BSW

„Konservative Linke“ – Wagenknecht mischt die Karten neu

| 15. Oktober 2024
IMAGO / Jacob Schröter

Was und wer ist links? Im Januar präsentierte das „Bündnis Sahra Wagenknecht – Vernunft und Gerechtigkeit" (BSW) seine Antwort auf diese alte Frage.

Mit ihrer neuen Partei kann Sahra Wagenknecht nach quälendem innerparteilichem Streit[1] in der Linkspartei jetzt das Konzept einer „konservativen Linken“ und damit einen Gegenentwurf zum grün-alternativen, großstädtischen und akademisch gebildeten Spektrum verwirklichen. Ihre Strategie besteht aus folgenden Kernpunkten:

  • klassisch links in der sozialen Frage,
  • in gesellschaftlichen Fragen und beim Thema Migration konservativ,
  • für die Erhaltung und den Ausbau nationalstaatlicher Kompetenzen innerhalb der EU,
  • kritisch gegenüber der NATO und dem neuen deutschen Bellizismus,
  • konsequent für die Verteidigung der Meinungsfreiheit.

Wagenknecht will eine „wirkliche Volkspartei“, die in der Lage ist „die Mehrheit anzusprechen“ und der extremen Rechten die Verlierer der Globalisierung abspenstig zu machen.[2]

Obwohl viele Wähler die Abkürzung BSW kaum kannten, errang die Partei bei der Europawahl und den Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen mit Ergebnissen zwischen knapp 12 und 16 Prozent frappierende Erfolge. Es wurde in allen drei Ländern zur drittstärksten Kraft. Jetzt steht sie vor der schwierigen Frage, ob sie sich an Regierungen beteiligt.

Umfragen, unter anderem von infratest dimap zeigen, dass der Großteil der BSW-Wähler ehemalige Anhänger der SPD, der Linkspartei und der Grünen sowie Ex-Nichtwähler waren. Allerdings gibt es auch einen relevanten Teil von Wählern von CDU, FDP und AfD. Diese Verteilung der Wählerwanderung lässt drei Dinge vermuten. Erstens: Eine Mehrheit der BSW-Wähler betrachtet Wagenknechts Partei als links. Zweitens: Der Versuch, Wähler aus dem rechtsextremen Lager abzuwerben, ist zwar nicht gescheitert, hat aber auch noch nicht gefruchtet. Drittens: Die Stimmen aus der Mitte und von rechts scheinen Wagenknechts Strategie zu bestätigen, eine gesellschaftliche Allianz der Lohnabhängigen mit dem Mittelstand und den kleinen Unternehmen zu schmieden und nicht mit den grün-alternativ-progressiven Milieus der Großstädte.

Die Suche nach einer Strategie der Linken im 21. Jahrhundert

Die westliche Linke schwankt seit fast 20 Jahren zwischen zwei Strategien: einerseits sich einer Sozialdemokratie entgegenzustellen, die vorm Neoliberalismus kapituliert hat, anderseits den Aufstieg rechts-nationalistischer Bewegungen zu verhindern.

Eine erste Option besteht darin, die traditionelle Koalition zwischen der Arbeiterklasse – die an die Peripherie der städtischen Zentren verdrängt wurde – und den Wählern aus der gebildeten Mittelschicht wiederherzustellen. Die Linkspartei, ein Sammelbecken kommunistischer Restbestände aus dem Osten und sozialen Bewegungen aus dem Westen, hat sich im Gründungsjahr 2007 mit dieser Strategie auf den Weg gemacht, den Rechtsruck der SPD zu bekämpfen. Doch je mehr sie sich als sozio-kulturelle und ökologische Avantgarde gab, umso mehr Stimmen verlor sie bei den Lohnabhängigen.

Als Jean-Luc Mélenchon 2009 die französische Linkspartei (Parti de Gauche) gründete, orientierte er sich ausdrücklich an der deutschen Partei Die Linke und lud deren Mitbegründer Oskar Lafontaine zur Gründungsveranstaltung ein. Ein ähnlicher Ansatz schien auch in anderen EU-Ländern an Dynamik zu gewinnen, als die Schockwelle der Finanzkrise weltweit verheerende Schäden anrichtete. In Großbritannien brachten Gewerkschaften und radikalisierte Studenten Jeremy Corbyn 2015 an die Spitze der Labour Party. Fast gleichzeitig bringt SYRIZA in Griechenland der sozialdemokratische PASOK eine vernichtende Niederlage bei, als sich politisch aktive Hochschulabsolventen einer von Sparmaßnahmen gebeutelten Arbeitnehmerschaft anschlossen. Im folgenden Jahr machte Bernie Sanders der Clinton-Dynastie bei den Vorwahlen der US-Demokraten Konkurrenz.

Diese Strategie stieß jedoch auf ein großes Hindernis: Arbeiter und Angestellte einerseits und die großstädtische Mittelschicht andererseits fanden sich aufgrund geografischer, wirtschaftlicher, bildungs- und einkommensbezogener Trennlinien an entgegengesetzten Enden des ideologischen und politischen Spektrums. Oder, wie es der französiche Journalist und Essayist Thomas Frank ausdrückt: „Bevormundende Yuppies“ und „bedauernswerte Rassisten“ fanden sich gegenseitig derart abstoßend, dass eine politische Allianz in weite Ferne gerückt schien.

Nach dem Sieg von Barack Obama 2008 entstand eine zweite Strategie mit der Grundidee, dass „die linke Wählerschaft nicht mehr aus der Arbeiterklasse kommt“, wie es in einem vielbeachteten Thesenpapier der Stiftung Terra Nova heißt. Stattdessen müssten sich, Minderheiten, Progressive, Umweltschützer und junge Menschen unabhängig von ihren sozio-ökonomischen oder politischen Unterschieden zusammentun. Die deutsche Linkspartei folgte dieser Linie.

La France Insoumise verfolgte eine ähnliche Politik. Ihr Chef, Jean-Luc Mélenchon, identifizierte einen „historisch neuen Akteur“ – eine „urbane, miteinander vernetzte Masse“, die ein Bündnis gegen die Oligarchie bildet. Studenten, Vertretern intellektueller Berufe und progressiven höheren Angestellten der Stadtzentren würden sich mit migrantischen Lohnabhängigen aus den Banlieus verbrüdern. Es wäre illusorisch, die traditionellen Arbeitermilieus aus der Peripherie der Metropolen, wo die extreme Rechte immer stärker wird, zurückgewinnen zu wollen. Denn die „sind in erster Linie rassistisch“, so Mélenchon.[3]

Er rekurriert damit auf eine Art Essentialismus, dem zufolge politische Identitäten – normalerweise durch die Lebensbedingungen und politische Kampferfahrungen geprägt – bei den Wählern einer fremdenfeindlichen Partei unveränderlich verfestigt wären.

Scharfe Kritik am „Linksliberalismus“

Sowohl die Allianz zwischen Lohnabhängigen der Peripherie und den urbanen Mittelschichten (also die traditionelle Strategie der Linken) als auch die zwischen migrantischen Lohnabhängigen und jungen, radikalisierten Intellektuellen (das „neue Bündnis“) sind für die gebildeten Schichten attraktiv.

Wagenknecht positioniert sich jedoch in klarem Gegensatz dazu. Ihr Bestseller von 2021, Die Selbstgerechten, beginnt mit einer scharfen Kritik am linken Liberalismus, der seine „Basis in der gut situierten akademischen Mittelschicht der Großstädte“ findet. Moralisierend, dünkelhaft und voller Verachtung für die Verlierer der Globalisierung, die sich nicht den kulturellen und sprachlichen Codes und Moden anpassen, feiert demnach eine sich kosmopolitisch und pro-europäisch gebende „Lifestyle-Linke“ gesellschaftliche Partikularinteressen und verhöhnt traditionelle Werte.

Für Wagenknecht ist das die Kombination des Einverständnisses mit der bestehenden Wirtschaftsordnung mit sozio-kulturellen Vorstellungen, die die US- Philosophin Nancy Fraser als „progressiven Neoliberalismus“ bezeichnet. „Die meisten linken Parteien bestehen aus Universitätsabsolventen, die von gut ausgebildeten und wirtschaftlich abgesicherten Städtern gewählt werden“, so Wagenknecht. Als Volkspartei aber soll das BSW auch Lohnabhängige der Mittelschicht gewinnen, wie Techniker, Ingenieure, Handwerker sowie Selbstständige aus dem Mittelstand, der auch das Netz aus Familienunternehmen umfasst, die Werkzeugmaschinen und High-Tech-Roboter produzieren.

Sie sieht Gemeinsamkeiten zwischen den von der Globalisierung gebeutelten Lohnabhängigen und den kleinen und mittleren Unternehmen (KMU), die von den Finanzmärkten in die Enge getrieben werden. Letztere, sagt sie, „sind ebenfalls von wirtschaftlicher Unsicherheit betroffen; sie stehen unter dem Druck großer Unternehmen, von Banken und den Digitalkonzernen; sie leiden unter einer Politik, die von deren mächtigen Lobbys geprägt ist.“

Allerdings räumt sie ein, dass „eine solche Allianz ihre Widersprüche hat“, denn die eine Seite beutet die Arbeitskraft der anderen aus. Doch ein solcher Block würde auch das Prestige und das ökonomische Gewicht des Mittelstands im Kampf gegen den gemeinsamen Gegner nutzen können: die Finanzindustrie, die digitale Oligarchie die supranationalen Institutionen, die die Deregulierung vorantreiben, kurzum den „Black-Rock-Kapitalismus“. Damit spielt sie auf den CDU-Vorsitzenden Merz an, ehemaliger Aufsichtsratsvorsitzender der deutschen Filiale des Investmentfonds Blackrock.

Ein linkes Wirtschaftsprogramm

Das Wirtschaftsprogramm von BSW ist traditionell links: Stärkung der Gewerkschaften, offensive Umverteilung durch Besteuerung, Investitionen in öffentliche Dienstleistungen und Infrastruktur, Armutsbekämpfung und so weiter. Interessen der KMU, wie die Bewahrung des Familienkapitals gegenüber den Finanzmärkten und die Zerschlagung von Monopolen könnten durch Subventionen für technologische Innovationen gesichert werden.

Diese Orientierung spiegelt sich auch in der Parteiführung wider – beispielsweise bei Amira Mohamed Ali, MdB und (zusammen mit Wagenknecht) Ko-Vorsitzende des BSW, die ihre Karriere als Juristin in der Rechtsabteilung eines Automobilzulieferers begann.

Zwar steht die Vergesellschaftung der Produktionsmittel nicht im Programm, dafür plädiert Wagenknecht in ihrem Buch Reichtum ohne Gier: Wie wir uns vor dem Kapitalismus retten für drei unterschiedliche Eigentumsstrukturen: Ein privates, gewinnorientiertes Modell für kleine und mittlere Unternehmen in Branchen mit funktionierendem Wettbewerb; für größere Unternehmen eine Stiftungsorganisation mit Mitbestimmungsrechten für die Beschäftigten, aber ohne Zugriff für externe Investoren; Dienstleistungen der Daseinsfürsorge und Infrastrukturen von öffentlichem Interesse gehören für das BSW in öffentliche Hände und wären für den Markt tabu.

Das BSW greift damit eine Strategie auf, die einige kommunistische Parteien in Westeuropa nach 1968 unter dem Label „antimonopolistisches Bündnis“ verfolgten – eine Allianz zwischen Arbeitnehmern mit kleinen und mittleren Unternehmen gegen das Großkapital.

„Kulturelle Identitäten verschleiern soziale Identitäten“

In einer Gesellschaft, in der kulturelle Identität zunehmend größeren Einfluss auf die politische Orientierung hat als sozialökonomische Interessen, will das BSW die kulturellen Markierungen „dekodieren“, indem es zeigt, dass erstere aus letzteren entstehen. „Ich bin überzeugt, dass einige kulturelle Kämpfe tatsächlich sozialer Natur sind“, so Wagenknecht, und dass „kulturelle Identitäten soziale Identitäten auch verschleiern“.

Dies zeigt sich unter anderem an den Positionen des BSW zur ökologischen Frage. So würden vorbildliche individuelle Verhaltensweisen im Verkehr, bei der Ernährung oder beim Heizen, wie sie Die Grünen propagieren, durch hohe Energiepreise zu einer „Lebensweise für Privilegierte“ mutieren. Für einkommensschwache Bevölkerungsgruppen ist diese Lebensweise aber unerreichbar. Sie fühlen sich ignoriert und reagieren darauf mit Ressentiment. „Das ist ein sozialer Konflikt, der sich kulturell ausdrückt“, sagt Wagenknecht. Deshalb sei es wichtig, so kürzlich in einem Interview mit der New Left Review, „sicherzustellen, dass die Kosten für die Erreichung der ehrgeizigen Emissionsziele nicht den einfachen Leuten aufgebürdet werden, die ohnehin schon Schwierigkeiten haben, über die Runden zu kommen“.

Das ist angesichts der Fragmentierung der Weltwirtschaft umso wichtiger in einem Land, das so stark vom Export von Verbrennern nach Asien abhängig ist. Die Angst, beim weltweiten Übergang zu Elektrofahrzeugen ins Hintertreffen zu geraten, ist groß. Anstatt Dieselautos zu verbieten, fordert das BSW deshalb einen stärker politisch ausgerichteten Ansatz, in dem Schlüsselsektoren wie die Energieversorgung unter öffentliche Kontrolle kommen und der die deutsche Wirtschaft tendenziell deglobalisiert: „Es geht weniger darum, anders zu konsumieren, als vielmehr anders zu produzieren. Unsere Wirtschaft muss regionaler werden, weniger toxisch und ressourcenschonender“. Dabei kommt mittelständischen Unternehmen die Aufgabe zu, technologische Innovation bereitzustellen.

Das heiße Eisen Migration

Umweltschutz mag für das BSW nicht oberste Priorität haben, dafür aber mit Sicherheit das Thema Einwanderung. Bereits 2015 brachte Wagenknecht ihre Ablehnung der Entscheidung Angela Merkels, eine Million Flüchtlinge aufzunehmen, zum Ausdruck. Ihre Haltung stieß innerhalb der Linkspartei, die sich damals de facto für „offene Grenzen für alle“ einsetzte, auf heftigste Ablehnung.

Seitdem ist jedoch die Begeisterung in der Bevölkerung für den Zustrom von Migranten einer von Angst geprägten Debatte gewichen. Darin mischen sich die Furcht vor islamistischen Attentaten und vor Arbeitskräftemangel angesichts einer alternden Bevölkerung mit der Ratlosigkeit gegenüber dem rasanten Aufstieg der extremen Rechten und den Herausforderungen durch eine Million ukrainischer Flüchtlinge.

Das BSW tritt für eine restriktive Einwanderungspolitik ein und formuliert das Problem als soziale Frage. In seinem Parteiprogramm lehnt die Partei ausdrücklich „rassistische Ideologien“ ab und bekräftigt gleichzeitig, „wer in seiner Heimat politisch verfolgt wird, hat Anspruch auf Asyl“, und betont „Zuwanderung und das Miteinander unterschiedlicher Kulturen können eine Bereicherung sein“.

Laut Wagenknecht hat der Zustrom von Einwanderern der letzten Jahre die Wohnungsnot verschärft, die Sozialsysteme überlastet und die Krise im Bildungssystem verschärft, weil die Regierung sich weigerte, die Ressourcen für Neuankömmlinge zu vergrößern. „In all diesen Bereichen sind die öffentliche Infrastruktur und die öffentlichen Institutionen überfordert“, stellt sie fest. „Und es sind die Ärmsten, die den Preis dafür zahlen.“

Das Europawahlprogramm der Partei verweist auf die Entstehung von „islamistisch geprägte[n] Parallelgesellschaften“, und verspricht, „die unkontrollierte Migration in die EU“ zu stoppen. Dies soll in erster Linie per Auslagerung des Asylverfahrens in Drittländer oder Nachbarländer der EU geschehen – eine Maßnahme, die auch die meisten EU-Mitgliedstaaten fordern.

Eine eher klassische Sichtweise hat das BSW auf die Bekämpfung von Fluchtursachen. Das soll durch eine gerechtere Weltwirtschaft und multilaterale Politik geschehen, die Kriege wie zum Beispiel im Irak, in Afghanistan und in Libyen beendet.

Die Medien und progressiven Meinungsmacher, die über Wagenknechts Haltung zur Einwanderung sowie ihre Kritik am kulturellen Linksliberalismus empört waren, bezeichneten ihre politische Agenda als die einer „anti-migrantischen Linken“, die sich nicht wesentlich von der extremen Rechten unterscheide. Diese Gleichsetzung weicht aber allmählich einer differenzierteren Analyse. In Frankreich führten zwei Denkfabriken – die Stiftung für politische Innovation und das Französische Institut für Internationale Beziehungen – detaillierte und kritische Studien zur neuen Partei durch.

Im oben zitierten Interview mit dem New Left Review sagte Wagenknecht, dass es nicht fremdenfeindlich sei, auf soziale Engpässe hinzuweisen, die daraus entstehen, wenn die Nachfrage die Kapazitäten übersteigt. Es sei erst die intensive Konkurrenz um knappe Ressourcen, die Fremdenfeindlichkeit schürt.

Kaum hatte man das Interview auf X angekündigt, begannen Empörte zu kritisieren, dass einer „Faschistin“ eine Plattform geboten würde. Sozioökonomische Kritik an der Einwanderungspolitik hat die progressive Linke schon immer in Verlegenheit gebracht. Deshalb ist sie oft versucht, dem Thema im Namen des Kampfes gegen Rassismus aus dem Weg zu gehen.

Aber auch Konservative und Liberale haben hier ein Problem: sie geben zu, dass der Bevölkerungsrückgang in Deutschland Bedarf an Arbeitsimmigration schafft, und sehen, dass der Staat, wenn er vermeiden wolle, dass sich die Spannungen verschärfen, massiv in Dienstleistungen für Neuankömmlinge investieren muss. Dies würde aber auch ein Ende der Sparpolitik erfordern, was diesen Parteien jedoch gewaltig gegen den Strich geht.

Eine Studie vom Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut des DGB über die Wählerschaft der BSW, deutet auch darauf hin, dass die Partei ein breiteres Publikum anspricht als nur die weiße Mittelschicht im Osten: „Personen mit eigener Migrationserfahrung ziehen überproportional häufig in Erwägung, das BSW zu wählen“, heißt es in dem Report.

Ein etwas anderer Parteiaufbau

Neben der Einwanderung ist die Referenz im Parteinamen auf die Gründerin ein weiterer Kritikpunkt vieler Linker. Mit ihrem charismatischen Auftreten – in der deutschen Linken immer suspekt – füllt Wagenknecht die Säle und belebt die Talkshows, in denen sie ihre Kontrahenten auch immer mal deklassiert. Ihre Ablehnung der Impfpflicht, ihre Kritik an der Gesundheitspolitik während der Pandemie und ihr Eintreten für die Meinungsfreiheit sorgen für nahezu ständige Kontroversen um ihre Person.

Im Laufe der Zeit hat sie sich das Image einer strengen, eleganten und intellektuell brillanten Medienikone geschaffen – quasi eine moderne Rosa Luxemburg. Ihre Popularität wirft dabei auch Fragen auf: Ist die Partei nur für Wagenknecht da, oder ist die Frontfrau der Booster für die erfolgreiche Etablierung der Partei? Um Unklarheiten in dieser Hinsicht zu beseitigen, versuchen andere Persönlichkeiten des BSW sich zu profilieren. So der Spitzenkandidat bei den EP-Wahlen, Fabio De Masi – bekannt dafür, Machenschaften der Finanzindustrie aufzudecken –, oder auch die Ko-Vorsitzende Mohamed Ali. Auch soll nach den Bundestagswahlen 2025 im Namen des BSW der ihrer Gründerin wegfallen.

Bis dahin verläuft der Parteiaufbau per Machtvertikale – fast nach leninistischem Modell. Alle neuen Mitglieder werden sorgfältig überprüft, um eine Unterwanderung durch „Karrieristen und Schrate" oder rechtsextreme Maulwürfe zu verhindern. Die Partei möchte keine diffuse Bewegung des Typen Podemos werden. Wagenknecht hat aus anderen „linkspopulistischen“ Experimenten seit 2015 gelernt und weigert sich von daher, die rote Fahne zu schwenken. Ihre Partei „steht zwar de facto in linker Tradition. Aber wir drücken das nicht so aus, weil heute unter links etwas anderes verstanden wird“, erklärt sie. „Die heutige Linke – und ich finde das wirklich schade – ist für viele zu einem Feindbild geworden, denn die Leute bringen Linkssein mit Robert Habeck oder Annalena Baerbock in Verbindung“. Sie hält die beiden für die Inkarnation einer progressiven Bourgeoisie.

Das BSW will linke Ansichten so formulieren, dass die lohnabhängig Beschäftigten sie verstehen und zusammengeführt werden: „Wir akzeptieren, dass eine Gesellschaft eine gemeinsame Kultur und Traditionen braucht. Der Sozialstaat beispielsweise kann nicht ohne eine gemeinsame Identität oder ein Zugehörigkeitsgefühl funktionieren.“

Kritisch gegenüber EU und NATO

Auch Wagenknechts Positionen zur EU, dem Ukrainekrieg und der NATO sind alles andere als Konsens. Wie Mélenchons Linksbündnis bei den Europawahlen 2014 war auch die BSW-Kampagne 2024 der Überzeugung, dass der Nationalstaat keineswegs ein toter Hund ist, sondern nach wie vor eine wichtige Rolle spielt. BSW lehnt daher einen supranationalen Staat à la „Vereinigte Staaten von Europa“ ab. Die Partei fordert eine Verkleinerung der EU-Kommission und will die Umsetzung von unzumutbaren Richtlinien verweigern.

Dafür will sie eine Vertiefung der Zusammenarbeit mit anderen Mitgliedsstaaten in den Bereichen Umweltschutz, Finanz- und Steuerregulierung, Energie und Infrastruktur und setzt sie sich für eine Stärkung der nationalstaatlichen Kompetenzen in der Wirtschafts- und Außenpolitik ein, um dem neoliberalen Programm der Kommission und dem Bellizismus der Kommission von der Leyen etwas entgegensetzen zu können. Die Kritik an der Empfänglichkeit Brüssels für die Lobby der Großunternehmen findet auch Widerhall bei den KMU, die sich durch den Dirigismus der Kommission beeinträchtigt sehen.

Das Thema Ukraine ist in Deutschlands öffentlicher Debatte präsenter als in Frankreich und spaltet das Land. Während die Mainstream-Medien Deutschland zur Heimatfront im Kampf gegen das „Reich des Bösen“ machen, befürwortet die Mehrheit der Deutschen eine Verhandlungslösung.

Wagenknecht verurteilte den Einmarsch Russlands in die Ukraine, macht aber die Osterweiterung der NATO für den Konflikt mitverantwortlich und lehnt den Stellvertreterkrieg des transatlantischen Bündnisses gegen Russland ab. Im Frühjahr 2023 veröffentlichen sie und die Feministin Alice Schwarzer ein Manifest für den Frieden und forderte ein Ende der Waffenlieferungen. Mehr als 900.000 Personen unterzeichneten den Aufruf.

Darüber hinaus fordert das BSW Verhandlungen zwischen Kiew und Moskau, eine schrittweise Aufhebung der Sanktionen und mittelfristig friedliche Koexistenz und Kooperation mit Russland. Die massive Aufrüstung Deutschlands lehnt BSW ab und prangert die mentale Militarisierung an.

Dieser Pazifismus – früher ein Markenzeichen der Grünen, die heute aber zu den schärfsten Bellizisten gehören – ist in den neuen Bundesländern weit verbreitet und einer der Hauptgründe für den Erfolg des BSW.

Weniger lautstark äußert sich Wagenknecht zum Gazakrieg – ein Thema, bei dem die Redefreiheit in Deutschland stark eingeschränkt ist, wie die Historikerin Sonia Combe zutreffend feststellt. Ungeachtet dessen fordert sie nicht nur einen sofortigen Waffenstillstand, sondern auch die Einstellung deutscher Waffenlieferungen an Tel Aviv. Das steht in diametralem Gegensatz zur bedingungslosen Unterstützung Israels durch die AfD.

Ohne ausdrücklich den Austritt aus der NATO zu fordern, will das BSW „mehr Unabhängigkeit von den USA" und schlägt „eine neue Sicherheitsallianz“ vor, „in der alle gleichberechtigte Partner sind, auch Russland“. Dies läuft de facto auf eine Ablehnung der NATO, wie wir sie kennen, hinaus.

Angesichts des aufstrebenden globalen Südens sollte die EU aufhören, diesem seine eigenen Wertvorstellungen aufzuzwingen. Wagenknecht sagt: „Ich bin gegen jede Außenpolitik, die mit erhobenem Zeigefinger um die Welt reist und anderen Staaten sagt, wie sie sich verhalten sollen. Dieses Verhalten ist zutiefst heuchlerisch und irreführend: Unsere Regierung sagt wenig, wenn Saudi-Arabien Dissidenten enthauptet, aber gegenüber China gibt sie sich als großer Verteidiger der Menschenrechte aus.“

So sehr die anderen Parteien dem neuen Konkurrenten, der das Parteiengefüge ordentlich aufmischt, auch verabscheuen mögen, so müssen sie doch anerkennen, dass er zum Machtfaktor wurde. Für SPD und Grüne verspricht die Bundestagswahl riskant zu werden. Ein weiterer Erfolg 2025 für das BSW, insbesondere wenn er dazu beiträgt den Aufstieg der extremen Rechten zu bremsen, könnte dann Inhalte und Formen der deutschen Linken neu definieren.

Dieser Artikel erschien zuerst in der französischen Ausgabe von Le Monde Diplomatique, sowie u.a. in deren englischer, spanischer, portugiesischer, italienischer und arabischer Ausgabe. Wir veröffentlichen die deutsche Fassung, leicht gekürzt, mit freundlicher Genehmigung der Pariser Redaktion. Die Zwischenüberschriften sind von der MAKROSKOP-Redaktion.

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[1] Peter Wahl, « En Allemagne, deux lignes pour un même camp », Le Monde diplomatique, janvier 2022.
[2] Wenn nicht anders erwähnt, stammen die Zitate von Sahra Wagenknecht entweder aus einem Gespräch, das die Autoren am 10. April mit ihr geführt haben, oder aus ihrem Buch Die Selbstgerechten. Mein Gegenprogramm für Gemeinsinn und Zusammenhalt. Campus Verlag, Frankfurt/M., 2021.
[3] La Repubblica, Roma, 21 luglio 2024.