Brüsseler Spitzen

Für den Westen nichts Neues

| 28. September 2021
Rahulla Torabi

Wie auch immer die nächste deutsche Regierung aussehen mag und von welcher Koalition sie getragen werden wird, sie wird aller Wahrscheinlichkeit nach weiterhin Merkels (Nicht-)Linie folgen.

Unter den vielen erstaunlichen Ergebnissen der Bundestagswahl sticht der Beinahe-Tod der Linkspartei hervor. Ihre 9,2 Prozent von 2017 wurden auf 4,9 fast halbiert; dass sie überhaupt im Bundestag bleibt, liegt daran, dass sie drei Wahlkreise direkt gewonnen hat, wodurch die Fünf-Prozent-Hürde entfällt. Dennoch droht die innerlich stark gespaltene Partei, die einzig verbliebene Partei der deutschen Linken, in die Bedeutungslosigkeit abzusinken. Wie ernst ihre Krise ist, zeigt die Tatsache, dass sie bei den Erstwählern nur acht Prozent der Stimmen erreichte, dicht an der AfD, die mit sieben Prozent den letzten Platz belegte.

Der Untergang der Linken vereinfachte auf einen Schlag ein Bild, das vor der Abstimmung beispiellos ungeordnet ausgesehen hatte. Plötzlich gibt es keine Möglichkeit mehr für eine rot-grün-rote Regierungskoalition (R2G), sehr zur Erleichterung der Führungsspitzen der SPD und der Grünen. Nur noch zwei Koalitionen bleiben übrig, beide mit den Grünen und der FDP, die eine angeführt von der SPD unter Scholz mit 25,7 Prozent der Stimmen, nach 20,5 Prozent vor vier Jahren, die andere, die schwarz-grün-gelbe Jamaika-Variante, angeführt von der CDU/CSU unter Laschet, mit 24,1 Prozent nach 32,9 im Jahr 2017.

Keine Lust auf eine weitere GroKo

Eine entfernte dritte Möglichkeit bleibt eine weitere Große Koalition mit Scholz als Kanzler und Laschet oder einer anderen CDU-Figur als Vizekanzler. Darauf scheint aber niemand Lust zu haben, denn es weckt Erinnerungen an das Desaster nach der letzten Wahl, als Merkel/Scholz erst ein halbes Jahr nach der Wahl zustande kam, nachdem ein erster Jamaika-Versuch gescheitert war.

Es war interessant, am Wahlabend zu sehen, wie traumatisch die Erfahrungen der Jamaika-Verhandlungen 2017 für die deutsche politische Klasse gewesen sein müssen. Offenbar hatte Merkel sehr schnell die Kontrolle über das Verfahren verloren, nächtliche Besprechungen endeten in einem nicht endenden Durcheinander, niemand wusste, was überhaupt beschlossen worden war. Irgendwann wurde die FDP unter ihrem damaligen und jetzigen Vorsitzenden Lindner misstrauisch und vermutete, Merkel habe sich hinter ihrem Rücken längst mit den Grünen verständigt und plante, die Liberalen genauso ins Abseits zu drängen, wie sie es schon in ihrer zweiten Amtszeit von 2009 bis 2013 getan hatte; als Folge war die FDP damals an der Fünf-Prozent-Schwelle gescheitert. Am Ende brach Lindner aus Angst vor einer Wiederholung in einem spektakulären Schachzug, der ihn beinahe seine Führung kostete, die Verhandlungen ab.

Der Anfang von Merkels Ende

Im Nachhinein betrachtet war dies der Anfang von Merkels Ende. Ihre Partei machte sie für das schlechte Wahlergebnis von 32,9 Prozent, gegenüber 41,5 im Jahr 2013, und für den Aufstieg der AfD (12,6 Prozent) verantwortlich, beides mit der Grenzöffnung von 2015 in Zusammenhang stehend. Verheerende Ergebnisse bei mehreren Landtagswahlen in der zweiten Jahreshälfte 2018 schlossen sich an, in deren Folge Merkel als Parteivorsitzende zurücktrat, um im Gegenzug die Erlaubnis zu erhalten, ihre Amtszeit als Kanzlerin auszufüllen.

Allerdings verlangte dies von ihr, an einer Übergangsregelung für den Parteivorsitz und die anschließende Kanzlerkandidatur mitzuwirken. Dies aber ging gründlich schief, zunächst mit Annegret Kramp-Karrenbauer, die, von Merkel als CDU-Chefin eingesetzt, in Vorbereitung auf die nächste Bundestagswahl versuchte, die Partei vorsichtig von Merkels Flüchtlingspolitik zu distanzieren. Merkel war nicht amüsiert und zwang AKK bei erster Gelegenheit zum Rücktritt. Das Ganze endete dann mit Laschet, der einen Wahlkampf mit einem Programm, oder Nichtprogramm, zu führen hatte, das zugleich politische Erneuerung und volle Gefolgschaft gegenüber Merkel versprechen musste. Wie man gesehen hat, war dies zu viel verlangt, für ihn, aber wohl auch für fast jeden anderen.

Für die CDU hätte es sogar noch schlimmer kommen können. In den Umfragen wenige Wochen vor dem Wahltag lag sie bei rund 20 Prozent, dicht bei den Grünen und hinter der SPD mit 25 Prozent. Wenn Laschet am Ende die SPD fast einholen konnte, dann weil es ihm gelang, mit einer Art „Rote-Socken“-Kampagne in letzter Minute unentschlossene Wähler mit dem Schreckbild einer R2G-Koalition zu mobilisieren – eine Koalition, die Scholz wohl nie eingegangen wäre, die er aber aus taktischen Gründen nicht ausschließen konnte. Der wirkliche Gewinner war jedoch Christian Lindner, der in einer Schlüsselposition landete, in der er sowohl von den Grünen gebraucht wird, die diesmal um jeden Preis entschlossen sind, in die Regierung einzutreten, als auch von den beiden Kanzlerkandidaten Scholz und Laschet. Persönlich zieht er wohl Laschet vor, nachdem er mit ihm 2017 dessen Regierungskoalition in Nordrhein-Westfalen auf die Beine gestellt hatte.

Generationenwechsel

Dennoch, wohl in Erinnerung an das Jamaika-Desaster 2017, schlug Lindner wenige Stunden nach Bekanntwerden des Wahlergebnisses vor, dass FDP und Grüne sich zusammensetzen, um zu prüfen, ob sie sich auf ein gemeinsames Programm und einen dritten Partner, die SPD von Scholz oder die CDU/CSU von Laschet, einigen können. Möglicherweise signalisiert dies eine bevorstehende Neuausrichtung in der bürgerlichen Mitte des deutschen politischen Spektrums, ermöglicht durch den Generationswechsel, zwischen langjährigen politischen Feinden, durch unterschiedliche Lebensstile geteilt, gleichzeitig aber derselben wohlhabenden Mittelschicht angehörig. Nota bene dass FDP und Grüne bei den Erstwählern 23 bzw. 22 Prozent der Stimmen gewannen und damit sowohl die geschrumpften alten Zentrumsparteien als auch die ideologischen Außenseiter rechts und links mit Abstand distanzierten.

Selbst wenn Lindner und die Grünen sich für Scholz entscheiden würden, wäre dies jedoch noch weit davon entfernt, den Schwerpunkt der deutschen Politik nach links zu verschieben. Scholz präsentierte sich im Wahlkampf als legitimer Erbe von Angela Merkel, der dreieinhalb Jahre lang als Vizekanzler und Finanzminister unter ihr gedient hatte. Als Kandidat wurde er von einer Partei nominiert, die sonst schlicht niemanden hatte, einer Partei, in der viele ihn für viel zu weit rechts halten, um ein guter Sozialdemokrat zu sein. Außerdem glaubte kaum jemand in der SPD, dass Scholz jemals auch nur annähernd an einen Wahlsieg herankommen könnte; es gab sogar den Vorschlag, die Partei solle diesmal auf einen Kandidaten verzichten, um eine Demütigung zu vermeiden. Natürlich konnte niemand mit Merkels grotesken strategischen Fehlern bei der Auswahl ihrer Nachfolger in Partei und Staat und dem Übergang zu ihnen rechnen ‒ mit ihrer ressentimentgeladenen Abrechnung mit einer Partei, auf die gestützt sie so lange regiert hatte.

„Ein deutscher Finanzminister ist ein deutscher Finanzminister“

Abgesehen davon ist nichts in der deutschen Politik so tief verwurzelt wie die „extreme Mitte“ (Tariq Ali), und wenn die Wahl 2021 etwas bewiesen hat, dann das. In einem Kabinett Scholz, das wahrscheinlichste Ergebnis der Wahl, wird Christian Lindner das Finanzministerium beanspruchen und bekommen (es sei denn, die Grünen bestrafen Baerbock für ihre miserable Leistung als Kandidatin, indem sie sie in die zweite Reihe versetzen und sich ihrem Co-Vorsitzenden zuwenden, Robert Habeck, der angeblich ebenfalls Finanzminister werden will). Mit Lindner im Finanzministerium kann Scholz als Bundeskanzler sicher sein, dass die Haushaltspolitik dieselbe bleibt  wie unter Scholz als Finanzminister (der bei seinem Amtsantritt 2018 einem französischen Journalisten erklärte, der offenbar größere deutsche Beiträge zu „Europäischer Solidarität“ erwartete: „Ein deutscher Finanzminister ist ein deutscher Finanzminister“). 2017, während der ersten Jamaika-Verhandlungen, soll Emmanuel Macron gesagt haben, wenn Lindner es in die nächste deutsche Regierung schaffe, wäre er, Macron, tot. Vier Jahre später mag das mehr denn je gelten.

Im ersten Halbjahr 2022 wechselt die, im Wesentlichen rituelle und symbolische, „Präsidentschaft“ der Europäischen Union nach Frankreich, wo sich Macron im April zur Wiederwahl stellen muss. Geplant ist, dass er bei mehreren öffentlichen Anlässen die Trophäen seiner europäischen Vormachtstellung vorzeigen soll. Bei einem Finanzminister Lindner in Berlin, selbst unter dem frankophilen Laschet, der halb im Ernst behauptet, ein Nachkomme Karls des Großen zu sein, kann es sich dabei, was die Finanzverfassung von EU und WWU angeht, um nicht mehr handeln als um kosmetische Aufhübschungen. Wie unter Merkel wird Deutschland unter Scholz oder Laschet zuverlässig tun, was für das Überleben des Euro nötig ist – aber eben nicht mehr, und die Verhandlungen darüber, was genau das ist, werden hart sein wie eh und je.

Für „Europa“ wird wenig bleiben

Für eine realistische Einschätzung der deutschen Europapolitik in den kommenden Jahren kann ein Blick auf die von der Großen Koalition vereinbarte mittelfristige Haushaltsplanung des Bundesfinanzministeriums unter Scholz hilfreich sein. Bis Ende 2021 wird Deutschland in drei Jahren 471 Milliarden neue Schulden aufgenommen haben, das entspricht ungefähr zwei Drittel des Volumens des Next Generation EU-Wiederaufbaufonds, der allen 27 EU-Mitgliedstaaten über sieben Jahre hinweg zugutekommen soll. Um die sogenannte Schuldenbremse in der deutschen Verfassung einzuhalten, müssen die Bundesausgaben zwischen 2021 und 2023 von 548 auf 403 Milliarden Euro sinken, damit der Schuldenstand, der sich Ende 2021 auf rund 75 Prozent des BIP belaufen wird, auf die vom Vertrag von Maastricht erlaubten 60 Prozent zurückgeführt werden kann.

Für Scholz wie für Laschet ist jede politische Manipulation an der Schuldenbremse ausgeschlossen, erst recht für Lindner, der darüber hinaus versprochen hat, keine neuen Steuern zuzulassen. Gleichzeitig müssen auf der Ausgabenseite enorme Summen für die bereits vor der Pandemie dringende Sanierung der physischen Infrastruktur aufgewendet werden. Zudem sind nach der Flut von 2021 zusätzliche Ausgaben für die Minderung und Verhinderung von Schäden durch den Klimawandel unausweichlich geworden, und mit den Grünen in der Regierung wird ein beschleunigter Kohleausstieg anzustreben sein, der ebenfalls Kosten verursacht. Weitere Punkte könnten hinzugefügt werden, wobei für „Europa“ und eine verstärkte „europäische Solidarität“ wenig bis gar nichts übrig bleibt, was sich auch aus den Wahlprogrammen ergibt, die zu diesem Thema entschieden schweigen.

Was, wenn statt Lindner Habeck Finanzminister würde?

Was für einen Unterschied würde es machen, wenn statt Lindner Habeck Finanzminister würde? Politisch würde es bedeuten, dass Baerbock nicht Außenministerin werden kann, was sie wahrscheinlich als Grünen-Chefin hätte werden wollen. Habecks Ehrgeiz dürfte es sein, ein großes Ausgabenprogramm zur Bekämpfung des Klimawandels und zur Abmilderung seiner Auswirkungen aufzulegen, wahrscheinlich außerhalb des Bundeshaushalts, um die Schuldenbremse zu umgehen. Anders wäre es bei Lindner, der eher auf private als auf öffentliche Investitionen setzen würde. Habeck wäre auch eher geneigt, die EU dauerhaft als Aufnahmebecken für neue Schulden zu nutzen und beispielsweise zu erlauben, dass der NGEU-Kredit mit neuen Krediten statt aus dem laufenden EU-Haushalt bedient wird.

Der Streit um das Amt des Finanzministers könnte das entstehende Bündnis zwischen Grünen und Liberalen gefährden, die Koalitionsverhandlungen in die Länge ziehen und schließlich sogar zu einer Neuauflage der Großen Koalition führen, diesmal unter Scholz. „Europa“ – die EU, die EWU und der Rest – werden hierbei von allenfalls marginaler Bedeutung sein.

Baerbock, die pro-atlantische Falk*in

Ähnlich schlechte Nachrichten sind aus französischer Sicht auch in der Außen- und Sicherheitspolitik zu erwarten. Annalena Baerbock darf mit etwas Übertreibung als pro-atlantische Falk*in bezeichnet werden, und dies gilt wohl auch für Habeck, der bei einem Besuch in der Ukraine empfahl, dem Land Waffen für seinen Krieg mit Russland zu liefern. Baerbock und Habeck sind definitiv nicht das, was man in deutschen außenpolitischen Kreisen immer noch manchmal als Gaullisten bezeichnet; während des Wahlkampfs und unter dem Eindruck von Fernsehberichten über den Flughafen von Kabul am Ende der US-amerikanischen Besetzung von Afghanistan verglich sich Baerbock öffentlich mit der amerikanischen liberalen Erz-Interventionistin Hillary Clinton. Die Grünen als Partei kritisierten Merkel, dass sie gegenüber Russland und zunehmend auch China zu zuvorkommend sei, und forderten unter anderem, dass Deutschland nach dem Willen der NATO seine Militärausgaben auf zwei Prozent seines Sozialprodukts erhöht, also um nicht weniger als die Hälfte. (Nichts dergleichen ist in Scholz‘ Haushaltsplänen vorgesehen.)

Auch wenn Scholz während der gesamten Kampagne seine Unterstützung für das versichert hat, was er etwas nebulös „europäische Souveränität“ nennt, in einer an Macron erinnernden Terminologie, bedeutet dies jedoch kaum, dass ein von ihm geführtes Deutschland in französisch-amerikanischen Konflikten über Themen wie AUKUS, der US-geführten „Sicherheitspartnerschaft“ mit Großbritannien und Australien gegen China, aktiv Partei für Frankreich ergreifen würde.

Wie auch immer die nächste deutsche Regierung aussehen mag und von welcher Koalition sie getragen werden wird, sie wird aller Wahrscheinlichkeit nach weiterhin Merkels Linie, oder Nicht-Linie, folgen und versuchen, zugleich auf der amerikanischen und der westeuropäischen Seite des Atlantiks zuhause zu sein, sowohl das amerikanische Streben nach globaler Hegemonie als auch die französischen Bemühungen um europäische Autonomie zu unterstützen, Sanktionen gegen Russland wegen der Ukraine zu verhängen und gleichzeitig North Stream 2 gegen die Vereinigten Staaten und die EU zu verteidigen – und allgemein bemüht sein, ein taktisches Hin und Her so aussehen zu lassen wie strategische Führung. Ob Laschet und Scholz in Verbindung mit Lindner und Baerbock (oder Habeck) oder auch untereinander Merkels komplizierte politische Schrittfolgen tatsächlich werden nachahmen können, nachdem sie in ihre großen Schuhe getreten sind, wird eine interessante Frage sein.