Wer oder was ist hier verfassungswidrig?
Der eigentliche Skandal des Karlsruher Urteils zur Schuldenbremse besteht darin, dass die Richter den politischen Missbrauch des Grundgesetzes durch diese Rechtsnorm nicht kritisieren, sondern sogar befördern.
Das Bundesverfassungsgericht hat die von der Bundesregierung geplante Umwidmung des für die Folgen von Covid-19 gedachten Sondervermögens in einen Fonds für Maßnahmen zum Klimaschutz für verfassungswidrig erklärt. Sie verstoße gegen die im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse, die ein generelles Verbot der Schließung von Lücken in öffentlichen Haushalten über Kredite vorsieht. Davon kann nur abgewichen werden bei „Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Notsituationen, die sich der Kontrolle des Staates entziehen“ (Artikel 115 Abs. 2 GG).
Die Verfassungsrichter sehen diese Voraussetzungen beim geplanten Programm gegen den Klimaschutz als nicht gegeben an, und die Bundesregierung muss nun zusehen, wie sie das Geld für dieses Projekt – immerhin 60 Milliarden Euro – aus anderen Quellenschöpft.
Selbst gestellte Falle
Das Urteil sei „Politik made in Karlsruhe“, schimpft die Süddeutsche Zeitung und wirft den Verfassungsrichtern damit Amtsanmaßung vor. Ihr Urteil „klingt, als hätten sie die Lizenz zum Mitregieren.“ Das Dumme ist nur, dass dem Bundesverfassungsgericht diese Lizenz 2009 von der Föderalismuskommission des Bundes und der Länder einvernehmlich und unter dem Beifall der Leitmedien erteilt wurde. Die politische Klasse hat sich diese Falle selbst gestellt.
Mit der Schuldenbremse hat sie das Bundesverfassungsgericht zum begleitenden Mitregieren geradezu aufgefordert. Wer einem fiskalischen Instrument wie der Schuldenbremse Verfassungsrang einräumt, darf sich nicht wundern, dass die Richter des Zweiten Senats das kreditfinanzierte Klimaschutzprogramm der Bundesregierung für grundgesetzwidrig erklären.
Die Behauptung der Süddeutschen Zeitung, die Schuldenbremse sei nur dafür gedacht, die Politik vor der „überwältigenden Versuchung zu bewahren, Schulden für wahlwirksame Kurzfrist-Wohltaten aufzunehmen“, ist eine steile These. In das Grundgesetz wurden ungewöhnlich detaillierte Vorgaben für den Umfang und die Grenzen der öffentlichen Kreditaufnahme eingefügt (siehe unten), aber von einer Beschränkung der Schuldenbremse auf verzichtbare Leistungen ist dort nichts zu lesen. Sie gilt für alle Staatsausgaben, unabhängig von deren Nutznießern und Bedeutung.
Verfassungswidrige Schuldenbremse
Allerdings drängt sich die Frage auf, ob nicht die Schuldenbremse selbst dem Charakter des Grundgesetzes als Gesetzgebungsrahmen widerspricht. Ihre in sieben (!) Artikeln des Grundgesetzes (91c, 91d, 104b, 109, 109a, 115 und 143d) kodifizierten Regeln lesen sich, wie Heribert Prantl in der Online-Ausgabe der Süddeutschen Zeitung feststellt, „nicht wie Grundregeln, sondern wie deren Ausführungsbestimmungen.“
Prantl verweist auf den ehemaligen Verfassungsrichter Dieter Grimm, der derart detaillierte Grundgesetz-Artikel als Verstoß gegen demokratische Spielregeln bezeichnete. Sie richten sich gegen die Absichten des 1948 mit der Erarbeitung einer Verfassung beauftragten Parlamentarischen Rats, der auf konkrete Vorgaben des Grundgesetzes an die politische Praxis bewusst verzichtete. Er setzte sich damit von der Weimarer Reichsverfassung ab, die dem Staat spezifische sozialpolitische Pflichten auferlegte. Dazu gehörten unter anderem die Schaffung eines einheitlichen Arbeitsrechts (Artikel 158), der Aufbau eines allgemeinen Sozialversicherungswesens (Artikel 161) sowie die Errichtung von Betriebsräten (Artikel 165).
Dem Grundgesetz sind solche konkreten Arbeitsaufträge an die Legislative und Exekutive prinzipiell fremd. Im Parlamentarischen Rat setzte sich die Auffassung durch, den sozialen Rechtsstaat als maßgeblichen Grundsatz für die Gesetzgebung und Rechtsprechung in der Verfassung zu verankern, aber auf die Festlegung von praktischen Maßnahmen zur Realisierung dieses Postulats zu verzichten.
Verfassungen seien keine Parteiprogramme, so Carlo Schmid, Wortführer der SPD im Parlamentarischen Rat, sondern sollten nur die demokratische und rechtsstaatliche Substanz des Staates festlegen. Wesentlich sei dabei, so Schmid, dass die im Grundgesetz „vorgesehenen Verfahrensregeln den Weg zum Fortschritt nicht blockieren, sondern öffnen“. Damit setzte er sich auch gegen Bestrebungen in der SPD und den Gewerkschaften durch, die an den in den 1920er Jahren entwickelten Vorstellungen einer Wirtschaftsdemokratie anknüpften und die Sozialisierung der Schwerindustrie ins Grundgesetz heben wollten.
Der für die Wirtschafts- und Sozialpolitik entscheidende Gedanke des Grundgesetzes ist, wie es Wolfgang Abendroth auf den Punkt brachte, dass „die Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung der Gestaltung durch diejenigen Staatsorgane unterworfen wird, in denen sich die demokratische Selbstbestimmung des Volkes repräsentiert.“ Der Artikel 20 des Grundgesetzes definiert die Bundesrepublik Deutschland als „demokratischen und sozialen Bundesstaat“. In Artikel 28 Abs. 1 wird dieses Sozialstaatsprinzip ausdrücklich auch als Orientierung für die Länderverfassungen festgelegt.
Das Sozialstaatsprinzip ist demnach eine Maxime für die Fortentwicklung der allgemeinen Rechts- und Gesellschaftsordnung durch ein demokratisch gewähltes Parlament. Die Erhebung der Schuldenbremse zur Verfassungsnorm verstößt gegen den Grundsatz, im Grundgesetz nur den allgemeinen Rahmen für die Gestaltung der Politik festzulegen und die konkreten politischen Inhalte dem Gesetzgeber zu überlassen. Der eigentliche Skandal des Karlsruher Urteils zur Schuldenbremse besteht darin, dass die Richter den politischen Missbrauch des Grundgesetzes durch diese Rechtsnorm nicht kritisieren, sondern sogar befördern.
Das kann eigentlich nicht überraschen, weil die große Mehrheit der deutschen Staatsrechtler die marktfixierten Vorstellungen von ordoliberalen Ökonomen teilt, wie der Sozialrechtler John Philipp Thurn in seinem Buch „Welcher Sozialstaat?“[1] zeigt. Er dokumentiert anhand von Tagungsprotokollen von Versammlungen der Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer die Dominanz dieser Lehrmeinung von Ökonomen in der akademischen Verfassungslehre und zitiert den liberalen Staatsrechtler Peter Häberle mit der Erkenntnis: „Verfassungsinterpretation kann Verfassungsänderungen überflüssig machen.“
Katzenjammer
Die Verfassungsrichter haben mit ihrem Urteil keine unverbindliche Empfehlung abgegeben, sondern die Schuldenbremse „scharf gestellt“, wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung schreibt. Damit hat die an den Ökonomie-Fakultäten vorherrschende marktliberale Lehre quasi Verfassungsrang bekommen und das Grundgesetz wird zum Instrument der Parteipolitik. Der CDU-Chef Friedrich Merz hat im ZDF (16. November 2023) laut darüber nachgedacht, auch gegen das 200 Milliarden Euro umfassende Programm der Ampelkoalition zur Dämpfung der Energiepreise in Karlsruhe zu klagen.
Jetzt jammern Politiker von SPD und Grünen über die von ihnen mitbeschlossene Schuldenbremse wie Kinder, die mit einem Fußball ein Fenster zertrümmert haben: „Das haben wir nicht gewollt.“ Die Schuldenbremse steht politisch im Zusammenhang mit der Agenda 2010. Die SPD hat in drei Koalitionen mehr schlecht als recht versucht, die für sie verheerenden Ergebnisse dieses den Sozialstaat aushöhlenden politischen Paradigmenwechsels zu revidieren. Mit der FDP, den Unionsparteien und auch den Grünen ist eine wirkliche Wende in der Wirtschafts- und Sozialpolitik nicht zu machen.
Gegenwärtig ist es illusorisch, die Schuldenbremse aus dem Grundgesetz streichen zu wollen, auch wenn darüber sogar Leute nachdenken, die sie bei ihrer Einführung aufs schärfste begrüßten. Die für eine Änderung oder Entfernung der oben genannten Artikel des Grundgesetzes erforderliche Zweidrittel-Mehrheit im Bundestag und Bundesrat ist auch nicht ansatzweise in Sicht.
Vor diesem Hintergrund ist auch die Forderung der SPD-Vorsitzenden Saskia Esken, die Schuldenbremse in den Jahren 2023 und 2024 auszusetzen, eher hilflos als hilfreich. Christian Lindner und die FDP werden eher die Ampel-Koalition sprengen, als das zu akzeptieren. Aber selbst wenn die FDP diese Kröte schluckt, würden die Unionsparteien ein entsprechendes Gesetz umgehend mit einem erfolgversprechenden Eilantrag in Karlsruhe abwürgen.
Die Entfernung der Schuldenbremse aus dem Grundgesetz hat erst dann eine Chance, wenn die Fiskalpolitik der „schwäbischen Hausfrau“ (Angela Merkel) ihre Hegemonie verloren und in der Wirtschafts- und Sozialpolitik das Denken in makroökonomischen Zusammenhängen die Oberhand gewonnen hat. Das kann leider dauern.
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