Vom Keynesianismus zum Monetarismus
Inflation, Arbeitslosigkeit, politische Ratlosigkeit: Die 1970er-Jahre brachten das Ende des keynesianischen Optimismus. Teil zwei dieser Serie zeigt, wie der monetaristische Umbruch die Wirtschaftspolitik bis heute formt.
Diese Artikelserie wirft einen alternativen Blick auf die Wirtschaftspolitik der vergangenen 75 Jahre. Mit dem im ersten Teil behandelten „goldenen Zeitalter des Kapitalismus“ hat sich in den späten 1960er- und frühen 1970er-Jahren der Glaube verfestigt, das Problem der Arbeitslosigkeit überwunden zu haben: Die lange Phase stabilen Wachstums und nahezu vollständiger Beschäftigung bestätigte die Wirksamkeit keynesianischer Steuerungspolitik. Ökonomen und Politiker glaubten, Konjunkturverläufe mithilfe gezielter fiskal- und geldpolitischer Maßnahmen hinreichend präzise steuern zu können.
Doch mit den steigenden Inflationsraten und den Ölpreisschocks der 1970er-Jahre geriet das Modell der nachfrageorientierten Politik zunehmend unter Druck. Zum ersten Mal stiegen Inflation und Arbeitslosigkeit gleichzeitig – ein Phänomen, das fortan als „Stagflation“ bezeichnet wurde und den Wendepunkt zur monetaristischen Wirtschaftspolitik markierte.
Arbeitskämpfe und Einkommensverteilung
Die Kombination aus hoher Beschäftigung und kräftigem Wachstum, welche die Nachkriegsjahrzehnte weltweit prägte, stärkte die Verhandlungsmacht der Arbeitnehmer. Dies ermöglichte ihnen starke Lohnerhöhungen durchzusetzen, doch Unternehmen gaben die gestiegenen Lohn(neben)kosten zum Teil über Preiserhöhungen weiter, um ihre Gewinnmargen zu sichern. Diese Lohn-Preis-Spirale führte in vielen Ländern zu einer allmählichen Beschleunigung der Inflation, siehe Abbildung 1:
Doch höhere Löhne waren nicht das einzige Anliegen der Streik- und Protestwelle, die in den 1960er-Jahren ausbrach. Die Sensibilität für Mitbestimmung, Gleichberechtigung und Teilhabe nahm zu und Forderungen nach umfassenden sozialen und politischen Reformen belebten zunehmend die Demokratie.
Spätestens in den 1970er-Jahren wandten sich die Gewerkschaften in vielen Ländern vom bis dahin vorherrschenden korporatistischen Modell ab, bei dem die stabilitätsorientierte Kooperation der Tarifparteien im Zentrum stand. In Deutschland führte das Konjunkturprogramm von 1967, mit dem die erste Nachkriegsrezession erfolgreich überwunden wurde, zu keinem nennenswerten Anstieg der Inflationsrate, da sich die Gewerkschaften mit vergleichsweise moderaten Lohnsteigerungen zufriedengaben.
Aus heutiger Perspektive mag es jüngeren Leserinnen und Lesern schwerfallen, die damalige Lohnentwicklung als moderat zu bezeichnen. Da die jährliche Produktivitätssteigerung in den Nachkriegsjahren im Durchschnitt über fünf Prozent lag, waren Nominallohnzuwächse von rund sieben Prozent dennoch mit niedrigen Inflationsraten vereinbar – wie Abbildung 2 zeigt:
Angesichts der hohen Wachstumsraten der vorangegangenen Jahre ließ sich Lohnzurückhaltung gegenüber den Gewerkschaftsmitgliedern jedoch kaum noch rechtfertigen. Die Arbeitnehmervertretungen versuchten daher, durch höhere Lohnforderungen die Einkommensverteilung zu ihren Gunsten zu verschieben und so den Druck auf die Gewinnmargen der Unternehmen zu erhöhen.
Abbildung 3 zeigt, dass der Anteil der Lohneinkommen am Bruttoinlandsprodukt – die sogenannte Lohnquote – bis in die frühen 1970er-Jahre in vielen Ländern tatsächlich anstieg:
Der internationale Wettbewerbsdruck verhinderte, dass Unternehmen steigende Lohnstückkosten vollständig in höhere Preise überführten. Gleichzeitig fehlten ihnen angesichts der Vollbeschäftigung geeignete Druckmittel, um Lohnsteigerungen zu begrenzen. Stattdessen reduzierten sie ihre Gewinnaufschläge, verkauften jedoch insgesamt größere Mengen, da das gesamtwirtschaftliche Einkommen weiterhin stark zunahm. Der prozentuale Gewinnanteil am Gesamteinkommen sank daher, ohne dass die absoluten Gewinne zwangsläufig zurückgingen.
Die Ölpreiskrisen
Mit den Ölpreisschocks von 1973 und 1979/80 änderte sich die Lage grundlegend. Die von der Vollbeschäftigung gestärkten Gewerkschaften forderten nun noch höhere Löhne, um den durch die Energieverteuerung verursachten Kaufkraftverlust auszugleichen. Dies führte in vielen Ländern zwar zunächst zu einem weiteren Anstieg der Lohnquote, aber auch zu deutlich höheren Inflationsraten, da die Unternehmen nicht mehr bereit waren, ihre Margen noch weiter zu verringern (siehe Abbildung 1).
Zugleich brach 1973 das System fester Wechselkurse zusammen. Mit der Rückkehr zu flexiblen Wechselkursen mussten sich Unternehmen auf neue Unsicherheiten im internationalen Handel einstellen. Sie hielten Investitionen zurück, weil kaum abzuschätzen war, zu welchen Preisen künftig Vorprodukte importiert oder Exportgüter abgesetzt werden konnten.
Mit der Auflösung des festen Wechselkurssystems erhielten die Zentralbanken zudem wieder die Möglichkeit zu einer eigenständigen Geldpolitik. Wie im ersten Teil dieser Serie erläutert, erhöhten die Zentralbank die Zinsen drastisch, um der Inflation entgegenzuwirken.
Ähnliche Entwicklungen waren in allen Industrienationen zu beobachten. Im neuen Umfeld sanken die Wachstumsraten, während die Preise weiter stiegen – eine bis dahin unbekannte Kombination aus Inflation und wirtschaftlicher Stagnation: die Stagflation.
Die Phillipskurve
Ökonomen und Politiker gingen bis dahin von einem stabilen, negativen Zusammenhang zwischen Inflation und Arbeitslosigkeit aus – dargestellt durch die sogenannte Phillipskurve. Sie geht auf den britischen Ökonomen A. W. Phillips zurück, der in einer empirischen Arbeit Arbeitslosenquoten und Nominallohnsteigerungen in Großbritannien zwischen 1861 und 1913 untersuchte. Im Mittelpunkt seiner Arbeit steht ein Diagramm, das Abbildung 4 zeigt. Zu einem ähnlichen Bild gelangten auch Samuelson und Solow für die USA von 1900 bis 1960.[1]
Nähert sich die Volkswirtschaft der Vollbeschäftigung, steigen die Nominallöhne demnach schneller. Unternehmen suchten nach Arbeitskräften, um ihre Produktion zu erhöhen und wären bereit, höhere Löhne als ihre Konkurrenten zu bieten. Bei hoher Arbeitslosigkeit sei es hingegen eher möglich, auch zu einem geringeren Lohn noch Arbeitskräfte zu finden. Arbeitnehmer würden zudem eher ein höheres Lohnniveau fordern, wenn sie aufgrund der guten wirtschaftlichen Auslastung leichter einen neuen Job fänden und die Angst vor Arbeitslosigkeit daher geringer sei. Da den Arbeitgebern das Druckmittel der Arbeitslosigkeit fehle, könnten sie die höheren Lohnforderungen auch eher durchsetzen.
Die Theorie der natürlichen Arbeitslosenquote
Das Axiom der Phillipskurve brachte der frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt mit dem Satz „Lieber 5 Prozent Inflation als 5 Prozent Arbeitslosigkeit“ auf den Punkt. Die Vorstellung, man müsse – und könne – eine etwas höhere Inflationsrate in Kauf nehmen, um Vollbeschäftigung zu erreichen, teilte damals die Mehrheit der Ökonomen. Für das gleichzeitige Auftreten steigender Preise bei stagnierender Beschäftigung bot die vorherrschende keynesianische Theorie jedoch keine Erklärung. Eine expansive Wirtschaftspolitik, die über eine Nachfrageerhöhung die Arbeitslosigkeit senken sollte, drohte die Preisentwicklung weiter anzuheizen – und wurde deshalb zunehmend abgelehnt.
In der wissenschaftlichen Debatte gewannen daraufhin „alternative“ Ansätze an Einfluss. Monetaristen wie Milton Friedman und Edmund Phelps argumentierten, dass eine dauerhaft expansive Wirtschaftspolitik zwangsläufig zu Inflation führe, sobald die Arbeitslosigkeit unter ihr „natürliches“ Niveau sinke. Der Versuch, den Zusammenhang zwischen Inflation und Arbeitslosigkeit gezielt auszunutzen, führe letztlich dazu, dass dieser Zusammenhang zusammenbricht. Da die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer einen größeren Anteil am gesamtwirtschaftlichen Einkommen einforderten, steige die Inflationsrate fortlaufend weiter an (ein vollständiges Modell dieser Denkweise findet sich in Kapitel 6.2 meines Lehrbuchs).
Der Aufstieg des Monetarismus
Monetaristisch geprägte Ökonomen konnten die Stagflation als Bestätigung ihrer Theorie deuten. Zudem sahen sie den nur geringen Rückgang der Arbeitslosenquote als Beleg für die Unwirksamkeit keynesianischer Nachfragesteuerung – auch wenn die Fiskalpolitik in vielen Ländern nur noch zögerlich reagierte und von der Geldpolitik konterkariert wurde. Dass Monetaristen wie Friedman und Phelps den Inflationsanstieg bereits Jahre zuvor prognostiziert hatten, verlieh ihren Ansätzen zusätzliche Glaubwürdigkeit.
So setzte sich der Monetarismus – dessen Fundament in der neoklassischen Lehre wurzelt – sowohl in der ökonomischen Theorie als auch in der wirtschaftspolitischen Praxis durch. Die staatlichen Ausgabenprogramme und der Ausbau der Sozialsysteme wurden für die hohen Inflationsraten verantwortlich gemacht. Eine restriktive Geld- und Fiskalpolitik galt nun als einzig richtige Antwort, während ein Anstieg der Arbeitslosigkeit als unvermeidliches Übel betrachtet wurde, um die Preissteigerungen zu bremsen.
Über die theoretischen Grundlagen und praktischen Folgen des Monetarismus werde ich im nächsten Teil dieser Serie sprechen.
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