EU-Wirtschaftspolitik: vom Zeitgeist überholt
Liebe Leserinnen und Leser,
die Wirtschaftspolitik der Europäischen Union wirkt zunehmend antiquiert. Bei ihrer Gründung noch ganz im Geiste der neoliberalen Ära konstruiert, ticken die Uhren mittlerweile anders. Die Industriepolitik ist zurück – zumindest in den größten Volkswirtschaften: Während diese in den USA spätestens seit der Ära Biden ein Revival erfährt und mittlerweile vor allem über Zölle funktioniert, feiert Chinas staatskapitalistisches Modell seit den 1980er-Jahren einen fulminanten Aufstieg. Nicht verwunderlich also, dass sich in letzter Zeit die Stimmen für neue Wege der EU mehren.
So etwa Finanzminister Lars Klingbeil: In einer Rede an der Berliner Hertie School forderte er einen "Buy European"-Ansatz. Angelehnt an den Buy American Act als Antwort auf die Weltwirtschaftskrise 1933 soll er europäischen Anbietern bei Schlüsseltechnologien Vorrang einräumen. Doch die Europäische Kommission, Wirtschaftskreise und Mitgliedsstaaten sind skeptisch. Wettbewerbseingriffe und Protektionismus widersprechen der europäischen Grundidee eines freien Binnenmarkts zutiefst.
Und das, obwohl dieser europäische Binnenmarkt alles andere als rund läuft. Aktuell erreicht der Eurozonen Einkaufsmanagerindex PMI auch mithilfe deutscher Unternehmen zwar den höchsten Stand seit 16 Monaten. Aber Deutschland geht es nur weniger schlecht als anderen Ländern wie Frankreich. Insofern wäre es verfrüht, von einer nachhaltigen Erholung zu sprechen. Denn die "strukturelle Schwäche des deutschen Modells bleibt bestehen: zu starke Exportabhängigkeit, zu wenig Investitionen in Infrastruktur und zu schwache Binnenkonjunktur", so unsere Redaktion in dieser Ausgabe.
Ohne grundlegende Reformen des fiskalpolitischen Regelwerks der Union ist eine Trendumkehr kaum machbar. Anstelle eines willkürlichen "3-Prozent-60 Prozent Regelwerk[s]" müsse den EU-Ländern ermöglicht werden, "den jeweils individuell erforderlichen Defizit- und Verschuldungsweg zu gehen", fordert der Volkswirt Wolfgang Blaas. Das neue Regelwerk könne im Sinne einer Ressourcenbasierten Finanzordnung ausgestaltet sein, an der MAKROSKOP arbeitet.
Alle Artikel dieser Ausgaben:
- Fundierte Schuldenregeln statt Maastricht-Willkür Die Defizit- und Verschuldungsregeln für die Öffentliche Hand (Maastricht-Kriterien) sind wirtschaftswissenschaftlich nicht begründet. Verschuldungsregeln müssen im gesamtwirtschaftlichen Zusammenhang formuliert und national sowie zeitlich flexibel gestaltet werden. Wolfgang Blaas
- Eurozone wächst – Deutschland als schwache Stütze Die Eurozone meldet hohe Geschäftstätigkeit – getragen von Deutschland. Doch Frankreich und andere Mitgliedsländer stecken in der Rezession. Ohnehin spiegelt der PMI nur kurzfristige Stimmungs- und Auftragsdaten wider, nicht aber die gesamte konjunkturelle Lage. Die Redaktion
- Klingbeil fordert „Buy European“ – EU bleibt zögerlich Finanzminister Lars Klingbeil wirbt für eine industriepolitische Neuausrichtung der EU. Ein Vorrang europäischer Anbieter bei Schlüsseltechnologien sei denkbar – Details und Umsetzung sind jedoch noch offen. Die Redaktion
- Evelyn Palla übernimmt bei der Deutschen Bahn – neue Chancen für Finanzierungsspielräume Mit Evelyn Palla übernimmt erstmals eine Frau die Führung der Deutschen Bahn. Die bisherige DB-Regio-Chefin steht für operative Erfolge im Nahverkehr – und könnte damit auch Investitionsspielräume für den Gesamtkonzern stärken. Die Redaktion
- Die Federal Reserve in der Zwickmühle Die Fed senkt die Leitzinsen, doch die Probleme der Zentralbank bleiben bestehen: ein schwacher Arbeitsmarkt, hartnäckige Inflation – und massiver politischer Druck aus dem Weißen Haus. Jörg Bibow
- Sondervermögen als Heilbringer? Schwaches Wachstum, wackelige Beine und ein Sondervermögen, das weniger verspricht als erhofft: Warum Deutschland nur schwer aus der Krise findet. Hans-Peter Roll
- Mikrotransaktionen – Glücksspiel im Kinderzimmer Hinter kleinen Zahlungen für digitale Outfits und virtuelle Schatzkisten steht ein Milliardenmarkt. Mikrotransaktionen nutzen psychologische Anreize, rechtliche Grauzonen und schwache Regulierung. Kinder und Jugendliche rutschen in Mechanismen, die mehr Glücksspiel als an Gaming erinnern. Max Gerber
- Wenn der Staat sich selbst abschafft: Wie Beraterkonzerne Politik und Verwaltung dominieren Maskenaffäre, Krankenhaus-Deals, Cross-Border-Leasing: Immer öfter lagert die Politik ihre Aufgaben an globale Beratungsriesen aus – und verliert dabei nicht nur Milliarden, sondern auch Kompetenz. Herbert Storn
- Die Sinnlosigkeit der Geschichte und die Ursprünge von Protektionismus und Sklaverei Warum Länder eine protektionistische oder eine freihändlerische Tradition haben: Das lässt sich anhand eines einfachen Modells erklären. Aber ist das auch zulässig? Tobias Straumann
- Chatkontrolle in der EU – aber nicht für die Kommission Bürokraten löschen ihre Chats, Bürger sollen alles offenlegen: Willkommen in der EU-Logik, wo selektive Transparenz großgeschrieben wird. Martin Sonneborn
- Falsche Labels, echte Projekte Die Energiewende stockt – zwischen Atom-Debatte, Speicherstau und neuen Wüstenstromprojekten. Lukas Poths