Gesundheit: Zuzahlungen als Irrweg
Mit neuen Selbstbeteiligungen will die Bundesregierung auf steigende Gesundheitsausgaben reagieren. Doch Studien zeigen: Sie senken nicht die Kosten, sondern verschlechtern die Versorgung und erhöhen langfristig die Belastung für das System.
Der Bundeskanzler persönlich hat die sozialpolitische Stoßrichtung der von ihm geführten Regierung mit hinreichender Klarheit vorgegeben: „Der Sozialstaat, wie wir ihn heute haben, ist mit dem, was wir volkswirtschaftlich leisten, nicht mehr finanzierbar,“ erklärte Friedrich Merz im Sommer 2025 und forderte „eine große gesellschaftspolitische Kraftanstrengung“ bei „Altersversorgung, Gesundheitsversorgung und Pflegebedürftigkeit“. Es droht, um bei den bekanntermaßen immer wohl abgewogenen Worten von Friedrich Merz zu bleiben, ein Herbst der Reformen. Das lässt nichts Gutes ahnen.
Amtshilfe bekommt der Kanzler von der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA). Deren Geschäftsführer, Steffen Kampeter, scheut nicht davor zurück, die wegen ihrer Fehlsteuerung abgeschaffte Praxisgebühr wieder vorzuschlagen. Der in „Kontaktgebühr“ umbenannte Griff in die Portemonnaies der Betroffenen soll zu einer besseren Patientensteuerung beitragen und "Ärzte-Hopping begrenzen". Schließlich gingen die Bundesbürger häufiger zum Arzt oder zur Ärztin als die Bewohner anderer Industrieländer.
Bundesgesundheitsministerin Nina Warken (CDU) erwägt die Anhebung der Zuzahlungen um 50 Prozent, womit der Eigenanteil der Versicherten zum Beispiel bei Arzneimitteln von fünf auf 7,50 oder von zehn auf 15 Euro stiege und für einen Krankenhaustag 15 statt zehn Euro fällig wären. Das erinnert an die „moderne Kontaktpauschale“, die die Ökonomie-Professoren Fetzer aus Aalen und Hagist aus Vallendar Anfang April dieses Jahres im Tagesspiegel anpriesen – zusammen mit den ebenso ubiquitären wie inhaltsarmen Vorschlägen zur „Effizienzsteigerung“ durch Digitalisierung und mehr Kassenwettbewerb.
Dabei greifen sie den alten Hut der vermeintlich mangelnden Eigenverantwortung der Patienten als relevanten Kostentreiber im Gesundheitswesen auf. Ebenso wie Neu-Gesundheitspolitiker Hendrik Streeck, der sich als Virologe nicht nur zur Drogenpolitik, sondern auch zur Gesundheitsfinanzierung berufen fühlt, schlägt „kluge Selbstbeteiligungen (…) für gesunde Lebensführung, für Eigenverantwortung“ vor.
Schützenhilfe bekommt die Selbstbeteiligungsidee auch wieder aus dem Südwesten der Republik: „Einen Sockelbetrag, den man selbst bezahlt. Als Beispiel 500 oder 800 Euro im Jahr. Dann braucht man eine Beteiligungsquote, wo man die nächsten 500 oder 1000 Euro zu 50 Prozent wiederbekommt“, fordert der Freiburger Finanzwissenschaftler Raffelhüschen.
Ihn leitet offenbar die unglückliche Kombination aus ideologischer und geografischer Nähe zum zutiefst unsozialen Schweizer Krankenversicherungswesen, das übrigens – auch anders als Fetzer und Hagist behaupten – keineswegs „maßvoll ausgestaltete Selbstbeteiligungen“ vorsieht, sondern mit der Kombination von Franchisen genannten jährlichen „Selbstbehalten“ und etlichen weiteren Zuzahlungen vor allem einkommensschwächere Haushalte und ältere Menschen finanziell bedroht.
Unverrückbarer Glaube an den homo oeconomicus
Insgesamt, und keineswegs überraschend feiern in der aktuellen Kriegserklärung an den Sozialstaat die altbekannten Mythen der Gesundheitspolitik fröhliche Urständ. So eben auch die Forderung nach stärkerer „Eigenverantwortung“ in Form der finanziellen Beteiligung der Patienten an den Behandlungskosten. Damit wollen die Reformer der schwarz-roten Koalition nicht nur die knappen Kassen der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) schonen, sondern auch die Arbeitgeber vor steigenden „Lohnnebenkosten“ bewahren – auch so ein unsinniger Begriff, der im Zusammenhang mit den angekündigten Sozialreformen wieder in Mode kommt. Zuzahlungen gehören zu den Dauerbrennern der Gesundheitspolitik und den chronisch-rezidivierenden Ideen bei Reform- und Kostendämpfungstherapien im Gesundheitswesen.
Letztlich ist die Idee von der Beteiligung der Patienten an den Kosten ihrer medizinischen Behandlungen fast so alt wie die Einführung der sozialen Krankenversicherung. Deren zentrales Ziel ist es bekanntlich, die finanzielle Überlastung bei akut und unvorhersehbar auftretender Erkrankung durch regelmäßige und kalkulierbare Vorauszahlungen zu vermeiden. Selbstbeteiligungen der Patienten bedeuten in Sozialstaaten nichts anderes als die Rückverlagerung zumindest eines Teils der Behandlungskosten aus der Vorausfinanzierung über Sozialversicherungsbeiträge - oder andernorts Steuern – und damit aus der Risikoteilung und der solidarischen Finanzierung.
Konservative und vor allem liberale Politiker, Unternehmer, Mainstream-Ökonomen und auch etliche Mediziner haben damit aber offenbar kein Problem und propagieren bei jeder Gelegenheit die Einführung oder Erhöhung von Zuzahlungen im Krankheitsfall. Selbstbeteiligungen sollen der vermeintlichen Übernutzung des Gesundheitswesens gegensteuern, indem sie die Menschen zur "vernünftigen" Inanspruchnahme anleiten und von "überflüssigen" Arztkontakten abhalten.
Befürworter von Eigenbeteiligungen argumentieren mit deren Potenzial, das Verhalten der Verbraucher am Gesundheitsmarkt sinnvoll zu steuern. Wer für einen Teil der Behandlungskosten selber aufkommen muss, werde sich genauer überlegen, ob er/sie medizinische Versorgungsleistungen in Anspruch nimmt. Zuzahlungen sollen die ungerechtfertigte Inanspruchnahme eindämmen und damit das Gesundheitswesen effizienter machen.
Dahinter steht das Bild vom homo oeconomicus, der heute auch die Sozialpolitik bestimmt. Seit der amerikanische Ökonom Mark Pauly vor einem halben Jahrhundert hinter umfangreicher sozialer Sicherung vermeintliche Wohlfahrtsverluste witterte,[1] glaubt ein großer Teil der akademischen Wirtschaftswissenschaften ebenso wie konservative und liberale Politiker an die Freibierthese im Gesundheitswesen. Demnach wollen Menschen alles in Anspruch nehmen, was es umsonst oder erheblich günstiger gibt, als wenn jeder selbst dafür aufkommen müsste. Dabei blenden sie aus, dass Moral Hazard – im Deutschen wahlweise als „moralisches Risiko“ oder „moralische Versuchung“ übersetzt – auf der Anbieterseite, also bei Ärzten und Krankenhäusern, für die Gesundheitsausgaben erheblich relevanter ist als auf Patienten- bzw. Nachfragerseite.
Eins steht fest: Dieses aus einer ungesunden Mischung von neoklassischer Wirtschaftstheorie und gefühltem Alltagserleben geborene, leichtfertige und völlig empiriefreie Gerede ist weitaus überflüssiger als es die Inanspruchnahme von Versorgungsleistungen jemals sein kann. Schon die theoretische Annahme erweist sich nicht nur wegen der unzureichenden medizinischen Kompetenz der Bürger solange als realitätsfremd, wie nicht die gesamte Bevölkerung zumindest eine Ausbildung in einem medizinischen Fachberuf durchlaufen hat. Denn selbst Fachleuten gelingt eine zuverlässige Diagnose oft erst nach eingehender Diagnostik. Allenfalls Modellberechnungen unter bestimmten, oftmals die Wirklichkeit nicht annähernd widerspiegelnden Prämissen können Hinweise darauf liefern, dass Zuzahlungen das Patientenverhalten in die gewünschte Richtung steuern.
Popanz moral hazard
Verlässt man den Boden ökonomischer Glaubenssätze und berücksichtigt auch klinisch-epidemiologische Effekte, zeigt sich ein anderes Bild. Die wirtschaftstheoretische und ideologische Annahme, die "sinnvolle" und die "überflüssige" Inanspruchnahme von medizinischen Versorgungsleistungen seien hinreichend klar auseinanderzuhalten, gehört in das Reich der Mythen und nicht in die realpolitische Debatte.
Bisher ist es nirgends auf der Welt gelungen, mit Hilfe von Kostenbeteiligungen zielsicher zwischen unterstellter überflüssiger und sinnvoller Inanspruchnahme von medizinischen Leistungen zu unterscheiden. Zuzahlungen halten die Menschen eben nicht nur von unnötigen Arztbesuchen und Tabletteneinnahmen ab, sondern dummerweise auch immer von sinnvollen und nutzbringenden Behandlungen.
Eine nahezu unübersehbare, ständig wachsende Zahl wissenschaftlicher Untersuchungen belegt, dass Selbstbeteiligungen in der Krankenversorgung nicht nur vermeidbares Leid, sondern auch erhebliche Zusatzkosten für das Gesundheitswesen produzieren. Der Versuch der Kostendämpfung durch Patientenzuzahlungen erweist sich allzu häufig als Bumerang. Viele Studien und Experimente haben gezeigt, dass Selbstbeteiligungen eher die Kosten in die Höhe treiben als sie zu senken. Denn viele betroffene Patienten reagieren auf Zuzahlungen subjektiv ökonomisch rational, indem sie Arztbesuche vermeiden oder verschieben, Medikamentenpackungen strecken oder Therapien ganz abbrechen.
Gerade bei häufigen Krankheiten wie Bluthochdruck oder Fettstoffwechselstörungen erfolgt die Verordnung zumeist und idealerweise zu einem Zeitpunkt, an dem keine Symptome auftreten und Laien noch keinen Gewinn durch zuverlässige Einnahme spüren können. Patientenzuzahlungen führen allenfalls kurzfristig zu Einsparungen, mittel- und langfristig aber zu teils erheblichen Mehrausgaben für vermeidbare Komplikationen. Denn sie verschlechtern die Therapietreue, also das Einhalten individuell angepasster Behandlungsempfehlungen, die vor allem bei chronischen Krankheiten entscheidend ist, um mittel- und langfristige Folgeerscheinungen zu vermeiden oder zumindest hinauszuzögern.
Je höher die Kostenbeteiligung, desto schlechter die Medikamenteneinnahme. Zwar führen anfallende Eigenbeteiligungen wie die aufgewärmte Praxisgebühr tendenziell zu weniger ambulanten Behandlungen, dafür besteht aber die Gefahr vermehrter Krankenhaus- und Pflegeheimaufnahmen oder erhöhten Pflegebedarfs.
In den letzten Jahrzehnten haben Erhebungen nicht nur aus den reichen Nationen in Nordamerika, Europa und Australien – nicht zuletzt aus Deutschland –, sondern auch aus Niedrigeinkommensländern in Afrika, Asien und Lateinamerika immer wieder belegt, dass Zuzahlungen regelhaft einen bestimmten Anteil der Patienten davon abhalten, Gesundheitseinrichtungen zu nutzen und verschriebene Medikamente einzunehmen.
So stellte beispielsweise die London School of Economics bereits 2008 in einer Metaanalyse von 173 Studien über die Effekte von Arzneimittelzuzahlungen im Gesundheitswesen in fünfzehn Nationen eindeutig fest, dass deren Folgekosten höher sind als alle Einsparungen und Einnahmen durch Eigenbeteiligungen zusammen. Zuzahlungen halten vor allem einkommensschwache und chronisch kranke Menschen vom Arztbesuch ab. Ökonomisch sind Zuzahlungen also eine Milchmädchenrechnung. Sie wirken eher kostentreibend als kostendämpfend.
Auch die Umbenennung der Praxis- in Kontaktgebühr und die Garnierung dieses Begriffs mit Adjektiven wie „modern“, „intelligent“ oder „klug“ werden nichts daran ändern, dass sie zunächst vor allem ärmere Menschen vom Besuch eine Arztpraxis abhalten und vermeidbare Komplikationen verursachen wird. Ebenso wie erhöhte Arzneimittelzuzahlungen das Einnahmeverhalten verschlechtern und zu unerwünschten Wirkungen bei der Behandlung der großen Bevölkerungskrankheiten führen werden.
Systemische Lösungsansätze: Mangelware
Anstatt ständig auf die Eigenverantwortung der Menschen zu pochen und sie für ihren individuellen Bedarf zur Kasse zu bitten, anstatt immer nur in die Schweiz oder auch die Niederlande zu schielen, sollten die Gesundheitspolitiker dieses Landes vielleicht konsequenter nach Westen schauen.
In Frankreich richtet sich die Zuzahlung für Arzneimittel nach der Evidenz ihrer Wirksamkeit: Bei anerkannt wirksamen Medikamenten zum Beispiel gegen Bluthochdruck, Diabetes mellitus oder Herzschwäche übernimmt die öffentliche Krankenversicherung einen deutlich höheren Kostenanteil als bei solchen mit geringerer oder nicht nachgewiesener Wirksamkeit, wie etwa Homöopathika. Das ist nicht nur förderlich für die Bevölkerungsgesundheit, sondern setzt auch dem Preispoker der Pharmaindustrie gewisse Grenzen, da der Absatz von Medikamenten ohne eindeutigen Nutzen eher am eigenen Geldbeutel der Patienten scheitert.
Aber systemische Ansätze zur Kostendämpfung wie die Senkung exorbitanter Arzneimittelpreise, die Eindämmung der Macht von Finanzinvestoren in der ambulanten Versorgung und das Zurückdrängen profitorientierter privater Krankenhausträger scheinen nicht in die Köpfe dieser Bundesregierung zu passen.
--------