EUropa: Krise, Umbruch – Scheitern?
Liebe Leserinnen und Leser,
Gut zwei Wochen dauert es noch, bis Ursula von der Leyen offiziell ihre zweite Amtszeit als Kommissionspräsidentin der EU antritt. Sie hat es von Anfang an nicht leicht gehabt: Kaum drei Monate nach ihrem ersten Amtsantritt im Dezember 2019 war sie bereits mit einer Jahrhundertpandemie konfrontiert. Und seit Beginn der russischen Invasion vor rund 1000 Tagen war die Ukraine das alles beherrschende Thema in Brüssel.
Es war auch der Ukrainekrieg, der von der Leyens ursprüngliche Pläne – allen voran den European Green Deal – in den Hintergrund drängte. Während sie ihre klimapolitischen Ziele für die kommende Amtszeit abschwächte, hat die Unterstützung der Ukraine nach wie vor äußerste Priorität – zumindest rhetorisch. Nach wie vor reden die europäischen Staats- und Regierungschefs dem ukrainischen Präsidenten Wolodymir Selenskyj „nach dem Munde“, schreibt Eric Bonse in dieser Ausgabe.
Anders als Jens Stoltenberg und Mark Rutte, der ehemalige und jetzige NATO-Generalsekretär, die Friedensgespräche auch unter der Bedingung von schmerzhaften Gebietsabtritten anmahnen, stellt sich Brüssel hinter Selenskyjs weitreichenden „Siegesplan“. Doch dieser erscheint zunehmend realitätsfremd. Nicht nur ist die Ukraine mittlerweile in der Defensive, auch verfügt die sparsame EU gar nicht über die notwendigen Mittel, um das Blatt noch einmal zu wenden.
Doch zumindest indirekt könnten von der Leyen und ihre loyalen Anhänger vom Ukrainekrieg profitieren. Denn im Schatten des Konflikts und weitestgehend Abseits der öffentlichen Aufmerksamkeit ist es der Kommissionspräsidentin gelungen, die Exekutivbefugnisse der Europäischen Kommission zu Lasten demokratischer Mitbestimmungsmöglichkeiten auszuweiten, konstatiert unser Autor Thomas Fazi.
Dieser „Kompetenz-Coup“ zeigt sich vor allem in einer Transatlantisierung der Kommission und einer Zentralisierung der Haushaltsverfahren. Offen bleibt, ob diese Reaktion auf unterschiedliche Fliehkräfte innerhalb der Union ein Pyrrhussieg ist. Und so fragt Fazi: Wird die autoritäre Reaktion der EU auf die Krise ihren Untergang besiegeln, so wie es einst bei der Sowjetunion der Fall war?
Diese und weitere Artikel finden Sie in unserer neuen Ausgabe:
- Warum die Beiträge der Krankenkassen steigen Die Krankenkassenbeiträge werden im nächsten Jahr deutlich steigen. Dieser Kostensprung hat seine Wurzeln in Strukturmängeln des Gesundheitswesens, die Karl Lauterbach mit seinen Reformplänen vorerst kaum beseitigen kann. Hartmut Reiners
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- „Konservative Linke“ – Wagenknecht mischt die Karten neu Was und wer ist links? Im Januar präsentierte das „Bündnis Sahra Wagenknecht – Vernunft und Gerechtigkeit" (BSW) seine Antwort auf diese alte Frage. Von Peter Wahl und Pierre Rimbert
- Selenskyjs „Siegesplan“ und die kognitive Dissonanz Die Ukraine ist militärisch in die Defensive geraten, in der Nato wird schon von einer Teilung des Landes gesprochen. Doch die EU gibt sich immer noch Illusionen hin. Eric Bonse
- Das Trilemma europäischer Asylpolitik Die europäische Asylpolitik enthält drei Festlegungen, die insgesamt miteinander inkompatibel sind. Ein Ausweg bietet sich, indem die Länder mit einer Mehraufnahme von Geflüchteten finanziell kompensiert würden. Gerd Grözinger
- Von der Leyens autoritärer Coup Die Europäische Kommission ordnet die nationalen Demokratien zunehmend ihrer autoritären Herrschaft unter. Nur welche Zukunft hat dann noch eine demokratische EU? Thomas Fazi
- PR für die E-Auto-Lobby Lobbyarbeit und eigenes Versagen haben die deutsche Automobilindustrie in ein Fiasko getrieben. Der WiWo-Redakteur Martin Seiwert deutet die beschlossene Rationierung von Verbrenner-Autos in Technologieoffenheit um. Kai Ruhsert
- Ein Marshallplan für „Saubere Energie“? Mithilfe eines Marshallplans 2.0 will der Wirtschaftsstratege Brian Deese die USA in eine Führungsrolle der globalen Energiewende hieven. Adam Tooze