Wenn der Staat sich selbst abschafft: Wie Beraterkonzerne Politik und Verwaltung dominieren
Maskenaffäre, Krankenhaus-Deals, Cross-Border-Leasing: Immer öfter lagert die Politik ihre Aufgaben an globale Beratungsriesen aus – und verliert dabei nicht nur Milliarden, sondern auch Kompetenz.
Während der Corona-Pandemie hatte das Bundesgesundheitsministerium (BMG) die Deloitte Consulting GmbH damit beauftragt, die Vertragsbeziehungen mit Masken-Lieferanten und Vernichtung der Lagerbestände abzuwickeln. Diese reichte den Auftrag weiter an die Prüfgesellschaft Ernst & Young als Unterauftragnehmer. Offenbar wurde das Projekt für das Ministerium jedoch trotzdem so komplex, dass der damalige Minister Lauterbach im Dezember 2024 entschied, die Roland Berger GmbH zu beauftragen, den Prozess mit Deloitte/EY zu steuern. Aber auch dafür gab es einen Unterauftragnehmer: die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG.
Damit waren allein in diesem Projekt vier Wirtschaftsprüfungsgesellschaften beteiligt! KPMG attestierte dem Bundesgesundheitsministerium schließlich gravierende Mängel. Der KPMG-Bericht, der wegen seines „besonders sensiblen“ Inhalts verzögert an die Sonderermittlerin Margaretha Sudhof weitergegeben worden war, nennt eine Fülle von Versäumnissen, die unter anderem darin lägen, dass „in der BMG-Organisation keine Person mit betriebswirtschaftlichem Hintergrund“ tätig sei.
Zugegeben: Es handelt sich hier nicht um einen politischen Entscheidungsprozess, aber immerhin um ein massives Abhängigkeitsverhältnis der Politik von privaten Beraterfirmen, darunter drei der weltgrößten.
Das Kompetenzproblem
Wie politische Entscheidungen zustandekommen, darüber gibt es zwar eine öffentliche Diskussion. Diese kreist aber meist ‚nur‘ um das Problem, dass durch Umfragen legitimierte Mehrheitsmeinungen bzw. sogar Mehrheitsüberzeugungen nicht zu entsprechenden politischen Entscheidungen führen und damit dem Grundprinzip von Demokratie widersprechen. Oft ist sogar das Gegenteil der Fall: die Regierung handelt klar gegen den Mehrheitswillen. Deshalb wächst der Frust in der Bevölkerung über ‚unsere Demokratie‘.
In der Regel werden dafür entsprechende Lobby-Einflüsse als Ursache genannt. Eher selten wird ein ganz anderer, aber strukturell ebenso wichtiger Grund genannt: das Problem der Politik-Beratung aufgrund fehlender Kompetenz und fachlicher Kapazitäten bei den politisch Verantwortlichen.
Privatisierung öffentlicher Güter
Im Laufe meiner Tätigkeit als Gewerkschafter der GEW und als Mitglied des Hauptpersonalrats der hessischen Lehrkräfte habe ich das mehrfach selbst erfahren – nicht zuletzt bei der Einführung der sogenannten ‚Neuen Verwaltungssteuerung‘ durch die hessische Landesregierung. Damit wurde die Firma Accenture beauftragt, die das Land Hessen über mehrere Jahre hinweg mit einem Datenverarbeitungssystem versah. Dieses wiederum sollte nach den Worten des damals regierenden Ministerpräsidenten Roland Koch (CDU) aus der Gebietskörperschaft des Öffentlichen Rechts einen „Konzern Land Hessen“ machen.
Die Umstellung von der kameralistischen Rechnungsführung zur doppelten Buchführung sollte den gleichen „Erfolgsdruck“ erzeugen wie in einem privaten Unternehmen. Der Leitfaden von Accenture sah vor, alles zu privatisieren, was nicht unbedingt vom Land geleistet werden musste. Der in öffentlicher Hand verbliebene Rest sollte beständig unter Kostendruck gesetzt werden, um weitere Mittel einzusparen. Dafür kassierte der Konzern mindestens eine halbe Milliarde Euro vom Land und ist heute einer der ganz großen Beraterkonzerne mit rund 800.000 Beschäftigten weltweit und einem Umsatz von 65 Millliarden US-Dollar. Seinen Sitz hat Accenture mittlerweile von den Bermudas nach Irland verlegt, beides steuerlich berüchtigte Firmensitze.
Der Staat verliert Kompetenz, die Berater-Konzerne wachsen
Die Beraterbranche ist heute hoch konzentriert, was ihren Einfluss noch vergrößert. Das Feld beherrschen in Form weitgehend unkontrollierter Großunternehmen die Big Four der Wirtschaftsprüfer: Pricewaterhouse Coopers, KPMG, EY und Deloitte, aber auch die Anwaltsfirmen mit jeweils tausenden von Rechtsanwälten wie Freshfields, Linklaters oder Clifford Chance.
Gerade den großen Anwaltskonzernen kommt beim Demokratieabbau eine erhebliche Bedeutung zu. Denn sie sind es, die fragwürdige Praktiken der Gewinnmaximierung rechtlich absichern; und zwar so, dass sich staatliche Organe daran die Zähne ausbeißen – wenn sie es denn überhaupt versuchen.
Das hat natürlich einen Hintergrund. Mit dem Aufbau der Beraterarmee des Privatkapitals korrespondiert auf der staatlichen und gemeinwirtschaftlichen Seite ein dramatischer Abbau von Sachkompetenzen in der Verwaltung des Staates und seiner Kommunen. In den letzten 30 Jahren vollzog sich ein gewaltiger Personalabbau im öffentlichen Dienst, der zum Teil aus finanzpolitischen Gründen erfolgte, zum anderen aber auch aus einer neoliberalen Ideologie der Parteien resultierte. Hier liegt bis heute eine große Schnittmenge von CDU, FDP und Grünen.
Eine der weitgehend unsichtbaren, aber umso schlimmeren Folgen ist: Bund, Länder und Kommunen können sogar die Gelder für Projekte, die bereits bewilligt sind, nicht ausgeben, weil ihnen das Personal für Ausschreibungen und Controlling fehlt. Die Folge war und ist, dass Staat und Kommunen sich immer mehr privaten „Beratern“ ausliefern, deren Expertise sie schließlich kaum noch beurteilen können.
Der „erste grüne Kämmerer einer deutschen Großstadt“ (taz vom 26.7.1993) Tom Koenigs holte sich in seiner Amtszeit von 1993 bis 1997 sogleich einen Berater von der Deutschen Bank. Noch heute leidet Frankfurt am Main unter den Folgen. Denn unter Koenigs trennte sich die Stadt von vielen Filetgrundstücken, die heute für Schulbauten fehlen. Vor allem wurde das Technische Rathaus verkauft und zurück geleast, was einen dreistelligen Millionenschaden für die Stadt zur Folge hatte. Gleichzeitig sorgte Koenings auch für einen beträchtlichen Personal- und damit Kompetenzabbau bei der Stadt.
„Cross-Border-Leasing“ Frankfurt am Main
Am 6. Juni 2003 beschloss der Frankfurter Vier-Parteien-Magistrat (aus CDU, SPD, Grünen und FDP), die gesamte Frankfurter U-Bahn für 99 Jahre an unbekannte US-Konzerne zu verleasen und dafür einmalig 100 Millionen Euro zu bekommen. Da zum damaligen Zeitpunkt in den USA langfristiger Besitz wie Eigentum behandelt wurde, war es möglich, hohe Abschreibungen auf die Vermögenswerte gewinn- und steuermindernd auf amerikanische Klienten zu übertragen. Es handelte sich also um ein Steuervermeidungsmodell.
Es erstaunte schon damals viele Zeitgenossen, dass wegen einer einmaligen Zahlung von 100 Millionen Euro für 99 Jahre die Verfügbarkeit über die gesamte Frankfurter U-Bahn durch ein umfangreiches kompliziertes juristisches Vertragswerk drastisch eingeschränkt werden sollte.
Reihenweise erlagen in dieser Zeit deutsche und europäische Kommunen der Versuchung, Teile ihrer Infrastruktur für einen geringen Barwertvorteil an US-Banken zu verleasen, bis das Steuerschlupfloch schließlich geschlossen wurde.
Am 18. September 2003 konnte durch den Widerstand der Bürgerinitiative „Rettet die U-Bahn“ mit 48.000 gesammelten Unterschriften schließlich der Abbruch der Verhandlungen erreicht werden.
Ähnliches gilt für die großen Public-Private-Partnership-Modelle (PPP) vorwiegend in der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts, mit denen Berater, Baukonzerne und Banken öffentliche Projekte umetzten, deren Konditionen in der Regel letztlich zu Lasten von Staat und Kommunen gingen.
Streng vertrauliche Restrukturierungskonzepte
Erst jüngst wurde die sogenannte Restrukturierung des einzigen Krankenhauses in städtischer Hand in Frankfurt-Höchst, Varisano, in die Hand des milliardenschweren Beraterkonzerns KPMG gegeben und dann so vertraulich behandelt, dass eine öffentliche Debatte unmöglich ist. Und dies, obwohl immer wieder Nachschüsse in zweistelliger Millionenhöhe vom Stadtparlament bewilligt werden mussten. Die Klinikapotheke wurde outgesourct und in die Hand einer privaten Großapotheke gegeben. Dies, obwohl Klinikapotheken nach Meinung des Verbands der Klinikapotheker aus Gesundheitsgründen grundsätzlich in ihrer Rolle im Krankenhaus aufgewertet werden sollten und außerdem eine nicht unwichtige Einnahmequelle für die Kliniken sind. Proteste wurden ignoriert.
Die Geschäftsführer und der Aufsichtsratsvorsitzende des Klinikverbunds kamen aus dem privaten Kliniksektor bzw. aus einem der großen privaten Beraterkonzerne – in diesem Fall PricewaterhouseCoopers. In der Welt dieser Konzerne stehen Rendite und Wettbewerbsfähigkeit im Vordergrund. In sieben Jahren wurden die Geschäftsführer sieben Mal gewechselt.
Die Strukturvorschläge, die von Beraterkonzernen wie PricewaterhouseCoopers oder KPMG kommen, werden durch die jeweiligen Koalitionen in den Kommunen meistens nur noch ‚abgesegnet‘.
Entlarvend – und auf naive Art sogar ehrlich – sind die Reaktionen von verantwortlichen Politikern der ersten Reihe, etwa aus der Kreistagssitzung der betroffenen Kliniken in Hofheim. In einer Bilanz des Bündnisses für eine sichere Gesundheitsversorgung im Main-Taunus-Kreis und Frankfurter Westen heißt es: Die Kreiskoalition aus CDU, Grünen und FDP stimmte geschlossen für eine Finanzierungsvereinbarung, welche die Schließung der Notaufnahme und Pneumologie in Hofheim zur Folge hat. Der Hinweis der Opposition, dass fast alle Abstimmenden keinen Zugang zu den zugrundeliegenden Daten und Gutachten hätten und gar nicht wüssten, worüber sie abstimmen, wurde mit einem Schulterzucken quittiert. Ein Bürgermeister kommentierte, er habe sich die KPMG-Unterlagen noch nicht anschauen können, aber er brauche das auch nicht. Man sollte Vertrauen in Geschäftsführung und Kreisausschuss haben. Ähnliche Statements kamen von grünen Kreistags-Mitgliedern nach der Sitzung.
Das Beispiel Wirecard
Gegenwärtig flimmert des Öfteren das Bild von Jan Marsalek, dem ehemaligen Wirecard-Vorstandsmitglied über die Fernsehbildschirme. Auch hier spielte die Beraterbranche eine unrühmliche Rolle. „Vier Jahre lang – bis zur Pleite des Unternehmens im Sommer 2020 – wollen weder die Bafin noch die Geldwäschebehörde FIU, die Staatsanwaltschaft, die Wirtschaftsprüfer von EY, die meisten Medien und viele Politiker (…) etwas gemerkt haben, dass es bei Wirecard nicht mit rechten Dingen zugehen könnte,“ schrieb die Berliner Zeitung 2021.
Das hat System, weil der Staat die Kontrolle allzugerne den Privaten überlässt, sich mit Aufsicht und Prüfungen zurückhält und in der Regel private Firmen einschaltet. Ernst & Young (EY) hatte Wirecard bis zuletzt keine Unregelmäßigkeiten, geschweige denn Betrug bescheinigt. Trotz dieses Versagens bekommt EY immer noch die meisten Aufträge von der Bundesregierung.