Makroskop
Interview mit Thomas Fazi

„Es ist schwieriger denn je, für einen intervenierenden Staat zu argumentieren“

| 15. Oktober 2025

Thomas Fazi warnt vor einer postliberalen Ordnung, in der der Staat entweder als Instrument der Repression oder als ohnmächtiger Verwalter erscheint. Im Gespräch erklärt er, warum eine demokratische Rückgewinnung staatlicher Souveränität heute dringlicher – und zugleich schwieriger – ist als je zuvor.


Thomas Fazi, geboren 1982 in London, lebt in Italien und arbeitet dort als Publizist, Journalist und Filmemacher. Im Promedia Verlag verfasste er einen Beitrag für das Buch „Kriegsfolgen. Wie der Kampf um die Ukraine die Welt verändert" (2023). Sein Buch „Reclaiming the State“, dass er zusammen mit William Mitchell schrieb, ist nun auf Deutsch in der Edition MAKROSKOP erschienen.

Herr Fazi, Ihr Buch ist erstmals 2017 unter dem Titel Reclaiming the State in englischer Sprache veröffentlicht worden. Wie umstritten war damals Ihr Ruf nach einem stärkeren Nationalstaat, der direkt in wirtschaftliche Angelegenheiten eingreift?

Damals stand die zentrale These des Buchs – dass die Rückgewinnung der nationalen Souveränität eine notwendige Voraussetzung für die Wiederherstellung von Demokratie und wirtschaftlicher Selbstbestimmung sei – im Widerspruch zu einem Großteil der vorherrschenden Meinung sowohl auf der linken als auch auf der rechten Seite des politischen Spektrums. Damals war das größte Hindernis für dieses Projekt die pseudoprogressive Ablehnung des neoliberalen Konsenses: eine jahrzehntelange ideologische Zwangsjacke, die Staatsmacht mit Autoritarismus und reaktionärer Politik gleichsetzte.

Hat sich heute diesbezüglich etwas geändert?

Heute hat sich das Terrain dramatisch verändert. In den letzten Jahren haben sich bereits latente Trends beschleunigt: die Ausweitung staatlicher Repression, die Militarisierung des politischen Lebens und die Verhärtung einer autoritären postliberalen Ordnung. Diese Entwicklungen folgten einer klaren Abfolge. Die Covid-19-Pandemie war der erste Wendepunkt, der eine neue Ära der Notfallpolitik, der weit verbreiteten Zensur und der Normalisierung exekutiver Übergriffe einläutete. Der Krieg in der Ukraine hat diese Logik weiter verfestigt, wobei abweichende Stimmen kriminalisiert, von Plattformen verbannt und auf Medien-Blacklists gesetzt wurden. Nun hat die unkritische Unterstützung des Westens für Israels Krieg in Gaza – der auf Massenproteste und starke staatliche Repressionen stieß – ein für alle Mal die gewalttätigen Grundlagen der liberalen internationalen Ordnung offenbart.

Das ist eine sehr scharfe Kritik. Was leiten Sie daraus ab?

Diese Eskalation der Repression hat eine unbeabsichtigte Folge gehabt: Sie hat eine tiefe und wachsende Skepsis gegenüber dem Staat geschürt, insbesondere unter den Teilen der Bevölkerung, die am meisten vom Status quo desillusioniert sind. In vielen Fällen hat diese Desillusionierung die Menschen nicht nach links, sondern zur populistischen oder nationalistischen Rechten getrieben. Dieser Wandel ist nicht nur das Ergebnis einer kulturellen Gegenbewegung, sondern auch eines echten politischen Vakuums – eines Vakuums, das die Linke weitgehend nicht füllen konnte.

„Es ist schwieriger denn je, für eine erneuerte, demokratische und wirtschaftlich interventionistische Rolle des Staates zu argumentieren.“

Vor diesem Hintergrund wird es schwieriger denn je, für eine erneuerte, demokratische und wirtschaftlich interventionistische Rolle des Staates zu argumentieren. Eine politische Vision, die sich auf nationale Souveränität und wirtschaftliche Kontrolle durch das Volk konzentriert, impliziert zwangsläufig einen „stärkeren Staat”, aber auch einen Staat, der viel stärker auf die Forderungen des Volkes eingeht. Doch der Staat, wie er heute existiert, wird weithin (und verständlicherweise) als Durchsetzer der Interessen der Elite wahrgenommen und nicht als Vehikel für kollektive Emanzipation. Dies ist die zentrale Herausforderung, vor der jeder Versuch steht, heute „den Staat zurückzugewinnen”.

Warum profitieren rechte Parteien am meisten von der heute weit verbreiteten Skepsis gegenüber dem Staat?

Die naheliegendste Antwort ist, dass sie die Lücke füllen, die durch das Scheitern und die Niederlage der populistischen Linken entstanden ist – die zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der ersten Auflage des Buches noch Hoffnung bot. Die Anti-Establishment-Bewegung der 2010er Jahre brachte neue linkspopulistische Parteien wie Podemos in Spanien, Syriza in Griechenland und die Fünf-Sterne-Bewegung in Italien hervor. Obwohl diese miteinander verbundenen Phänomene sich in ihrer Ideologie und ihren Zielen unterschieden, lehnten sie alle die (neo-)liberale Ordnung ab, die die Welt – und insbesondere den Westen – in den vorangegangenen zwei bis drei Jahrzehnten dominiert hatte. 

Diese Wahlaufstände sind im Großen und Ganzen gescheitert. Warum?

Zum einen war dies sicherlich auf die heftige Reaktion des Establishments zurückzuführen, das auf eine Vielzahl von Instrumenten zurückgriff, um diese Versuche zu absorbieren und zu neutralisieren. Andere – wie Corbyn und Sanders – wurden durch Propaganda sowie verdeckte und extralegale Mittel gestoppt.

Ein Teil der Schuld liegt jedoch auch bei den ideologischen Vorurteilen der linken Populisten selbst. Was die linkspopulistischen parlamentarischen Experimente der 2010er Jahre betrifft, so waren sie einerseits zu populistisch, das heißt: sie widersetzten sich der Formalisierung von Organisationen und Strukturen, die als Sprachrohr für den Volkswillen dienen sollten; sie waren zu „woke”, also zu sehr der pseudo-radikalen Identitätspolitik und der kosmopolitischen Weltanschauung der linksliberalen Aktivisten aus der professionellen Führungsklasse verpflichtet, um eine ideologisch zunehmend vielfältige (aber überwiegend kulturell konservative) Arbeiterklasse anzusprechen; und nicht radikal genug, um sich mit den Folgen eines frontalen Zusammenstoßes mit den Apparaten des „tiefen Staates“ – oder im Falle Europas mit den Institutionen der Europäischen Union – auseinanderzusetzen.

Und diese politische Lücke wurde in den letzten Jahren von der populistischen Rechten gefüllt…

Ja, aber betrachtet man die jüngste Welle vorwiegend rechtspopulistischer Parteien, die in ganz Europa an Unterstützung gewinnen, könnte man aus weitgehend ähnlichen, wenn auch ideologisch entgegengesetzten Gründen ein ebenso enttäuschendes Ergebnis vorhersagen: Obwohl sie besser als die Linke auf die kulturell konservativen Neigungen der Arbeiterklasse eingestimmt sind, sind sie zu „anti-woke” – sprich: zu sehr auf Kulturkriege fixiert – um die nach wie vor bestehenden weltanschaulichen Spaltungen in der Gesellschaft zu überwinden. Hinzu kommt, dass die rechten Parteien zu sehr dem Wirtschaftsliberalismus verhaftet sind, um Antworten für die Mehrheit der Wähler zu liefern. Denn deren Hauptanliegen sind ihre sozioökonomische Situation beziehungsweise die mangelnde wirtschaftliche Sicherheit. Von ihrer Stimme versprechen sie sich einen materiellen Vorteil.

Wie steht die populistische Rechte zur Frage der nationalen Souveränität?

Die Folgen einer wirklich durchgesetzten nationalen Souveränität, die im europäischen Kontext unweigerlich einen Austritt aus der EU mit sich bringen würde, fürchten auch die rechtspopulistischen Parteien. Erschwerend kommt hinzu, dass sie zu sehr einer hegemonialen, „pro-westlichen“ Weltanschauung verpflichtet sind, die aber selbst eine Variante des liberalen Universalismus ist, die sie im eigenen Land ablehnen. Am deutlichsten zeigt sich das in ihrer reflexartigen Unterstützung Israels und ihrer Darstellung des israelisch-palästinensischen Konflikts im Sinne von Huntingtons „Kampf der Kulturen“. All das macht sie letztendlich unfähig, die Chancen zu nutzen, die sich aus der entstehenden postwestlichen multipolaren Ordnung ergeben – und, was Europa betrifft, die atlantische Einflussnahme auf den Kontinent abzulehnen.

Das klingt so, als würden sie für einen radikalen Mittelweg plädieren.  

Meiner Meinung nach brauchen wir ein neues politisches Angebot, das in der Lage ist, die falsche Links-Rechts-Dichotomie zu überwinden und sowohl die wirtschaftlichen als auch die kulturellen Unsicherheiten ernst zu nehmen, die die Menschen heute empfinden. Zu nennen wären beispielsweise berechtigte Bedenken hinsichtlich der Auswirkungen der Masseneinwanderung.

Was bedeutet das konkret?

Das bedeutet, Forderungen, die früher mit der sozialdemokratischen und arbeiterfreundlichen Linken in Verbindung gebracht wurden – interventionistische und umverteilende Regierungspolitik, höhere Renten und Mindestlöhne, großzügige Sozial- und Sozialversicherungspolitik, Steuern auf Vermögen usw. – mit Positionen zu verbinden, die heute als kulturell konservativ charakterisiert würden. Das bedeutet, in erster Linie anzuerkennen, dass die Bewahrung und Förderung von Traditionen ebenso wichtig ist wie Stabilität, Sicherheit und Gemeinschaftsgefühl. Das bringt zwangsläufig eine restriktivere Einwanderungspolitik mit sich. Parteien, die eine solche links-konservative Synthese anbieten, sind in der westlichen Politiklandschaft so gut wie nicht vorhanden.

„Parteien, die eine links-konservative Synthese anbieten, sind in der westlichen Politiklandschaft so gut wie nicht vorhanden.“

Eine bemerkenswerte Ausnahme bildet die Partei von Sahra Wagenknecht. Aber das Abschneiden der Partei bei den jüngsten Wahlen zeigt auch, wie schwer es ist, eine „dritte Alternative” zu etablieren, wenn Gesellschaften so stark polarisiert sind zwischen etablierten Parteien auf der einen Seite und der vermeintlich „anti-etablierten Rechten” auf der anderen.

Ihr Rahmenkonzept für eine Wirtschaftspolitik im Interesse der Mehrheit erinnert an die keynesianischen Wohlfahrtsstaaten der Nachkriegszeit. Viele würden sagen, der Keynesianismus habe sich bereits in den 1970er Jahren als reformistische Sackgasse und Illusion erwiesen.

Das ist ein guter Einwurf. Wenn wir von „Keynesianismus“ sprechen, meinen wir zwei unterschiedliche Dinge, die oft miteinander verwechselt werden: zum einen eine Theorie, die uns eine Perspektive bietet, um zu verstehen, wie die Wirtschaft funktioniert und uns Instrumente an die Hand gibt, um die Wirtschaft zu steuern; zum anderen einen tatsächlich existierenden politischen Rahmen, der im gesamten Westen zwischen den 1940er und 1970er Jahren bestand, wenn auch mit erheblichen Unterschieden zwischen den einzelnen Ländern.

Sie beziehen sich auf Letzteres. Der keynesianische Rahmen der damaligen Zeit führte zu enormen Verbesserungen der wirtschaftlichen und sozialen Rechte von Bürgern und Arbeitnehmern. Zugleich wurden aber auch viele Grenzen aufgezeigt, vor allem aufgrund der Tatsache, dass die politischen und wirtschaftlichen Eliten große Anstrengungen unternommen haben, um sich gegen die Forderungen der Bevölkerung nach einer stärkeren Demokratisierung und Sozialisierung der Wirtschaft zu wehren. All das wurde letztendlich gekippt, als die politischen und wirtschaftlichen Bedingungen, die diese Forderungen erst ermöglicht hatten, zu erodieren begannen. Das erklären wir auch in dem Buch.

Das heißt, Sie beziehen sich positiv auf eine Theorie, aus der Sie Bausteine für das Fundament einer neuen Wirtschaftsordnung holen?

Genau, was mich vor allem interessiert, ist der Keynesianismus als Instrument, um die wirtschaftspolitischen Hebel zu verstehen, die zur Wirtschaftssteuerung erforderlich sind. Diese Instrumente sollten als wertneutral verstanden werden, sie können also für sehr unterschiedliche politische Ziele eingesetzt werden – von der Sozialisierung von Bankverlusten, dem Aufbau von Kriegsressourcen und der Stärkung der Macht der Elite bis hin zur Erreichung von Vollbeschäftigung und verbesserter Lebensbedingungen und möglicherweise sogar zur Verwirklichung unterschiedlicher Grade eines demokratischen Sozialismus.

„Wir sollten nicht versuchen, den politischen Rahmen der Nachkriegssozialdemokratie wiederherzustellen, sondern eine neue, auf den Menschen ausgerichtete Wirtschaft für das 21. Jahrhundert aufbauen.“

Die Frage ist also, welche Art von Gesellschaft wir aufbauen wollen. Aber unabhängig davon, wie wir diese Frage beantworten, ist ein korrektes Verständnis des Keynesianismus – und vielleicht noch wichtiger: der postkeynesianischen Theorie, insbesondere der Modern Money Theory – entscheidend, um die Instrumente zu kennen, die zur Erreichung der gewünschten politischen Ergebnisse erforderlich sind. Sie haben also Recht: Wir sollten nicht versuchen, den politischen Rahmen der Nachkriegssozialdemokratie wiederherzustellen – was angesichts der radikal veränderten materiellen und politischen Bedingungen der westlichen Gesellschaften ohnehin unmöglich wäre –, sondern eine neue, auf den Menschen ausgerichtete Wirtschaft für das 21. Jahrhundert aufbauen.

Sie schreiben: Es gibt keine wirtschaftliche Demokratie ohne politische Souveränität, und politische Souveränität braucht Menschen, die bereit sind, dafür zu kämpfen. Welche Herausforderungen müssen emanzipatorische Bewegungen heute bewältigen?

Nun, ich sehe zwei Hauptprobleme: Das erste ist, dass zum einen die Legitimität der politischen Eliten im Westen erodiert, zum anderen der öffentliche Konsens schwindet. Die Folge ist, dass die Eliten zunehmend zu autoritären Taktiken greifen, um ihre Macht zu erhalten. Sie beschränken sich nicht mehr nur darauf, durch mediale Kampagnen, Zensur, Rechtsstreitigkeiten oder wirtschaftlichen Druck die Wahlergebnisse zu beeinflussen. Führen diese Maßnahmen nicht zum gewünschten Ergebnis, sind sie zunehmend bereit, die formalen Strukturen der Demokratie, einschließlich der Wahlen, ganz aufzugeben – wie wir in Rumänien gesehen haben. Gleichzeitig werden die traditionellen Kontrollinstrumente verschärft: In weiten Teilen des Westens ist Zensur zur Routine geworden, abweichende Meinungen werden zunehmend kriminalisiert, die Propaganda wird wieder unverhohlener und Rechtssysteme werden als Waffen eingesetzt, um die Opposition zu unterdrücken. Das sind natürlich große Hindernisse für einen systemischen Wandel.

Historisch gesehen gab es das alles immer wieder in unterschiedlichen Ausprägungen. Wie konnte es dennoch zu den sozialen und demokratischen Errungenschaften des „Goldenen Zeitalters des Kapitalismus“ kommen?

Hier kommen wir zu einem strukturellen Problem. Wenn es den Massen während der sogenannten keynesianischen Ära gelang, demokratische Institutionen zu nutzen, um ein gewisses Maß an wirtschaftlicher und politischer Macht zu gewinnen – und selbst dann nur in begrenztem Umfang –, dann verdankten sie dies dem Zusammentreffen verschiedener Faktoren. Darunter spezifische materielle Bedingungen, die es der organisierten Macht der Arbeiterschaft – verkörpert durch Gewerkschaften, Massenparteien und Basisorganisationen – ermöglichten, als Gegengewicht zur organisierten Macht des Kapitals zu fungieren.

Diese Welt existiert jedoch nicht mehr. Die Deindustrialisierung des Westens, die Atomisierung der Gesellschaft, die Schwächung der Gewerkschaften und die neoliberale Aushöhlung des Staates haben genau die Bedingungen untergraben, die die Massendemokratie erst möglich gemacht haben. Infolgedessen hat sich die Politik zunehmend vom materiellen Leben abgekoppelt. Es finden zwar immer noch Wahlen statt, aber die sozialen Kräfte, die einst in der Lage waren, Wahlmandate in strukturelle Veränderungen umzusetzen, sind verschwunden oder wurden neutralisiert. Dies ist der Hauptgrund, warum wir eine Rückkehr zu Formen einer unverhüllten Oligarchie erleben, die an die vordemokratische Ära erinnern.

"Die Deindustrialisierung des Westens, die Atomisierung der Gesellschaft, die Schwächung der Gewerkschaften und die neoliberale Aushöhlung des Staates haben genau die Bedingungen untergraben, die die Massendemokratie erst möglich gemacht haben."

Die Frage lautet also: Wie kann das massive Ungleichgewicht der wirtschaftlichen und politischen Macht, die durch die Zersplitterung der Lohnabhängigen entstanden ist, in Frage gestellt werden? Wir haben immer noch Parteien, Wahlen und Wahlkampagnen. Gelegentlich gibt es große Proteste. Selbst die Gewerkschaften haben noch einige Mitglieder. Doch in Wirklichkeit sind die Mitgliederzahlen der Parteien zurückgegangen, die Wahlbeteiligung ist gesunken und die Gewerkschaftsdichte hat stark abgenommen. Infolgedessen sind die Möglichkeiten, die Interessen des Volkes auf staatlicher Ebene zu vertreten, heute stark eingeschränkt.

Das erklärt auch, warum populistische und systemkritische Bewegungen – ob links oder rechts – tendenziell ins Stocken geraten, sobald sie die institutionelle Schwelle zur Macht erreichen. Da ihnen eine tiefgreifende und organisierte Präsenz innerhalb der einfachen Arbeiter und Angestellten fehlt und sie keine Kontrolle über die Wirtschaftsmacht haben, gehen diese Bewegungen selten über rhetorische Trotzreaktionen oder symbolische Gesten hinaus. Wahlen mögen ihnen formale Legitimität verschaffen, aber ohne einen soliden sozialen Block im Rücken werden sie schnell kooptiert, isoliert oder von der geballten Macht etablierter Institutionen, Medien und supranationaler Regierungsregime zerschlagen.

Sie spielen auf die Europäische Union an, die 2012 immerhin den Friedensnobelpreis erhalten hat.

Seit 2017 ist der inhärent antidemokratische und autoritäre Charakter der EU immer deutlicher geworden. Die uneingeschränkte Unterstützung der EU für die geopolitische Agenda der NATO, ihr Wirtschaftskrieg gegen abweichende Mitgliedstaaten und ihre geradezu enthusiastische Beteiligung an der globalen Aufrüstung offenbaren ihren wahren Charakter: sie ist kein Friedensprojekt, sondern eine imperiale Infrastruktur, um Nationen und Völker zu disziplinieren. In diesem Zusammenhang ist das Kernargument von „Reclaiming the State“ – dass demokratische Souveränität innerhalb der institutionellen Zwangsjacke der EU unmöglich ist – nur noch relevanter und dringlicher geworden.

Ein Austritt aus der EU ist realpolitisch gesehen nahezu unmöglich, die Folgen sind kaum abzuschätzen. Welche Möglichkeiten bleiben da noch, um den Staat wieder zurückzugewinnen?

Trotz meiner düsteren Antwort ist noch nicht alle Hoffnung verloren. Die Auflösung der geopolitischen Ordnung, die historisch gesehen die westliche Vorherrschaft untermauert hat, markiert einen tiefgreifenden Wandel in der globalen Machtdynamik mit erheblichen Auswirkungen auf die Fähigkeit der westlichen Eliten, ihre Macht zu erhalten. Jahrzehntelang ermöglichte diese Ordnung – die auf militärischer Überlegenheit, wirtschaftlicher Hegemonie und kulturellem Einfluss beruhte – den westlichen Mächten unter Führung der Vereinigten Staaten, ihre politische Vision weltweit durchzusetzen und ihre innerstaatlichen Machtstrukturen oft vor substanziellen Herausforderungen zu schützen. Das Entstehen einer multipolaren Welt, angetrieben durch den Aufstieg von Mächten wie China, die Expansion der BRICS-Staaten und des Aufschließens eines Großteils des Globalen Südens an den Westen, signalisiert jedoch das Bröckeln dieser Grundlage.

„Die populistischen Aufschwünge, die das letzte anderthalb Jahrzehnte geprägt haben, sind symptomatisch für tiefere Brüche in den postdemokratischen Strukturen des Westens.“

In diesem Zusammenhang stellt der Niedergang des „unipolaren Moments” nach dem Ende des Kalten Krieges nicht nur die Fähigkeit der westlichen Eliten in Frage, ihre globale Hegemonie aufrechtzuerhalten, sondern legt auch die strukturellen Schwächen ihrer heimischen Systeme offen. Die populistischen Aufschwünge und Anti-Establishment-Bewegungen, die das letzte anderthalb Jahrzehnte geprägt haben, sind zwar oft unterdrückt oder neutralisiert worden, aber sie sind symptomatisch für tiefere Brüche in den postdemokratischen Strukturen des Westens. Ohne die geopolitische Stabilität und wirtschaftliche Dominanz, die diese inneren Widersprüche einst verdeckt haben, sind die Eliten nun anfällig für Herausforderungen, denen sie zunehmend nicht mehr gewachsen sind.

Doch diese Entwicklung ebnet auch den Weg für die Entstehung einer neuen Ordnung – einer Ordnung, die nicht nur eine Neukonfiguration der geopolitischen Macht darstellt, sondern möglicherweise eine völlige Neugestaltung der politischen und wirtschaftlichen Systeme. Während die westlichen Eliten mit ihrem schwindenden Einfluss zu kämpfen haben, könnten sich Chancen für neue Visionen von Regierungsführung und Demokratie ergeben.

Thomas Fazi/William Mitchell: Wie wir den Staat zurückgewinnen. Souveränität in einer Welt nach dem Neoliberalismus, Promedia 2025, 280 Seiten.