durch die Hintertür?
Aber Gleinitz versteigt sich auch zu der steilen These, dieser „kläglichen Notbehelf“ sei indirekt Wasser auf die Mühlen der Befürworter einer Bürgerkrankenversicherung. Es sei ein großer Fehler der FDP und des Finanzministers Christian Lindner, die im Koalitionsvertrag vereinbarte regelhafte Dynamisierung des Bundeszuschusses zur Krankenversicherung von Hartz-IV-Empfängern als Ansatz zur Sanierung der GKV-Finanzen zu blockieren.
Damit laufe man Gefahr, „dass die SPD und die Grünen mit ihrer Forderung Morgenluft wittern, die Bürgerversicherung einzuführen.“ Die Stimmen, die eine Anhebung der Beitragsbemessungs- und Versicherungspflichtgrenzen (BBG, VPG) fordern und damit den Weg in der Bürgerversicherung weisen, würden immer lauter. Er nennt hier keine Namen, aber er bezieht sich wohl auf den stellvertretenden Vorsitzenden der Unions-Fraktion im Bundestag Sepp Müller. Dieser hatte Anfang September in der FAZ die Anhebung der BBG in GKV auf das in der Rentenversicherung geltende Niveau ins Gespräch gebracht.
Greinitz holt zu einem Rundumschlag gegen jeden Anflug einer Bürgerversicherung aus, die für ihn ein Gott sei bei uns zu sein scheint. In bewundernswerter Kürze fasst er all den Unsinn zusammen, der über dieses Projekt unterwegs ist:
„Eine Bürgerversicherung durch die Hintertür ist der falsche Weg. Die Ausdünnung der PKV führt, wie die Einheitskassen anderswo zeigen, zu einer schlechteren Versorgung und weniger medizinischer Innovation. Höhere Bemessungsgrenzen treiben die Lohnzusatzkosten an, sie belasten nicht nur die gebeutelte Mittelschicht, sondern auch deren Arbeitgeber. Überdies würde das Umlageverfahren immer weniger zukunftsfest und beitragsintensiver, weil im Gegensatz zur PKV in der alternden Gesellschaft nicht über Altersrückstellungen verfügt.“
Teure private Krankenversicherung
Die Behauptung, „Einheitskassen“ hätten sich international im Vergleich zu privaten Krankenversicherungen als weniger effektiv erwiesen, ist schon deshalb eine Erfindung von Christian Gleinitz, weil es ein duales System von Gesetzlicher und Privater Krankenversicherung (GKV, PKV) als Vollversicherungen nur in Deutschland gibt. Internationale Vergleiche sind diesbezüglich also gar nicht möglich
Man kann allenfalls die USA als Beispiel heranziehen, wo nur knapp die Hälfte der Gesundheitsausgaben öffentlich finanziert werden und private Versicherungsgesellschaften einen Teil der betrieblichen Krankenversicherungen (Health Plans) durchführen. Das US-Gesundheitswesen ist völlig überteuert und gilt als hochgradig ineffektiv. Die Pro-Kopf-Ausgaben sind doppelt so hoch wie in Deutschland, ebenso die Verwaltungskosten. Seine BIP-Quote liegt bei 17 Prozent (Deutschland 12 Prozent). Nach einer 2020 veröffentlichten WHO-Studie haben in den USA 14 Prozent der 18- bis 64-Jährigen keinen Krankenversicherungsschutz, 45 Prozent sind unterversichert.
Man muss aber gar nicht auf die USA verweisen, um die ökonomischen Defizite privater Versicherungssysteme zu illustrieren. In Deutschland gibt die PKV für die gleichen medizinischen Behandlungen 30 Prozent mehr aus als die GKV. Das Wissenschaftliche Instituts der PKV (WIP) errechnet regelmäßig, wie hoch die Ausgaben der PKV wären, wenn sie ihre Leistungen wie die GKV vergüten würde. Insgesamt lagen 2020 ihre Ausgaben für die gleichen Leistungen um durchschnittlich 30,7 Prozent über denen der GKV. Diese Differenz ist in den einzelnen Versorgungsbereichen unterschiedlich:
- Die Arztpraxen hätten für Privatpatientinnen und -patienten 52,4 Prozent weniger eingenommen, wenn die PKV die gleichen Vergütungen wie die GKV erstatten würde.
- Die Ausgaben für die stationäre Versorgung sind genauso hoch wie die der GKV, weil die PKV die gleichen DRG-Fallpauschalen zahlt. Der Privatpatienten-Status ist von einer Zusatzversicherung abhängig, die auch etwa 6 Millionen GKV-Mitglieder haben. Eine bessere Versorgung ist damit nicht verbunden, nur Ein- oder Zwei-Bett-Zimmer und medizinisch überflüssige Chefarztvisiten.
- Für Arzneimittel zahlen PKV und GKV die gleichen Apothekenpreise, wobei der GKV gesetzlich vorgegebene Rabatte gewährt werden.
- Bei den Heilmitteln schlagen vor allem die von der PKV gezahlten höheren Vergütungen für Physiotherapie und andere nicht-ärztliche Gesundheitsberufe zu Buche.
- Die Ausgaben für zahnmedizinische Behandlungen haben wegen der auch für GKV-Versicherte geltenden privaten Abrechnung für Zahnersatzleistungen einen besonders großen Unterschied zwischen GKV und PKV. Die GKV zahlt nur einen Festzuschuss, hat aber auf die Vergütung keinen Einfluss.
- Die PKV hat fast doppelt so hohe Verwaltungsausgaben wie die GKV. Sie beliefen sich 2020 auf 8,6 Prozent der Beitragseinnahmen, in der GKV lagen sie bei 4,5 Prozent.
Bessere Versorgung für PKV-Mitglieder?
Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass PKV-Mitglieder in den Arztpraxen besser behandelt werden die der GKV. Sie erhalten nur schneller einen Termin, vor allem in Facharztpraxen. Als Beihilfeempfänger und damit Privatpatient weiß ich, wovon ich da rede.
Auch die Behauptung von Christian Gleinitz, die PKV fördere die medizinische Innovation, ist breitgetretener Quark. Für die Leistungen der GKV gilt der Grundsatz der evidenzbasierten Medizin, das heißt, die Krankenkassen tragen alle Leistungen, die nach dem Stand der medizinischen Wissenschaft zur Behandlung einer Krankheit erforderlich sind.
Näheres regelt der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA), eine vom GKV-Spitzenverband, der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) und der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG) getragene Institution. Sie wird von zwei wissenschaftlichen Institutionen fachlich unterstützt, die die Entwicklung in der medizinischen Wissenschaft und von Konzepten zur Qualitätssicherung in der Medizin verfolgen und entsprechende Empfehlungen aussprechen.
Solche die Versorgungsqualität sichernden Instrumente hat die PKV nicht, aber sie profitiert indirekt von deren Arbeitsergebnissen. Die Hälfte ihrer Mitglieder sind Leute wie ich, die durch ihren Beamtenstatus staatliche Beihilfe bekommen. Deren Leistungen sind an die der GKV gebunden.
Generationengerechte PKV?
Auch die Behauptung, die PKV sei mit ihren Rückstellungen demografiefester als die GKV und biete damit mehr Generationengerechtigkeit, gehört in die Kategorie „breit getretener Quark“. Etwa ein Drittel der Beitragseinnahmen der PKV gehen in einen mittlerweile über 300 Milliarden Euro starken Fonds, aus dem die mit dem Alter wachsenden Behandlungskosten gestützt werden, die sonst zu ständig wachsenden Beiträgen führen würden.
Die Behauptung, die PKV sichere damit die Alterungsrisiken effektiver ab als die umlagefinanzierte GKV, resultiert aus der seltsamen Vorstellung, man könne die Kosten für in der Zukunft anfallende Leistungen bereits heute quasi als Vorschuss bezahlen. Das ist eine Illusion.
Arzt-und Krankenhausrechnungen werden dann bezahlt, wenn die Behandlungen konkret anfallen. Ein wesentlicher Unterschied zwischen dem Umlagesystem der GKV und der Kapitaldeckung von Alterungsrisiken in der PKV besteht im jeweiligen finanziellen Gewährleistungsträger. In der GKV ist es die Versichertengemeinde, in der PKV der Kapitalmarkt. Jetzt die Preisfrage: Wer von beiden ist vertrauenswürdiger?
Religion „sehr gut“, Kopfrechnen „schwach“
Es ist ärgerlich, wie Christian Gleinitz mit seinen faktenfreien Behauptungen einen Popanz aufbaut und nachplappert, was die Versicherungswirtschaft verkündet, um ihr Geschäftsmodell schön zu reden. Als glaubensfester Anhänger der neoklassischen Marktökonomie überträgt er deren Dogmen unbesehen auf das Gesundheitswesen. In den Zeugnissen katholischer Zwergschulen wurde früher die Begabungen von entsprechenden Schülern schon mal mit „Religion sehr gut, Kopfrechnen schwach“ bewertet.
Die Furcht vor einer „Bürgerversicherung durch die Hintertür“ ist außerdem bei einem Gesundheitsminister unbegründet, der lieber die Cassandra einer dauerhaften Pandemie spielt, als sich um das mühselige Geschäft einer Reform der GKV-Finanzen und der Versorgungsstrukturen im Gesundheitswesen zu kümmern.