EUropa

Von der Leyens autoritärer Coup

| 15. Oktober 2024
IMAGO / Press Wire

Die Europäische Kommission ordnet die nationalen Demokratien zunehmend ihrer autoritären Herrschaft unter. Nur welche Zukunft hat dann noch eine demokratische EU?

Die Europäische Union steht kurz vor der vielleicht bedrohlichsten Phase ihrer bewegten Geschichte. In wenigen Wochen wird die neue Europäische Kommission von Ursula von der Leyen offiziell ihr Amt antreten und damit nahezu uneingeschränkte Kontrolle über die Politik des Staatenbundes ausüben.

Als von der Leyen letzten Monat die Zusammensetzung und Organisationsstruktur der neuen Kommission vorstellte, mussten selbst die normalerweise Brüssel-freundlichen Mainstream-Medien zugeben, dass ihr ein regelrechter Coup geglückt ist. Indem die Kommissionspräsidentin loyale Anhänger in strategisch wichtige Positionen brachte, ihre Kritiker marginalisierte und ein kompliziertes Netz von Abhängigkeiten und sich überschneidenden Zuständigkeiten schuf, das einen übermäßigen Machtgewinn von Einzelpersonen verhindert, hat sie die Voraussetzungen dafür geschaffen, die supranationale Macht in Brüssel weiter zu zentralisieren – vor allem in ihren eigenen Händen.

Von der Leyen ist dabei, die Kommission „von einem Kollegialorgan in ein Präsidialamt umzuwandeln“, stellt Alberto Alemanno, Professor für EU-Recht an der HEC Paris, fest. Es ist der Höhepunkt eines langjährigen Prozesses. Schon seit langem hat die Kommission ihre Befugnisse heimlich erweitert und sich von einem technischen Gremium zu einem vollwertigen politischen Akteur entwickelt. Souveränität wurde sukzessive von der nationalen auf die supranationale Ebene übertragen – auf Kosten der demokratischen Kontrolle und Rechenschaftspflicht. Und diese „Kommissionisierung“ erreicht mit der zweiten Präsidentschaft von der Leyens eine neue Dimension.

Die Transatlantisierung der Kommission

Deutlich wird das etwa in der EU-Außenpolitik, insbesondere der Verteidigungs- und Sicherheitspolitik. Es ist der öffentlichen Aufmerksamkeit weitestgehend entgangen, dass von der Leyen die Ukraine-Krise genutzt hat, um auf eine Ausweitung der Exekutivbefugnisse der Kommission von oben nach unten zu drängen. Obwohl die Kommission in solchen Angelegenheiten keine formelle Zuständigkeit hat, kam es zu einer de facto Supranationalisierung der EU-Außenpolitik, während gleichzeitig eine Unterordnung unter die Interessen der USA und der NATO sichergestellt wurde.

Ein bezeichnender Aspekt dieses Vorgehens war es, Vertreter der baltischen Staaten (Gesamtbevölkerung: etwas mehr als 6 Millionen) in Schlüsselpositionen in der Verteidigungs- und Außenpolitik zu bringen, die von der Leyens überaus bellizistische Haltung gegenüber Russland teilen.

Eine besonders wichtige Persönlichkeit ist Andrius Kubilius, ehemaliger Ministerpräsident Litauens, der – falls er bestätigt wird – die Rolle des ersten EU-Verteidigungskommissars übernehmen wird. Der für seine engen Beziehungen zu US-finanzierten NGOs und Denkfabriken bekannte Kubilius wird für die europäische Verteidigungsindustrie zuständig sein und soll sich für eine stärkere Einbindung der militärisch-industriellen Produktion einsetzen. Darüber hinaus war Kubilius Mitglied des Beirats des International Republican Institute und der EuroGrowth Initiative des Atlantic Council – zwei transatlantische Organisationen, deren Hauptziel es ist, die geopolitischen und privatwirtschaftlichen Interessen der USA zu fördern.

Die Nominierung von Kubilius wird von der Ernennung der ehemaligen estnischen Premierministerin Kaja Kallas zur Leiterin der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik begleitet, von der Berufung der Finnin Henna Virkkunen zur geschäftsführenden Vizepräsidentin und Kommissarin für Technologie und der Einberufung des Letten Valdis Dombrovskis zum Kommissar für Wirtschaft und Produktivität.

Es sollte nicht überraschen, dass der Atlantic Council, der sich durch seine sehr konfrontative Haltung im Russland-Ukraine-Konflikt auszeichnet, die Bildung dieser „baltischen Truppe“ begrüßt hat. Das transatlantische Gremium sieht darin ein Signal dafür, dass die EU Russland als ihre „Hauptbedrohung“ betrachtet und die Staatengemeinschaft in Ukrainefragen und anderen geopolitischen Schlüsselfragen weiterhin im Gleichschritt mit den USA laufen wird.

Finanzielle Erpressung

Von der Leyen strebt nicht nur eine Neugestaltung der EU-Außenpolitik an, sondern auch eine Zentralisierung des Haushaltsverfahrens der Union – ein Schritt, der ihre Macht weiter festigen würde. Im Rahmen des derzeitigen Systems werden etwa zwei Drittel der EU-Strukturfonds durch die regionale oder soziale Kohäsionspolitik der Union abgedeckt. Das Geld geht direkt an die Regionen und wird größtenteils von ihnen verwaltet, um von der EU genehmigte Projekte umzusetzen. Aber von der Leyen plant nun, das System radikal umzukrempeln.

Der neue Haushaltsplan für den Zeitraum 2028 bis 2034 sieht die Schaffung eines einzigen nationalen Topfes für jeden Mitgliedstaat vor, der die Ausgaben in Sektoren der Agrarsubventionen bis hin zum sozialen Wohnungsbau bestimmt. Nach dem Modell von der Leyen würde das Geld nicht mehr an lokale Stellen, sondern an nationale Regierungen gehen, allerdings unter der Bedingung – und das ist der entscheidende Punkt – dass die von Brüssel diktierten Reformen umgesetzt werden.

Dies würde im Wesentlichen ein System der finanziellen Erpressung institutionalisieren und der Kommission ein mächtiges Instrument an die Hand geben, um Länder unter Druck zu setzen: Halten sie sich nicht an die EU-Agenda, kann ihnen die Kommission die Gelder kürzen. Kritiker wie der Wirtschaftsjournalist Gregorio Sorgi argumentieren, dass dies ein Vorwand sei, um Gelder von bestehenden Programmen in neue Prioritäten wie Verteidigung und industriellen Aufbau umzuleiten.

Der Plan sieht außerdem eine Ad-hoc-Lenkungsgruppe vor, die den Haushaltsprozess abwickeln soll. Diese Gruppe wird aus von der Leyen selbst, der Haushaltsabteilung und dem Generalsekretariat bestehen, das direkt der Präsidentin unterstellt ist. Durch diese Zentralisierung wird die Macht von den Regionen – die oft eine konservativere politische Ausrichtung haben – und anderen Abteilungen der Kommission in die Hände von der Leyens verlagert.

Der Kompetenz-Coup

Der zunehmend autoritäre Ansatz von der Leyens wurde während einer Konfrontation im Europäischen Parlament mit Viktor Orbán deutlich. Unter Missachtung diplomatischer Gepflogenheiten griff sie den ungarischen Ministerpräsidenten scharf an. Die Kommissionspräsidentin kritisierte Orbán dafür, dass er diplomatische und wirtschaftliche Beziehungen zu Russland unterhalte und bezeichnete ihn als „Sicherheitsrisiko für alle“. Die Kritik galt implizit Orbáns Versuchen, ein Friedensabkommen mit Wladimir Putin auszuhandeln.

Orbán konterte, indem er das katastrophale Scheitern der Ukraine-Strategie der EU anprangerte und argumentierte, dass die Europäische Kommission „neutral“ und eine „Hüterin der Verträge“ sein sollte. Von der Leyen würde stattdessen politisch unangemessen handeln: „Europa ist nicht in Brüssel, nicht in Straßburg“, sagte Orbán. “Europa ist in Rom, Berlin, Prag, Budapest, Wien, Paris. Es ist ein Bündnis von Nationalstaaten.“

In der Sache hat Orbán natürlich recht: Die europäischen Nationen und ihre Völker sind die Träger des kulturellen, zivilisatorischen und des „geistigen“ Kapitals Europas. Im Grunde genommen sind sie „Europa“. Aber die Wahrheit ist, dass die EU schon vor langer Zeit aufgehört hat, „ein Bündnis von Nationalstaaten“ zu sein.

In den letzten 15 Jahren hat die Kommission die „Dauerkrise“ Europas ausgenutzt, um ihren Einfluss auf Kompetenzbereiche, die zuvor als den nationalen Regierungen vorbehalten galten, heimlich, aber radikal zu erhöhen – von Finanzhaushalten und Gesundheitspolitik bis hin zu Außen- und Verteidigungspolitik.

Die Kommission hat die EU in eine nahezu diktatorische Macht verwandelt, die befugt ist, ihre Agenda den Mitgliedstaaten und ihren Bürgern ohne demokratische Legitimation aufzuzwingen. Neue Höhen erreichte dieser „Kompetenz-Coup“ unter der ersten Präsidentschaft von Ursula von der Leyens in Reaktion auf die Covid-19- und Ukraine-Krise. Nun steht er kurz davor, mit ihrer zweiten Amtszeit fest institutionalisiert zu werden.

In vielerlei Hinsicht erinnert die EU an die späte Sowjetunion. Angesichts des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Zusammenbruchs des Staatenbundes, eskalierender geopolitischer Krisen, schwindender demokratischer Legitimität und zunehmender „populistischer“ Aufstände haben sich die politisch-wirtschaftlichen Eliten Europas dafür entschieden, den Resten von Demokratie und nationaler Souveränität den offenen Krieg zu erklären.

Die Daumenschrauben des technokratischen und autoritären EU-Regimes werden immer fester angezogen. Einen Hoffnungsschimmer ließe sich in der Geschichte der Sowjetunion selbst finden: Vor 30 Jahren beschleunigte die autoritäre Reaktion auf die Krise lediglich den Untergang des Regimes.