Makroskop
Das deutsche Erfolgsmodell

Ein anderer Blick auf 75 Jahre deutsche Wirtschaftspolitik

| 21. Oktober 2025
IMAGO / eigene Komposition

Was heute als wirtschaftlicher Erfolg gilt, war oft das Ergebnis politischer Fehlinterpretationen. Diese Artikelreihe blickt zurück auf sieben Jahrzehnte deutscher Wirtschaftspolitik, dekonstruiert ihre theoretischen Fundamente und zeigt, dass es zu den vermeintlichen Sachzwängen immer Alternativen gab – und gibt.

In der schwarz-roten Koalition wird erneut über Kürzungen beim Bürgergeld beziehungsweise der Grundsicherung diskutiert. Der Sozialverband Deutschland warnt, dass viele Menschen dadurch in Armut abrutschen könnten. Neben einer eher symbolischen Reduktion staatlicher Ausgaben spielt dabei vor allem die angeblich notwendige „Erhöhung des Anreizes zur Arbeitsaufnahme“ eine zentrale Rolle. Arbeitslosigkeit soll unangenehmer werden, damit sich die Menschen im Sozialsystem nicht zu wohl fühlen – so die Logik. Entsprechend werden auch schärfere Sanktionen gefordert, wenn Arbeitslose Termine beim Amt versäumen oder Vermittlungsangebote ablehnen.

Weite Teile von CDU und SPD berufen sich dabei auf die Reformpolitik der frühen 2000er-Jahre, mit der man den „kranken Mann Europas“ durch den Mut zu unpopulären Maßnahmen wieder gesund gemacht habe. Kürzungen im Sozialsystem und steigender Druck, schlecht bezahlte Jobs anzunehmen sowie eine lange Phase schwacher Lohnentwicklung – all das gilt vielen bis heute als Fundament des deutschen „Erfolgsmodells“.

In einer Reihe von Artikeln möchte ich darlegen, auf welchen theoretischen Grundlagen diese politischen Maßnahmen beruhen und welche alternativen Sichtweisen es auf die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg gibt. Gerade jüngere MAKROSKOP-Leserinnen und -Leser konnten die kontroversen Debatten der späten 1990er-Jahre nicht miterleben und gewinnen durch die heutige Wirtschaftsberichterstattung häufig den Eindruck, die damaligen Sozialreformen der Agenda 2010 seien alternativlos gewesen.

Begeben wir uns daher auf eine historische Reise durch die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands – von den Jahren des Wiederaufbaus bis zu den aktuellen wirtschaftspolitischen Kontroversen.

Die globale Finanzkrise und der Aufstieg der Nationalsozialisten

Die Spurensuche beginnt mit einem Blick auf die 1930er-Jahre. Der größte globale Finanzcrash am 24. Oktober 1929 führte zur Großen Depression. Die daraus resultierende Massenarbeitslosigkeit versuchten die meisten Länder mit einer Deflationspolitik zu bekämpfen. Wechselkursabwertungen sowie Lohn- und Preissenkungen sollten die eigenen Produkte im Ausland verbilligen, um über Handelsbilanzüberschüsse die Nachfragelücke auszugleichen, die durch die Arbeitslosigkeit entstanden war.

Doch diese Strategie beruhte auf einem klassischen Trugschluss der Verallgemeinerung: Ein einzelnes Land kann seine Wettbewerbsfähigkeit durch Abwertung tatsächlich verbessern – versuchen aber alle Länder gleichzeitig, billiger zu werden, neutralisieren sich die Effekte gegenseitig.

Das Ergebnis dieser Deflationspolitik war daher keine Erholung, sondern eine Verlängerung der Krise, da sie die Nachfrage zusätzlich dämpfte. In Deutschland kürzte Reichskanzler Heinrich Brüning die Staatsausgaben, um den Haushalt zu konsolidieren und Lohnsenkungen durchzusetzen. Vergleichbar mit der Austeritätspolitik der vergangenen Jahrzehnte hatte dies verheerende Folgen: Die Wirtschaftskrise verschärfte sich und der drastische Anstieg der Arbeitslosigkeit trug dazu bei, breite Bevölkerungsschichten für einen politischen Kurswechsel zu gewinnen – letztlich zum Vorteil der Nationalsozialisten.

In den USA begann Präsident Franklin D. Roosevelt in den 1930er-Jahren mithilfe staatlicher Investitionsprogramme die hohe Arbeitslosigkeit infolge der Weltwirtschaftskrise zu bekämpfen. Diese öffentlichen Beschäftigungsmaßnahmen entsprachen im Kern der später von John Maynard Keynes formulierten Idee, dass der Staat in einer Krise durch höhere Ausgaben die Nachfragelücke schließen müsse – obwohl Keynes’ General Theory erst einige Jahre später erschien. Keynes lobte Roosevelt daraufhin in einem offenen Brief, der im Dezember 1933 in der New York Times erschien und im darauffolgenden Jahr trafen sich beide in Washington für einen Austausch. Die Programme reduzierten die Arbeitslosigkeit deutlich, blieben jedoch politisch umstritten und wurden vermutlich auch deshalb nur begrenzt und befristet umgesetzt.

Nach dem Auslaufen der Programme stieg die Arbeitslosigkeit zunächst wieder leicht an, bevor der Zweite Weltkrieg ein deutlich umfangreicheres Rüstungs- und Investitionsprogramm erforderlich machte. In dessen Folge sank die Arbeitslosigkeit weit unter das Vorkrisenniveau, was die meisten Ökonomen als weitere Bestätigung der keynesianischen Theorie sahen. Ob man die Reduktion der Arbeitslosigkeit durch die Rüstungsausgaben der USA oder die Zwangsarbeit und Aufrüstung im nationalsozialistischen Deutschland als „Militär-Keynesianismus“ bezeichnen sollte, ist unter MAKROSKOP-Autoren indes umstritten (siehe hier, hier und hier).

Das goldene Zeitalter des Kapitalismus

Wie ich bereits gemeinsam mit Günther Grunert dargelegt habe, führten die Erfahrungen mit der großen Depression der 1930er-Jahre nach der Finanzkrise weltweit zu einer stärkeren Regulierung des Kapitalismus. Die zwei bis drei folgenden Jahrzehnte gelten daher auch als „keynesianische Ära“. Sie waren geprägt von einem globalen Ausbau der Wohlfahrtsstaaten, der Stärkung von Gewerkschaften, umfangreichen staatlichen Investitionen, einer strengen Regulierung der Finanzmärkte sowie geldpolitischen Maßnahmen zur Steuerung der privaten Investitionstätigkeit.

Die keynesianische Theorie bildete die intellektuelle Grundlage dieser Politik und setzte sich sowohl in der Wissenschaft als auch in der Wirtschaftspolitik weitgehend durch. Die Neoklassik, deren wirtschaftspolitisches Leitbild des „Laissez-faire“ in der Großen Depression gescheitert war, wurde in dieser Phase weitgehend verdrängt.

Lohnpolitische Richtlinien stellten in vielen Ländern, hierunter die USA, die skandinavischen Länder, Österreich und für eine kurze Zeit auch Deutschland, einen – impliziten oder expliziten – Richtwert für die Tarifparteien bereit. Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften einigten sich darauf, dass die nominalen Löhne sich gemäß einer solchen Regel entwickeln sollten (zum Teil unterstützt durch Appelle der Regierung und der Zentralbank). Die als korporatistisches Modell bezeichnete Kooperation sollte eine gesamtwirtschaftlich ausreichende Nachfrage bei stabiler Inflationsrate gewährleisten und gleichzeitig den Unternehmen einen ausreichenden Gewinn versprechen, damit diese auch in Zukunft genügend investieren werden.

1944 einigten sich zudem 44 Staaten in Bretton Woods auf die Einführung eines festen Wechselkurssystems mit der Möglichkeit diskretionärer Anpassungen der Wechselkursrelationen. Ziel war es unter anderem, zu verhindern, dass einzelne Länder durch gezielte Abwertungen ihrer Währung Wettbewerbs- oder Preisvorteile gegenüber anderen erlangten. Abwertungswettläufe wie in den ersten Jahren nach dem Crash sollten so dauerhaft ausgeschlossen werden.

Wie Abbildung 1 zeigt, stieg das weltweite reale Bruttoinlandsprodukt in dieser Ära in einem Ausmaß, das weder zuvor noch danach je wieder erreicht wurde:

Abbildung 1; Quelle: Davidson, P. (2007). John Maynard Keynes, Great Thinkers in Economics, Palgrave Macmillan UK, S.96

Zwar begünstigte der Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg in den ersten Jahren die wirtschaftliche Dynamik einiger Länder, doch selbst während der industriellen Revolution waren die jährlichen Wachstumsraten höchstens halb so hoch. Der jährliche Produktivitätsanstieg (reales BIP pro Kopf) in den OECD-Staaten lag während der Industrialisierung bei nur etwas mehr als einem Viertel des Niveaus der Nachkriegsjahrzehnte, siehe Abbildung 2:

Abbildung 2; Quelle: Davidson, P. (2007). John Maynard Keynes, Great Thinkers in Economics, Palgrave Macmillan UK, S.96.

Entwicklungsländer profitierten in dieser Zeit vom wachsenden Welthandel, von Entwicklungshilfe und ausländischen Direktinvestitionen. In den Industrieländern sank die Arbeitslosigkeit auf wenige Prozentpunkte. [1]

Die Nachkriegsjahre in Westdeutschland

Die wirtschaftliche Entwicklung in Westdeutschland ist in Abbildung 3 dargestellt. In den Nachkriegsjahrzehnten verfolgte die Bundesrepublik zunächst keine ausgeprägt keynesianische Politik im Sinne hoher staatlicher Defizite zur Stützung der Konjunktur. Eine expansive Fiskalpolitik war auch kaum erforderlich: Das Land profitierte von der stabilen internationalen Wirtschaftsordnung, vom Wiederaufbau im Innern und vom weltweiten Aufschwung. Aufgrund moderater Lohnsteigerungen konnte Westdeutschland bereits in den 1950er-Jahren Exportüberschüsse erzielen.

Abbildung 3; Quelle: Reales Bruttoinlandsprodukt - Statistisches Bundesamt: Volkseinkommen ab 1925; Eigene Berechnungen; Arbeitslosenquote: Bundesagentur für Arbeit: Arbeitslosigkeit im Zeitverlauf: Entwicklung der Arbeitslosenquote; Anmerkungen: In 2005 wurden die VGR-Daten rückwirkend bis zum Jahr 1970 revidiert. 1951-1960: ohne Berlin-West und Saarland, 1960-1970: vor VGR Revision von 2005, 1971-1991: nach VGR Revision von 2005; Die Arbeitslosenquote ist auf abhängige zivile Erwerbspersonen bezogen.

Zwischen 1951 und 1960 wuchs das reale Bruttoinlandsprodukt jährlich um durchschnittlich mehr als acht Prozent. Gleichzeitig sank die Arbeitslosenquote von 11 Prozent im Jahr 1950 auf 1,3 Prozent im Jahr 1960. Auch in den Jahren 1960 bis 1970 blieb das Wachstum mit durchschnittlich 4,6 Prozent robust – trotz der ersten Nachkriegsrezession im Jahr 1967, in der das reale BIP um 0,3 Prozent sank. Die Arbeitslosenquote stieg in diesem Jahr von 0,7 auf 2,1 Prozent.

Keynesianische Fiskalpolitik ab 1967

Zur Bekämpfung dieser Rezession legten Wirtschaftsminister Karl Schiller (SPD) und Finanzminister Franz Josef Strauß (CSU) ein staatliches Investitionsprogramm auf: Im Februar 1967 wurden 2,5 Milliarden DM und im September weitere 5,3 Milliarden DM bereitgestellt – zusammen also rund zehn Prozent des damaligen Staatshaushalts. Das reale BIP wuchs in den drei folgenden Jahren durchschnittlich um sechs Prozent, und die Arbeitslosenquote sank bis 1970 wieder auf 0,7 Prozent. Die sogenannte „konzertierte Aktion“ wurde dank des korporatistischen Modells von Lohnzurückhaltung begleitet, um inflationäre Effekte zu verhindern. Trotz der zusätzlichen Ausgaben sank die Staatsschuldenquote aufgrund des hohen Wachstums: 1970 lag sie mit 17,81 Prozent des BIP sogar unter dem Wert von 1966 (20,15 Prozent). Werte, von denen Deutschland heute nur träumen kann.

Die erste Ölpreiskrise von 1973 führte jedoch zu einem weiteren deutlichen Rückgang der Wachstumsraten, und 1975 erlebte Deutschland die zweite Nachkriegsrezession. Das reale Bruttoinlandsprodukt sank in diesem Jahr um 0,9 Prozent. Gleichzeitig erreichte die Inflationsrate bereits 1974 über 7,3 Prozent, woraufhin die Bundesbank die Leitzinsen anhob, um weiteren Preissteigerungen entgegenzuwirken. Aufgrund der rückläufigen Steuereinnahmen stieg die staatliche Schuldenquote 1975 erstmals in der Nachkriegszeit auf über 23 Prozent. Mit dem Haushaltsstrukturgesetz von 1975 wurden daraufhin Ausgabenkürzungen beschlossen. Aus keynesianischer Sicht war die fiskalpolitische Reaktion auf die Rezession somit zunächst kontraktiv – also genau das Gegenteil dessen, was zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit angezeigt gewesen wäre.

Erst 1977 wurde schließlich ein staatliches Investitionsprogramm im Umfang von rund 14 bis 16 Milliarden DM beschlossen. Die Arbeitslosenquote ging in den Folgejahren bis 1980 jedoch nur leicht zurück – von 4,5 Prozent auf 3,8 Prozent.

Im historischen Vergleich stellt eine Arbeitslosenquote von 3,8 Prozent dennoch einen außergewöhnlich niedrigen Wert dar – der niedrigste Stand seit der Wiedervereinigung liegt mit rund 5 Prozent deutlich darüber. Der begrenzte Effekt des zweiten Konjunkturprogramms ist teilweise darauf zurückzuführen, dass in dieser Zeit die Zahl der Erwerbspersonen deutlich zunahm, unter anderem durch den wachsenden Anteil erwerbstätiger Frauen.

Vermutlich markierten die Arbeitslosenquoten der 1960er-Jahre sogar eine Phase der Überbeschäftigung, in der die Arbeitslosigkeit unter dem Niveau lag, das den üblichen Fluktuationen am Arbeitsmarkt entspricht. Insofern lässt sich die Entwicklung bis 1980 auch als eine gewisse Normalisierung interpretieren. Streng keynesianisch orientierte Ökonomen bewerten die Wirkung der damaligen Investitionsprogramme auf die Beschäftigung daher positiv – insbesondere, wenn man berücksichtigt, dass die kontraktive Geldpolitik der Zentralbanken den fiskalpolitischen Maßnahmen jener Zeit teilweise entgegenwirkte.

Fazit

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die deutsche Wirtschaftspolitik der Nachkriegsjahre mit einer gesamtwirtschaftlich abgestimmten Lohnpolitik zur Stabilisierung der Inflationsrate deutliche keynesianische Züge trug. Zugleich profitierte das bereits damals exportorientierte deutsche Wirtschaftsmodell von den expansiven Programmen anderer Länder, die eine einzigartige globale Wachstumsdynamik erzeugten.

Eine ausdrücklich fiskalpolitische Nachfragesteuerung wurde jedoch erst mit der ersten Rezession des Jahres 1967 notwendig. Die beiden daraufhin aufgelegten Konjunkturprogramme können rückblickend als grundsätzlich erfolgreich bewertet werden. Die institutionellen Reformen jener Zeit vermittelten zudem den Eindruck, dass auch künftig an einer keynesianisch orientierten Politik festgehalten würde. Hierzu zählten das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz von 1967, das den Gedanken einer antizyklischen Fiskalpolitik institutionell verankerte, sowie die Gründung des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, der wirtschaftspolitische Eingriffe künftig wissenschaftlich begleiten und legitimieren sollte.

Warum es dennoch anders kam – und der Keynesianismus vom monetaristischen Dogma abgelöst wurde – werde ich im nächsten Teil erläutern.

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[1] Siehe hierzu z.B. Adelman, I. (1991). “Long Term Economic Development,” CUDARE Working paper no. 198583, California Agricultural Experiment Station, Berkeley sowie Adelman, I. (1995). “The long term impact of economic development in developed countries on developing countries since 1820,” Journal of Evolutionary Economics 5, 189-208.